HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 20:
A.A.L. (AGAINST ALL LOGIC) – SOME KIND OF GAME (2018)
Es gibt Leute, die in ihren Zwanzigern immer noch einigermaßen planlos durch das Leben streifen, nicht wirklich einem ambitionierten Ziel entgegenstreben oder einfach einem roten Biografiefaden folgen, sondern einfach nur versuchen, den Alltag zu meistern und dabei nicht alles völlig falsch zu machen. Und es gibt Leute wie Nicolas Jaar. Der in New York geborene Sohn chilenischer Eltern ist aktuell knackige 28 Jahre alt und hat im vergangenen Jahrzehnt so einige Nischen alternativer Musik mitgestaltet, unter verschiedenen Pseudonymen und Projekten mehrere Referenzalben unter das Volk gebracht und sich eine treue Fangemeinde erarbeitet, die wohl genauso bunt ist wie sein Output.
Als seine erste EP veröffentlicht wurde, war Jaar gerade mal 17 Jahre alt, und das drei Jahre später erschienene Debutalbum „Space Is Only Noise“ erntete in allen erdenklichen Fanzirkeln und Magazinen Lob und Anerkennung und erklomm dementsprechend in vielen Jahrestoplisten respektable Topränge. Bereits zu diesem Zeitpunkt war es nicht leicht, die Musik mit schmissigen Genrebezeichnungen und Kunstbegriffen akkurat zu definieren. Unorthodoxe Samplequellen, Querverweise und Kreuzungen mit anderen Genres stehen seit jeher an der Tagesordnung. Auf der Tanzfläche stampft House, in der Lounge pfeifen stilvoll Downtempo und Soul durch die Whiskeygläser, und „Space Is Only Noise“ klemmt irgendwo in der Mitte zwischen den Stühlen fest.
Die Begriffe „Ambient Pop“ oder „Art Pop“ funktionieren bei solchen Sachen auch immer, wenn die Musik beizeiten sehr catchy ist, sich aber sowohl der Radiotauglichkeit als auch einem Fixplatz innnerhalb ausdefinierter Schubladen vehement verwehrt. Auch das 2016 erschienene „Sirens“ ist eine Collage aus diffusen Ambient-Teppichen, kontrastierenden Synth-Punk- und Kraut-Anleihen Marke Suicide, in Unterwasser-Dub-Produktion versteckten Versatzstücken lateinamerikanischer Musik, deren Benennung ich mir gar nicht erst zutraue, et cetera.
Zwischen den beiden Veröffentlichungen schrieb Jaar unter anderem auch noch „Pomegranates“, ein alternativer Soundtrack zum sowjetischen bzw. armenischen Film „Die Farbe des Granatapfels“ aus 1969. Das bekannteste seiner Projekte dürfte allerdings Darkside sein, ein Kollaborationsprojekt mit dem Multi-Instrumentalisten Dave Harrington. Auf „Psychic“ werden Jaars bunte Klangmalereien mit ebenso vielseitigem Gitarrenspiel ergänzt und erhalten eine sehr funkige Note, die den Mitwippfuß ordentlich in die Gänge kommen lässt, nicht selten ist aber auch ein ordentlicher psychedelischer Einschlag spürbar.
In welche waghalsigen Gefilde führt diese Entwicklung? Was erwartet den neugierigen Freund experimentierfreudiger Musik? Na eingängiger, tanzbarer, lebensfroher und frische herausgeputzter Deep House, eh klar. Statt dem Avantgarde-Feuilleton (oder zusätzlich dazu?) wird die Disco erobert. Wie bitte, das ist gegen jegliche Logik? Dann passt’s ja. Unter dem Namen A.A.L. (Against All Logic), einem bis vor kurzem relativ unbekannten Nebenprojekt Jaars, veröffentlichte er vