Archiv der Kategorie: Track der Woche

Tierlieb

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 21:
ANIMAL COLLECTIVE – CUCKOO, CUCKOO (2007)

Einem ambitionierten Quiz-Spieler und -Master sollten derlei Fauxpässe nicht passieren:

Letztens entdeckte ich in Vorbereitung einer Frage einen Live-Mitschnitt einer britischen Benefiz-Sendung aus dem Jahr 2013, in dem die ehemaligen (?) Take-That-Mitglieder Gary Barlow und Robbie Williams ihre Cover-Version von Barry Manilows Klassiker „Could It Be Magic“ sangen – und zwar gemeinsam mit Barry Manilow am Flügel. Ich dachte: „Sicher, der gute Barry sieht ein bisschen wie geschmolzenes Plastik aus oder wie der Formwandler Odo, wenn er sich sehr lang nicht mehr in seinen flüssigen Zustand verwandelt hatte, aber so schlimm, dass er schon wenige Jahre später sterben musste, sieht er nun auch wieder nicht aus.“

Hä? Sterben? Barry Manilow tot? Nein, ihr habt nichts verpasst. Mein Fehler. Beim Wikipedisieren entdeckt.

Wie konnte es aber sein, dass ich den „Copacabana“-Sänger Six Feet Under wähnte? Er war doch jüngst irgendwann mal in den Medien. Und wenn alternde Musikstars, die ewig keinen Hit mehr hatten, noch einmal in den Schlagzeilen auftauchen, dann ist die Wahrscheinlichkeit erdrückend hoch, dass sie gerade das Zeitliche gesegnet hatten. Doch Manilow war nicht gestorben, er hatte sich einfach nur geoutet! You don’t say.

Bei „Could It Be Magic“ ist Manilow „nur“ Co-Songschreiber neben dem polnischen Klassik-Nationalschatz Frédéric Chopin. Der hatte mit dem „Prelude in C Minor, Opus 28, Number 20“ (Griffiger Songtitel!) die Basis für Manilows Schmonzette geliefert. Fehlt nur noch, dass Robbie eines Hit-verlassenen Tages einmal „I like Chopin“ nachsingt.

Musikalisch viel näher liegt mir ein anderes Beispiel eines Werks aus der Klassik, das die Basis für einen modernen Song geliefert hatte und mir ebenfalls bei einer Quiz-Recherche unterkam. Dabei war „Cuckoo Cuckoo“ vom Animal Collective aus dem Meilenstein „Strawberry Jam“ schon in meinen 2007er-Jahrescharts in den Top 10. Dass das durchgehende Sample aus Franz Liszts „Liebestraum“ stammte, schoss mir aber erst bei einem langen, meditativen Nachmittags-Spaziergang vor einem Weltquiz, bei dem ungarische Komponisten die musikalische Untermalung bildeten. Enjoy.

Frühjaarsputz

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 20:
A.A.L. (AGAINST ALL LOGIC) – SOME KIND OF GAME (2018)

Es gibt Leute, die in ihren Zwanzigern immer noch einigermaßen planlos durch das Leben streifen, nicht wirklich einem ambitionierten Ziel entgegenstreben oder einfach einem roten Biografiefaden folgen, sondern einfach nur versuchen, den Alltag zu meistern und dabei nicht alles völlig falsch zu machen. Und es gibt Leute wie Nicolas Jaar. Der in New York geborene Sohn chilenischer Eltern ist aktuell knackige 28 Jahre alt und hat im vergangenen Jahrzehnt so einige Nischen alternativer Musik mitgestaltet, unter verschiedenen Pseudonymen und Projekten mehrere Referenzalben unter das Volk gebracht und sich eine treue Fangemeinde erarbeitet, die wohl genauso bunt ist wie sein Output.

Nicolas Jaar

Als seine erste EP veröffentlicht wurde, war Jaar gerade mal 17 Jahre alt, und das drei Jahre später erschienene Debutalbum „Space Is Only Noise“ erntete in allen erdenklichen Fanzirkeln und Magazinen Lob und Anerkennung und erklomm dementsprechend in vielen Jahrestoplisten respektable Topränge. Bereits zu diesem Zeitpunkt war es nicht leicht, die Musik mit schmissigen Genrebezeichnungen und Kunstbegriffen akkurat zu definieren. Unorthodoxe Samplequellen, Querverweise und Kreuzungen mit anderen Genres stehen seit jeher an der Tagesordnung. Auf der Tanzfläche stampft House, in der Lounge pfeifen stilvoll Downtempo und Soul durch die Whiskeygläser, und „Space Is Only Noise“ klemmt irgendwo in der Mitte zwischen den Stühlen fest.

Die Begriffe „Ambient Pop“ oder „Art Pop“ funktionieren bei solchen Sachen auch immer, wenn die Musik beizeiten sehr catchy ist, sich aber sowohl der Radiotauglichkeit als auch einem Fixplatz innnerhalb ausdefinierter Schubladen vehement verwehrt. Auch das 2016 erschienene „Sirens“ ist eine Collage aus diffusen Ambient-Teppichen, kontrastierenden Synth-Punk- und Kraut-Anleihen Marke Suicide, in Unterwasser-Dub-Produktion versteckten Versatzstücken lateinamerikanischer Musik, deren Benennung ich mir gar nicht erst zutraue, et cetera.

Zwischen den beiden Veröffentlichungen schrieb Jaar unter anderem auch noch „Pomegranates“, ein alternativer Soundtrack zum sowjetischen bzw. armenischen Film „Die Farbe des Granatapfels“ aus 1969. Das bekannteste seiner Projekte dürfte allerdings Darkside sein, ein Kollaborationsprojekt mit dem Multi-Instrumentalisten Dave Harrington. Auf „Psychic“ werden Jaars bunte Klangmalereien mit ebenso vielseitigem Gitarrenspiel ergänzt und erhalten eine sehr funkige Note, die den Mitwippfuß ordentlich in die Gänge kommen lässt, nicht selten ist aber auch ein ordentlicher psychedelischer Einschlag spürbar.

In welche waghalsigen Gefilde führt diese Entwicklung? Was erwartet den neugierigen Freund experimentierfreudiger Musik? Na eingängiger, tanzbarer, lebensfroher und frische herausgeputzter Deep House, eh klar. Statt dem Avantgarde-Feuilleton (oder zusätzlich dazu?) wird die Disco erobert. Wie bitte, das ist gegen jegliche Logik? Dann passt’s ja. Unter dem Namen A.A.L. (Against All Logic), einem bis vor kurzem relativ unbekannten Nebenprojekt Jaars, veröffentlichte er vor wenigen Wochen „2012 – 2017“, eine Ansammlung von Tanzflächenhymnen, die es in sich haben. Weiterlesen

Avantgardistisches Wiegenlied

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 18:
HATIS NOIT – ILLOGICAL LULLABY (2018)

Regelmäßigen Lesern dürften die Unregelmäßigkeiten aufgefallen sein: Ja, wir hier am Blog haben ordentlich mit dem Track der Woche zu kämpfen. Und so wird daraus nicht selten eher ein „Track der zwölf Tage“ oder „Track der zweieinhalb Wochen“.

Im Bewusstsein, dass unsere Zeitbudgets knapp und das Fleisch generell schwach ist, haben wir uns zwar eigentlich darauf verständigt, dass „fünf Zeilen reichen“. Aber der Ehrgeiz packt die Autoren dann doch jedes Mal aufs Neue – und auch ich merke gerade, dass sich mein heutiger Vorsatz „Diesmal wirklich nur fünf Zeilen“ schon jetzt nicht mehr ausgeht.

Sei’s drum, ich werde mich ausnahmsweise jedenfalls wirklich knapp halten: Schließlich weiß ich über den Track der Woche, „Illogical Lullaby“, eh so gut wie gar nix. Ich weiß nur, dass er erst seit nicht einmal einer Woche online ist (so flott war unser notorisch entschleunigter Blog noch nie!), dass ich ihn gestern rein zufällig beim Duschen auf Ö1 gehört habe (ja, ich höre beim Duschen manchmal Ö1) – und dass ich sofort gefangen war und wissen wollte: Wer ist das? Wer singt da?

Wer da singt, ist Hatis Noit, eine junge japanische Vokalistin, die inzwischen in London lebt. Wie den (bisher angenehm spärlichen) Informationen über die Künstlerin zu entnehmen ist, schöpft sie aus unterschiedlichsten Quellen – etwa aus dem höfischen Musikstil Gagaku, der in Japan seit dem 7. Jahrhundert gepflegt wird, generell aus buddhistischen Gesängen, zudem aus der Klangwelt der Gregorianischen und vergleichbaren Choräle, aus Avantgarde und Pop.

Das Ergebnis ist entrückt, ja fast überirdisch klingende Vokalmusik ohne erkennbaren Text (zugegeben, wenn es Japanisch wäre, wäre es für mich auch kein erkennbarer Text). Jedenfalls geht es hier ganz offenkundig um den Klang der Stimme, nicht um etwaige Inhalte, die sonst meist über Gesang transportiert werden. Worte werden hier zu Lauten, zu reiner Musik – und wir können uns endlich einmal ganz von der im Pop so verbreiteten Textfixierung lösen.

Mancher Hörer wird hier vielleicht an die erhebende Vokalmusik von Julianna Barwick denken, die bei uns am Blog ebenfalls schon einmal in einem Track der Woche präsentiert wurde, oder zum Beispiel an die experimentellen Klänge von Laurel Halo.

Zugleich spricht dieses avantgardistische Wiegenlied aber eine tiefer schlummernde Ebene in uns an: Der Titel „Illogical Lullaby“ trifft es perfekt: Jede Art von tranceartiger, hypnotisierender Musik hat ja irgendwie etwas Betäubendes, Einschläferndes, eben Schlafliedartiges an sich – und damit auch etwas Beruhigendes, Schützendes und mütterlich Tröstendes. Nicht umsonst hängen die lautmalerischen Wörter „Lullaby“ und „einlullen“ etymologisch zusammen. Und irgendwo zwischen Wachzustand und Traum lässt man dann (hoffentlich) auch die Regeln der Logik hinter sich.

„Illogical Lullaby“ (wie auch die zugehörige EP „Illogical Dance“) entstand in Zusammenarbeit mit den US-Experimentalelektronikern Matmos – was im Track ab ca. dreieinhalb Minuten besonders gut zu hören ist, wenn so etwas wie ein rudimentäres Beatgerüst einsetzt. Magisch!

Kalte Klänge für kalte Tage

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 17:
ERIC HOLM – STAVE (2014)

Wir haben temperaturtechnisch eine sehr ambivalente Woche hinter uns. Vor allem Mitte der Woche gab es Minusgrade jenseits der 20 trotz Sonnenschein, dann wieder beinahe T-Shirt-Wetter, schneidende Eiseskälte in der Emotionslandschaft jener Singles, die den Valentinstag etwas zu ernst nahmen, dahinschmelzende Herzen bei manch anderen, dahinschmelzender Schnee auf matschigen Gehsteigen, die anschließend erneut zugeschneit werden, dann wieder Sonne. Nach den momentanen paar Tagen angenehmer Schönwetter-Verschnaufpause schreiten wir schon wieder geradewegs der nächsten Kaltfront entgegen. Es wird also höchste Zeit für den passenden Soundtrack dazu.

Es gibt viele Mittel und Wege, wie man mit Musik den frostigen Tagen des Jahres Tribut zollen kann. Gewiss können entsprechende Songtexte innere Bilder von arktischem Schneetreiben hervorrufen, Samples von Schneetreiben oder ähnlichen eisigen Soundkulissen können ebenfalls für Kopfkino sorgen, aber in den meisten Fällen ist es eher die Musik an sich, welche widerspenstige Kälte ausstrahlt. Ganze Instrumente und ihre Klangfarben werden von Hörern als „warm“ oder eben „kalt“ erlebt und bezeichnet. Oft sind es harmonische, konsonante und organisch anmutende Klänge, die als warm beschrieben werden. Die Abwesenheit dieser Eigenschaften wirkt für die meisten Hörer als unterkühlt, auch wenn letzten Endes jeder Mensch Musik anders einschätzt und das musikalische Konsonanzempfinden für verschiedene Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen ein wenig variiert. Auch Hörgewohnheiten spielen eine Rolle. Jemand, der öfters mit Musikrichtungen wie Noise, Drone oder Metal in Berührung kommt, hat vermutlich weniger Probleme, hinter den Wänden aus Verzerrung, Feedback und Störgeräuschen auch „warme“ Klänge ausfindig zu machen als andere Menschen.

Trotz aller Geschmacksfragen will ich hier stocksteif behaupten, dass dissonante, maschinell-industrielle und sterile Sounds unterkühlt wirken. Urban und entfremdet eben. Eine weitere Assoziationshilfe ist alles, was aus dem hohen Norden stammt. Denn Musiker, die aus kalten Gegenden mit wenigen bis teilweise gar keinen Sonnenstunden stammen, lassen dies sicher in ihre Zunft einfließen und können folglich ja nur dunklere Musik produzieren, oder? Ich weiß ja nicht.

Der Londoner Produzent Eric Holm hat es auf seinem Debutalbum „Andøya“ jedenfalls geschafft, sowohl das Maschinelle als auch das Nordisch-Winterliche zu verbinden, und das auf recht ungewöhnliche und innovative Art und Weise. Sämtliche Geräusche, die auf dem Album zu atmosphärischen und mysteriösen Dark Ambient Soundflächen verwandelt wurden, entstammen einem Kontaktmikrofon, welches Eric Holm an einem Telegrafenmast auf der titelgebenden nord-norwegischen Insel Andøya anheftete. Jene Masten verbinden offenbar eine Reihe alter militärischer Abhörstationen, und auch wenn (oder gerade weil) ich mit der Technik von Kontaktmikrofonen und Funkmasten nicht vertraut bin, erstaunt mich umso mehr, was für Geräusche diesem Prozess zu entnehmen sind und welch vielseitige industrielle Soundskulpturen ein versierter Produzent aus ihnen herauskitzeln kann. Die sechs Tracks auf „Andøya“ folgen alle einem recht linearen Aufbau, führen ein Soundmuster ein, welches im Verlauf an Detailtiefe und Intensität zunimmt und irgendwann wieder abschwillt. Doch jeder einzelne Track beherbergt andere Charakteristiken. Dem voluminösen, bis ins Unendliche widerhallenden Pochen von „Stave“ könnte man am ehesten noch einen organischen Soundursprung zuschreiben, überdimensionierte Klanghölzer oder dergleichen, wenn da nicht das statische Zischen und Rauschen wäre. In anderen Stücken sind es eher die tiefen Sub-Bässe, welche bedrohlich grollen und sich vor dem Hörer aufbäumen. Manchmal fühlt sich ein Track auch sehr elektronisch an, auditive Halluzinationen unter einem Hochspannungsmasten in der einsamen Prärie. Und das ominöse Fiepen des Rausschmeißers „Andøya“ könnten genauso gut ferne, verzerrte Streichinstrumente sein und lässt an klassische Lustmord-Alben denken.

Und auch, wenn das Ergebnis dieses nordischen Soundexperiments sehr gelungen ist und die Auseinandersetzung mit widerspenstigen Klängen generell etwas sehr Lohnendes haben kann, und auch wenn es sehr nett ist, für atmosphärische Musik auch das entsprechende Klima vor der Haustür zu haben, sehne ich jetzt trotzdem stabileren und wärmeren Tagen mit mehr Sonnenstunden entgegen.

 

Lass den Elch an dir vorübergehen. Ein neuer Song und neun weitere Gründe, warum das Erste Wiener Heimorgelorchester vielleicht meine österreichische Lieblingsband sind

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 16:
ERSTES WIENER HEIMORGELORCHESTER – DIE LETTEN WERDEN DIE ESTEN SEIN (2018)

Weil Blogautor Stefan Pletzer, seines Zeichens Obmann des Österreichischen Quizverbandes, chronisch „busy“ ist (wie wir in der Quizbranche sagen), springe ich mal wieder beim Track der Woche ein. Aber Steff wird zumindest indirekt präsent sein – denn kurioser- und völlig ungeplanterweise dreht sich dieser Bericht auch um den rätselhaften Themenkomplex Quiz.

Apropos rätselhaft: Das kreative Spiel mit der Sprache, mit ihren doppelten und dreifachen Böden, ihren Geheimgängen, Irrwegen und überraschenden Wendungen und nicht zuletzt mit ihrer klanglichen Qualität, hat gerade in der österreichischen Literatur und Popkultur eine lange Tradition: Diese reicht von Nestroy (mindestens) über hauptamtliche Experimentallyriker wie Ernst Jandl oder Friederike Mayröcker bis hin zum großen HC Artmann.

Bei Kabarettisten und Satirikern (Werner Pirchner, Ludwig Müller etc.) findet man die Lust an dadaistischen Wortspielen und bunter Lautmalerei genauso wie bei bekannten Bands, von Attwenger über diverse Rapformationen wie z. B. Texta bis hin zu den Superstars Bilderbuch, die gepflegte Doppelbödigkeit (Stichwort: Plansch, plunge …) ebenfalls zu schätzen wissen.

Aber niemand beherrscht das Um-die-Ecke-Singen, die Verbindung von Musik und Sprachspiel, von lautmalerischer Form und cleverem Inhalt, überzeugender als das Erste Wiener Heimorgelorchester (kurz: EWHO).

Das Quartett, das live – wie die humorvollen Söhne von Kraftwerk – hinter nerdigen Mini-Synthesizern und -Keyboards angewandten Bühnenstoizismus praktiziert, knöpft sich die Wörter und Silben gnadenlos vor, dreht und wendet, schüttelt und mixt sie, bis den Sprachbestandteilen am Ende selber ganz schwindlig im Kopf ist.

Bestes Beispiel ist die brandneue Single „die letten werden die esten sein“:
Zugegeben, die Herren vom Ersten Wiener Heimorgelorchester sind sicher nicht die Esten, äh, die Ersten, denen das titelgebende Wortspiel eingefallen ist. (Ich selbst wollte mir genau diesen Satz schon mehrfach als Teamnamen für das berühmt-berüchtigte Weltquiz merken. Genauso übrigens das Wortspiel „Wurst-Käs-Szenario“. Aber auch daraus hat das EWHO schon längst einen Song gemacht).

Die Ausgangsidee ist also vielleicht nicht ganz neu. Aber was die vier Wiener daraus machen, ist dafür umso origineller. Sie ziehen das Grundprinzip nämlich einen ganzen Song lang durch, lassen bei unterschiedlichsten Wörtern an entscheidender Stelle einen Buchstaben weg – und genießen die völlig neuen, oft verblüffenden inhaltlichen Assoziationen, die sich dadurch ergeben:

Im Himmel wie auf Eden. Lass den Elch an dir vorübergehen. Nutze jede noch so keine Chance. Man soll nicht mit den Wölfen Eulen. Und und und. Jede Zeile eine kleine Intelligenzperle.

Das zugehörige, minimalistische Video ist ein Musterbeispiel für songdienliche Ökonomie statt hohlem Gigantismus:

Und wen das noch nicht restlos überzeugt haben sollte: Hier sind neun weitere Gründe, warum man das Erste Wiener Heimorgelorchester einfach mögen muss: 

1.) Das EWHO leistet sprachliche Entwicklungs-Hilfe:
Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. In einem ihrer ebenfalls brandneuen Songs verhelfen die Heimorgler der Sprache ganz buchstäblich zur Entfaltung. Und dem in der Popkultur bisher sträflich vernachlässigten Themenkreis „Fische und Wasservögel“ zu einem meerchenhaften Auftritt:

2.) Das EWHO hat den vielleicht ungewöhnlichsten deutschsprachigen Politsong ever geschrieben:
Der schöne Satz „Widerstand ist Ohm“ ist (nach dem Sieg des EWHO beim FM4-Protestsongcontest 2009) zumindest in der heimischen Alternativszene zum geflügelten Wort geworden – und zeigt die ganze schillernde Fantasie der Band: Hier geht es gleichzeitig um elektrischen und politischen Widerstand (auf beide passt die geniale Formulierung: „Gegen den Strom“) und auf einer dritten Ebene auch noch um das meditative „Ommmmmmm“. Und das ist erst der Refrain!

Hier ein recht feiner, allerdings leider rein instrumentaler Remix:

Das unerreichte Original kann, nein MUSS man sich z. B. HIER anhören.

3.) Das EWHO hat das erste (und beste) Lied zum Thema Umlaute geschrieben:
Und das Ergebnis ist ohne Ubertreibung majestatisch, koniglich, legendar:

4.) Das EWHO sucht (und findet) den direkten Austausch mit Literaten:
Ob Ror Wolf, Clemens J. Setz oder, auf dem neuesten Album, Antonio Fian: Alle haben schon Texte für das literarische Orchester beigesteuert oder ihm zur Vertonung bereitgestellt. So unverkopft kann Lyrik klingen – und doch jede Menge Köpfchen haben. Vom EWHO würde ich mir sogar einen Gedichtband kaufen. Oh, es gibt ja tatsächlich einen!

5.) Vom EWHO stammt der vielleicht originellste Wien-Song ever:
Der heißt nicht etwa „Wien, wie es einmal war“ sondern „Wien, wie es zweimal war“. Im Wien, wie es das EWHO herbeihalluziniert – und hier darf ich einen alten Blogeintrag meinerseits re-zitieren – gibt es tatsächlich alles doppelt: zwei Stephansdome, zwei Donauströme, einen doppelten Lainzer Teich – „und der Vierfachadler hängt über Kaisergruft 1 und 2“. Klar, dass auch der Sänger bekennt: „Meine beiden Herzen und meine zwei Sinne gehören Wien“.

6.) Das EWHO hat ein ganzes Kraftwerk-Album gecovert:
Und sich bei diesem gewagten Versuch nicht nur nicht blamiert, sondern, im Gegenteil, lässige LoFi-Neudeutungen von Klassikern wie „Die Roboter“, „Spacelab“ und besonders „Die Mensch-Maschine“ zustande gebracht.

7.) Das EWHO hat der Hauptstadt von Liechtenstein ein musikalisches Denkmal gesetzt:
Einer beschaulich-konservativen Kleinstadt wie Vaduz eine verruchte, anrüchige Aura zu verleihen – und zugleich wenig popaffinen Ortsnamen wie Schaan, Nendeln oder Gamprin in einen Songtext zu verhelfen – ist große Kunst. Und einmal mehr ausgesprochen (!) Weltquiz-tauglich.

8.) Das EWHO hat den ultimativen Pubquiz-Panik-Song geschrieben:
Jeder Pubquizzer – und im Grunde jeder Mensch, der irgendwann einmal eine Prüfung ablegen musste – kennt das Quizäquivalent zur Angst vorm weißen Blatt, nämlich die Angst vorm schwarzen Loch, in dem plötzlich das gesamte im Hirn gespeicherte Wissen versickert zu sein scheint. Alle Begriffe, die sonst problemlos greifbar sind, haben das Weite gesucht. Man weiß auf einmal gar nichts mehr. Genau davon handelt „Alles ist vergessen“.

Und der Satz „Mir geht es wie dem … Dings bei der Frage der Sphinx“ wäre allein schon einen Nobelpreis wert!

9.) Ein Mitglied des EWHO hätte fast die Millionenshow gewonnen – und trägt den besten Quiznamen aller Zeiten:
Um das Ganze noch verblüffender zu machen – denn das wusste ich vor der Recherche für diesen Beitrag wirklich nicht -, möchte ich zum Schluss noch auf einen ganz direkten Konnex zwischen der Pubquizwelt und der Ersteswienerheimorgelorchesterwelt verweisen: Eines der Bandmitglieder trat 2017 als Kandidat bei der Millionenshow mit Armin Assinger auf und schaffte es bis zur Millionenfrage! (Die ich übrigens gewusst hätte – wenn ich auch nie so weit gekommen wäre). Am Ende waren es immerhin satte 300.000 Euro Preisgeld.

Und, um die Sache ein weiteres Mal zu toppen: Der betreffende Kandidat, Schriftsteller und EWHOler trägt den schönsten Quiznamen der Welt. Er heißt nämlich Daniel WISSER.

Eigentlich ein allzu naheliegendes Wortspiel. Aber eines, dass am Ende dieses Textes einfach sein muss.

Tiroler Magie, die auch international verzaubert

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 14
MOLLY – GLIMPSE (2017):

Fantastische Shoegaze/Dreampop/Post-Rock-Klänge – aus Tirol?? Die ungläubigen Fragezeichen kann man sich getrost sparen – wie ja überhaupt die Vorstellung, dass aufregende und innovative Musik nur in den großen Zentren der Popkultur entstehen könne, ziemlich borniert ist. Kreative Köpfe und spannende Entdeckungen gibt es schließlich überall.

Dennoch war auch ich beim ersten Hören überrascht, WIE gut das 2014 in einem Tiroler Probekeller formierte, inzwischen in Innsbruck und Wien beheimatete Duo Molly wirklich klingt – wie elegant und, im besten Sinne, abgeklärt und souverän.

„Glimpse“ heißt die jüngste, nunmehr dritte EP, die Anfang Dezember als limitiertes 12-Inch-Vinyl auf dem britischen Label Dalliance Recordings erschienen ist. „Glimpse“ heißt auch die A-Side, ein acht Minuten schwerer, kontrast- und spannungsreicher Brocken Musik, der Lars Andersson (Gesang, Gitarre) und Philipp Dornauer (Drums, Synthesizer) alle, nein: genau die richtigen Register ziehen lässt. Und der national wie international bereits beachtliche Resonanz gefunden hat.

Schon zum wiederholten Male Lob auf der US-Plattform Stereogum, Song des Tages auf der britischen Independent-Seite The Line of Best Fit, Features in deutschen Medien oder gar auf der Website des russischen Rolling Stone (ja, den gibt es tatsächlich): Keine Frage, das Talent von Molly spricht sich gerade ziemlich herum.

Hierzulande natürlich auch auf FM4: Dort waren die beiden nicht nur in den Jahrescharts bestens vertreten (Platz 56), sondern zuletzt z. B. auch Soundpark-Act des Monats samt Session im Studio2 und mehreren großen Features.

Auch internationale Liveshows haben Molly schon einige bestritten, darunter einen offenbar vielbeachteten Auftritt beim Showcase-Festival The Great Escape in Brighton oder auch eine erste Europatournee (u. a. im Vorprogramm von Xixa).

Der Blick in die Kommentarsektion der Videoportale, den man ansonsten bekanntlich eher vermeiden sollte, zeigt ebenfalls, dass die Musik der jungen Tiroler vielerorts begeisterte Hörer findet – von Brasilien bis zu den Philippinen, von China bis Honduras, im englischsprachigen Raum sowieso. Kurz gesagt: Eine beachtliche internationale Karriere scheint für Molly durchaus möglich.

Und womit? Mit Fug und Recht, wie u. a. der Track „Glimpse“ beweist. „Dreamy alpine airiness“ steht im Beipackzettel der Plattenfirma – und das trifft es nicht schlecht: Molly lassen ihre Musik atmen, statt in jugendlichem Ungestüm (btw, nichts gegen jugendliches Ungestüm!) zu viel auf einmal zu wollen. Sie nehmen sich Zeit und Raum, um Dramaturgie und Atmosphäre umso wirkungsvoller zu entfalten. Die Melodie schält sich so erst nach und nach aus dem Rauschen und Dröhnen, der sanft verhallte, verwehte Gesang setzt erst nach über zwei Minuten ein. Etwa zur Halbzeit nehmen Wucht und Dynamik spürbar zu, bis Molly das Stück in ein gewaltiges, düster lärmendes Finale münden lassen. Aus dem Lufthauch ist da längst ein Sturmwind geworden.

Dazu gibt es ein meditatives bis milde verstörendes Video mit dem einmalig-einzig-echten Mike Zangerl:

Wie fachgerecht Molly es verstehen, die genretypische Soundwand aus verwaschenen, Effektpedal-getriebenen Gitarren und Synthesizerflächen aufzuziehen, ist an sich schon beeindruckend – umso mehr aber, wenn man bedenkt, dass da eben nur zwei Musiker am Werk sind. Mit Anfang 20 noch dazu zwei sehr junge.

Auch die B-Seite der EP – mit „Time And Space“ und „Time And Space Pt. 2“ – weiß zu überzeugen. Wenn in es in Teil eins etwa nach mehr als dreieinhalb Minuten zum Bruch kommt und plötzlich sphärischer Gesang in hoher Tonlage einsetzt, denkt man nicht nur an Shoegaze-Genreväter wie Slowdive oder My Bloody Valentine, sondern mindestens ebenso sehr an  skandinavische Atmosphäriker wie Sigur Ros – die Molly ebenfalls als Einfluss nennen.

Die Wucht, mit der das alles daherkommt, etwa auch in der hymnischen, 2015 veröffentlichten Debütsingle „Sun, Sun, Sun“, hebt Molly auch wohltuend vom bisweilen etwas blutleer und akademisch anmutenden Post-Rock-Genre ab, während Laut-Leise-Dynamik und effektvolle Dramaturgie dafür sorgen, dass sie nie in allzu einförmiges Schuhestarren verfallen.

Apropos: Molly sind nicht nur Studiotüftler, sondern gelten auch und vor allem als tolle Liveband – als solche konnten sie, wie man liest, übrigens auch ihren jetzigen Labelboss überzeugen. Nachprüfen kann man diese wahrhaft hypnotisierende Qualität nun auch in einem 45-minütigen, in einer Tiroler Bogenschießarena zwischen Plastikbäumen und künstlichen Tieren aufgenommenen Konzertfilm. Nachprüfen sollte man das aber natürlich vor allem bei einem der Auftritte des Duos. Ich zumindest habe mir das fix vorgenommen.

2018 dürfte sich dafür hoffentlich doch die eine oder andere Gelegenheit eröffnen – heuer soll es nämlich nicht nur ein Debütalbum geben, sondern auch eine Europatournee. Go for it!

FOTONACHWEIS: NIKO HAVRANEK

Wagemutiger Post-Punk mit gewaltigem Suchtfaktor

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 12:
MISSION OF BURMA – NICOTINE BOMB (2004):

Österreich hat ein Rauchverbot, das nun doch nicht kommt. Kim Jong-un und Donald Trump haben Atombomben, die ihnen einen medienwirksamen Phallusvergleich ermöglichen. Doch Mission Of Burma haben etwas viel Besseres: eine Nikotinbombe!

„Nicotine Bomb“ stammt von ONoffON, jenem grandiosen Album, mit dem die einflussreiche Post-Punk-Band aus Boston 2004, 22 Jahre (!) nach ihrer letzten Studio-LP, triumphal zurückkehrten. Triumphal, was das Kritikerlob angeht, wohlgemerkt, denn eine kommerziell erfolgreiche Band waren Mission Of Burma nie.

Dafür eine umso einflussreichere: Mit ihrem rauen, dringlichen Sound, der die Wucht und Kompromisslosigkeit des Punk mit dem Gespür für betörende Popmelodien und dem Mut zu Lärm, Dissonanz und Experiment verband, zählen sie aus heutiger Sicht zu den wichtigsten Wegbereitern alternativer, innovativer Rockmusik überhaupt. Die Liste jener Bands und Künstler, die sich auf Mission Of Burma berufen (haben), ist lang, sie reicht von Jello Biafra bis Nirvana, von R.E.M. bis Sonic Youth, von Graham Coxon bis zu den Pixies, von Bob Mould über Yo La Tengo oder Guided By Voices bis hin zu Moby.

Hauptsongschreiber der Band, die ursprünglich nur von 1979 bis 1983 existierte und sich erst 2002 wieder zusammenfand (seither erschienen vier Studioalben), waren und sind Sänger und Gitarrist Roger Miller sowie Sänger und Bassist Clint Conley. Dazu kommen Schlagzeuger Peter Prescott und der hauptamtliche „Tape-Manipulator“ (!) und Soundingenieur Bob Weston, der diesen ungewöhnlichen, für den Burma-Sound eminent wichtigen Part (Tape-Effekte, Loops, Drones, Verfremdungen etc.) von Gründungsmitglied Martin Swope übernahm.

Conley ist laut Wikipedia eher der Mann für die eingängigeren, hymnischeren Nummern, er gilt quasi als die „hook machine“ der Band. Von ihm stammt neben dem größten Bandhit „(That’s When I Reach For My) Revolver“ eben auch das wunderbare „Nicotine Bomb“. Dieser Track ist mit seiner Kombination aus kantig-abstraktem Klangbild, unwiderstehlichen Harmonien und anspruchsvollen Lyrics („Vertical expression / horizontal desire“) geradezu ein prototypischer Burma-Song.

Live war bei Mission Of Burma von magischen Momenten bis hin zu furchtbar zähen Lärmorgien übrigens alles drin: „When they were good, they were very very good, but when they were bad, they were horrid“, schrieb der Kritiker Tristam Lozaw. Spannend war diese Band also immer!

Für mich persönlich führt an Mission Of Burma ohnehin kein Weg vorbei – schließlich steckt mein Spitzname ja im Bandnamen. Das hartnäckige Gerücht, Mission Of Burma hätten sich nach mir benannt, ist allerdings nicht haltbar – ebensowenig wie die Vermutung, meine Geburt im Jahr 1982 hätte sie zu ihrem fulminanten Debütalbum „Vs.“ inspiriert …

Zum Schluss bleibt mir nur noch die dringende Empfehlung, sich ins faszinierende Werk dieser Gruppe zu vertiefen. Und der fromme Wunsch, dass Blogkollege Stefan, seines Zeichens Österreichs bester Quizmaster, die – nach einer Gedenkplatte an einer Botschaft benannte – Formation einmal bei seinem fabelhaften Weltquiz bringen möge. Mission Of Burma und ich wären ihm sehr dankbar dafür!

Weitere Anspieltipps: (That’s When I Reach For My) Revolver, That’s How I Escaped My Certain Fate, Academy Fight Song, Weatherbox, (This Is Not A) Photograph, The Setup, The Enthusiast, Dirt, Careening With Conviction, Period, Dust Devil, What They Tell Me

Himmelwärts (mit Störfeuer)

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 11:
FLOTATION TOY WARNING – KING OF FOXGLOVES (2017)

Auch so etwas, was man viel öfter tun sollte: Einfach mal in den Laden gehen und ein Album kaufen. Ganz altmodisch: Ohne zu wissen, was einen erwartet, ohne alles gleich zu Tode zu wikipedisieren, ohne die Bewertungen bei Pitchfork oder die Kommentare unter den YouTube-Videos zu lesen. Ja, das geht!

Was mich im Fall von Flotation Toy Warning neugierig gemacht hat: Schönes Cover-Artwork, ein komischer, höchstens mal im Vorbeigehen aufgeschnappter Bandname und mein Faible für lange, skurrile Songtitel, die ich an Künstlern wie Mclusky („The Difference Between Me and You Is That I’m Not on Fire“), Future of the Left („Sheena Is a T-Shirt Salesman“) oder Shabazz Palaces („Swerve…the Reeping of All That Is Worthwhile (Noir Not Withstanding)“) schätze.

Diesbezüglich wird man von Flotation Toy Warning mit Monstertiteln wie „Due To Adverse Weather Conditions All of My Heroes Have Surrendered“, „When the Boat Comes Inside Your House“ oder „Driving Under the Influence of Loneliness“ bestens bedient.

Entscheidend für den Kauf war aber, so viel sei eingestanden, vor allem der Cover-Aufkleber, der die neue Scheibe Freunden von Bands wie den Flaming Lips oder den von mir sehr gemochten Grandaddy ans Herz bzw. Ohr legt. Wobei sich diese Querverweise beim praktischen Hören dann gar nicht unbedingt als zutreffend erwiesen. Tatsächlich ist „The Machine That Made Us“ – das sage und schreibe 13 Jahre (!) nach dem Debütalbum von Flotation Toy Warning erschienen ist – stilistisch äußerst schwer zu schubladisieren. „Neo-psychedelia, chamber pop, space rock, dream pop, noise pop, indie pop, experimental rock, ambient pop, indie rock“ hat Wikipedia im Angebot – und damit ist man in etwa so schlau wie vorher. Und das ist erfreulich!

Denn hier greift nicht sofort der notorische „Klingt wie … / Erinnert mich an …“-Reflex. Dazu klingen Flotation Toy Warning zu eigenartig, zu „quirky“, wie der Brite vielleicht sagen würde. Ja genau, britische Exzentrik ist hier in jedem Song spürbar: Schwelgerische Melodien mit lustvoll leidendem Chorgesang treffen auf fast schon altmodische Folk-Grandezza, filigrane bis opulente, aber zum Glück nie überladene Arrangements paaren sich mit einer Neigung zum abwegigen Experiment.

Phasenweise ist „The Machine That Made Us“ eine Platte, über die man sich auch so richtig schön ärgern kann: In „Everything That is Difficult Will Come to an End“ – das mit den schönen Zeilen „I don’t have much time, none of us really do / So I’m fucked if I’ll be spending it with you“ beginnt – taucht zum Beispiel mittendrin unvermittelt ein schleifend-bohrend-quietschendes elektronisches Störgeräusch auf. Für noch enervierendere Dissonanzen ist in „I Quite Like It When He Sings“ gesorgt, das eigentlich mit besonders herrlichen, delikaten Harmonien betört. Diese werden jedoch – und zwar bis zum bitteren Ende – mit einem windschiefen Gesangssample konfrontiert, bei dem man irgendwie an ein paar Besoffene denken muss, die sich mit einem Heliumballon im Aufnahmestudio eingesperrt haben.

Fast wirkt es in solchen Momenten so, als würden Flotation Toy Warning ihrer eigenen Fähigkeit, wunderbare Melodien zu schreiben, nicht über den Weg trauen – und ihre Songs absichtsvoll über den Haufen schießen. Kurz: Sie machen es einem nicht leicht. Aber vielleicht bleibt ihre Musik genau deshalb hängen.

Am eindrucksvollsten sind möglicherweise trotzdem jene Momente, in denen sich die Band voll von ihrer eigenen Melodieseligkeit/-trunkenheit mitreißen lässt – etwa im elektronisch grundierten, mit Beatbox-Rhythmus und herzzereißendem Harmoniegesang versehenen „To Live For Longer Slides“ oder dem fast 13-minütigen Schlussstück „The Moongoose Analogue“: Da entfaltet der „Du-du-du-du-du-du, du-du-dududu“-Chorus eine sanfte, aber umso hynpnotischere Sogkraft – und tieftraurige Zeilen wie „There will be no ‚forever‘ / There will be no ‚til the end of time‘ / Not much, but that much / Is clear to me“ klingen seltsamerweise fast tröstlich.

Besonders schön ist aber das vergleichsweise einfache und geradlinige „King of Foxgloves“, in dem Flotation Toy Warning kein Störfeuer, keine Brüche, keine irritierenden Umwege und Abzweigungen brauchen – hier herrscht ungebrochene Schönheit. Wobei der Song trotzdem sehr raffiniert und gekonnt gebaut ist: Die himmelsstrebenden Harmonien und fein ziselierten Gitarrenläufe, die dann doch irgendwie an die großen Grandaddy denken lassen, stehen in einem reizvollen Kontrast mit dem robusten elektronischen Beat – und doch fügt sich alles organisch zusammen. Kurz gesagt: Ein Song, dessen Schönheit sich nicht aufdrängt, sondern nach und nach entdeckt werden will.

Gibst du uns weitere Anspieltipps? Sehr gern. Probiert es mit „Controlling the Sea“, „To Live For Longer Slides“ und „The Moongoose Analogue“.

Wenn mir das hier gefällt – was könnte mir dann sonst noch gefallen? Hmmm, gar nicht so einfach. Ich musste aus irgendeinem Grund am ehesten an urbritische Sonderlinge und Einzelgänger wie den großen Kevin Ayers, Syd Barrett oder die mir ansonsten völlig unbekannte, deutlich leichtfüßigere (und wohl auch leichtgewichtigere) One-Man-Band „The Voluntary Butler Scheme“ denken, von der ich mir irgendwann mal ein Album gekauft habe.

Letzte Frage: Seit eurem letzten Track der Woche sind über fünf Monate (sic!) vergangen. Geht’s noch??
Äääääh. (Verlegenes Gemurmel). Wir geloben Besserung!

Verloren in den Wäldern

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK(S) DER WOCHE, # 10:
SYD BARRETT – OCTOPUS (1970) & XIU XIU – LAURA PALMER’S THEME (2016)

Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich derzeit wieder einmal ganz in Twin Peaks zu Hause bin. In meiner absoluten und uneingeschränkten Lieblingsfernsehserie, die mit ihrem Mix aus schrägem Humor und abgründigem Psychohorror, aus Surrealismus und Seifenoper nach wie vor einzigartig dasteht, von den skurrilen, aber vielschichtigen und komplexen Charakteren ganz zu schweigen.

Ja, wahrscheinlich liegt es an dieser Serie, in der die alten, dunklen Wälder des amerikanischen Nordwestens, die Schönheiten und unsagbaren Abgründe, die darin zu finden sind, eine so zentrale Rolle spielen, dass mir dieser Tage immer wieder folgende Zeilen durch den Kopf gehen:

Isn’t it good to be lost in the wood? / Isn’t it bad so quiet there, in the wood?

Es gibt wohl keine schönere Metapher für die gleichermaßen erhebende wie verstörende Ausstrahlung und Wirkung des Waldes (die schon die Romantiker so faszinierte) als diese Zeilen von Syd Barrett. Sie stammen aus „Octopus“, der vielleicht bekanntesten Nummer von Barretts erstem Soloalbum „The Madcap Laughs“.

Die dunklen Wälder, in denen man sich – gerne und dann doch wieder ungern – verliert, stehen hier (wie zwanzig Jahre später in Twin Peaks) natürlich auch für menschliche (Grenz-)Erfahrungen und Seelenzustände oder auch für das Un(ter)bewusste an sich. Zugleich bilden sie eine perfekte, fast hellseherische Metapher für Barretts eigenes bewegtes und bewegendes Leben. Für seinen Weg vom gefeierten, blendend aussehenden, allseits angehimmelten Sixties-Popstar und Übervater der Psychedelic zum tragischen, desorientierten Opfer von LSD und anderen Drogen.

Es ist ein Weg, der in seiner Radikalität nicht nur tragisch, sondern irgendwie auch beeindruckend war: Barrett zog sich Ende der 70er Jahre völlig aus der Öffentlichkeit zurück und wieder bei seiner Mutter in Cambridge ein – und zwar, nach einem kurzen Zwischenspiel in London 1982, für immer. Die 80 Kilometer von London nach Cambridge legte er zu Fuß zurück. Was folgte, war ein Leben in völliger Privatheit und Abgeschiedenheit. „Syd“ Barrett nahm wieder seinen Geburtsnamen Roger an, widmete sich dem Malen und Gärtnern, kämpfte mit schweren Erkrankungen und verstarb 2006.

Das Werk, das er hinterlassen hat, schimmert wie der fast schon klischeehafte „verrückte Diamant“, als den ihn seine früheren Kollegen von Pink Floyd verewigten. Apropos Pink Floyd: Wer die Briten für ihre spätere Progrock-Gigantomanie und schulmeisterliche Ernsthaftigkeit fürchtet, sollte sich schleunigst auf Entdeckungsreise durch ihr Frühwerk begeben: Denn die frühen, ganz klar vom grenzgenialen Barrett geprägten Floyd sind auch heute noch eine echte Offenbarung.

Wer das nicht glauben will, der höre psychedelisch-verschrobene Meisterstücke wie „See Emily Play“ (bis heute eine meiner absoluten Lieblingsnummern EVER), „Lucifer Sam“, „Arnold Layne“, „Astronomy Domine“ oder „Bike“ – und staune. Und auch auf Barretts Soloalben „The Madcap Laughs“ und „Barrett“ (beide 1970) finden sich viele seltsam schimmernde Perlen wie „Golden Hair“, „Swan Lee“, „Gigolo Aunt“, „Long Gone“, „Baby Lemonade“ oder „Wined and Dined“. Zerfahrene, verspulte, oft unfertig und skizzenhaft wirkende Stücke – und gerade deshalb besonders faszinierend.

Bei Barrett fanden Versatzstücke aus unterschiedlichsten Genres und Ären zusammen, die aus heutiger Sicht schon immer wie füreinander gemacht schienen: urbritische Versponnenheit und Verschrobenheit, psychedelische Traumwelten, mystischer Britfolk, befreiender Rock ’n‘ Roll, unheimliche Kinder- und Märchenbücher. Das Schöne, Erhabene und das Abgründige sind die zwei Pole, die das Schaffen von Syd Barrett so aufregend machen – genau wie die Serie Twin Peaks.

Apropos Twin Peaks: David Lynch (selbst ein großer Wahnsinniger) und Mark Frost kehren heuer, nach über 25 Jahren, mit einer dritten Staffel der Serie zurück. Was davon zu erwarten ist, weiß keiner – mindestens aber ein Scheitern auf hohem, bizarrem Niveau. (Das wäre ja auch schon was!). Schon vor der Rückkehr der Serie hat sich die US-Experimentalpop-Band Xiu Xiu mit einem ganz wesentlichen Aspekt von Twin Peaks auseinandergesetzt, nämlich – erraten! – mit der Musik.

Die Scores von Angelo Badalamenti, David Lynchs kongenialem Haus- und Hofkomponisten, und die sphärisch-unwirklichen Gesangsnummer der großen Julee Cruise sind in ihrer Kombination aus gänzlich ironiefreier Romantik, Melancholie und unterschwelliger Bedrohung im Grunde unerreichbar und unantastbar. Xiu-Xiu-Mastermind Jamie Stewart und seine Band haben sich dennoch an die heikle Aufgabe gemacht, diese überirdisch schöne Musik neu zu interpretieren.

Das Ergebnis ist ein dunkel brodelndes Gebräu aus düster-atmosphärischer Elektronik und verstörend-verstörtem Queercore, mit sinistren Noise-Einsprengseln, die wie David Pfister von FM4 ganz richtig schrieb, „den Schönklang der Kompositionen dann noch klarer strahlen lassen“. Xiu Xiu Plays The Music Of Twin Peaks (so heißt das 2016 erschienene Album) ist mehr als nur eine würdige Hommage an Badalamenti und Lynch. Es ist ein eigenständiger, eindrucksvoller Trip in die dunklen Wälder.

Betörend und verstörend: Die Schönheit der Verfremdung

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 9:
AGNES OBEL – FAMILIAR (2016)

Das Instrument der Verfremdung ist in der Kunst ein gern gewähltes Mittel: von Bert Brecht, der damit Illusionen auf der Bühne zerstören wollte (V-Effekt), bis zur digitalen Bildbearbeitung von heute, die, ganz im Gegenteil, fast perfekte Illusionen ermöglicht.

Und auch in der populären Musik sind Verfremdungseffekte allgegenwärtig, ob sie nun per Effektpedal, Computerprogramm oder auf anderem Wege erzielt werden. Als besonders ergiebig und wirkungsvoll erweist sich dabei seit jeher das Bearbeiten und Verfremden der menschlichen Stimme: Zwischen billigen Autotune-Effekten („Beliiieve“ von Cher) und ausgefuchsten (Live-)Loop-Experimenten, bei denen Künstler ihre Stimmen tausendfach vervielfältigen, verzerren und modulieren, tut sich hier ein unendlich weites Feld auf.

Besonders schön, geradezu gespenstisch schön, gelingt die stimmliche Verfremdung in unserem Track der Woche – der ausgerechnet den Titel „Familiar“ trägt. Er stammt von Agnes Obel, einer großartigen dänischen Musikerin, die derzeit, wie die halbe musizierende Menschheit, von Berlin aus tätig ist. Ihr drittes Album heißt „Citizen of Glass“ (2016) – und begeistert mit einer tatsächlich fast gläsernen Klarheit und Eleganz.

Eine in mehrfacher Hinsicht traumhafte, aus der Zeit gefallene, fast sakrale Aura umgibt Songs wie „Trojan Horses“, „Stretch Your Eyes“ oder „Golden Green“. Obels Stimme klingt dabei wunderbar sphärisch, ätherisch und melancholisch, nach dunklem Dreampop – aber es ist ein Dreampop ganz ohne Gitarrenwände, weißes Rauschen oder unterkühlte Elektronik.

Stattdessen greift die Pianistin zu allerlei eher selten gehörten Tasteninstrumenten wie Mellotron, Spinett oder Celesta, lässt Cello und Violine unterschwellige Dramatik verbreiten oder setzt mit dem Trautonium, einem wenig bekannten Synthesizer-Vorläufer aus den 1930er Jahren, dezent retrofuturistische Akzente. Obels größter Trumpf sind aber stets die delikaten, versponnen-folkigen Vokalharmonien.

Für den geisterhaft schönen Refrain der ersten Single „Familiar“ hat Obel allem Anschein nach einen Gastsänger engagiert. Aber wer ist das bloß? Und: Wieso steht der geheimnisvolle Herr nicht in den Albumcredits? Nun, ganz einfach: Es handelt sich um Agnes Obel selbst. Sie tritt hier in einen Dialog mit ihrer eigenen Stimme, die aber so verfremdet wurde, dass sie wie eine Männerstimme klingt. Sie singt also quasi ein Duett mit sich selbst als Mann. Klingt verstörend? Ja, vor allem aber betörend.

„Our love is a ghost that the others can’t see“, heißt es hier – wobei Form und Inhalt nicht besser zusammenpassen könnten.

Dass der Großmeister der filmischen Verfremdung, David Lynch (der als Musiker übrigens auch ganz stark auf bizarr verfremdete Stimmen setzt), ein erklärter Fan von Agnes Obel ist, dürfte angesichts dieser Mischung kaum überraschen. Sollte aber als weiterer Ansporn dienen, in diese seltsame, fremde Welt einzutauchen.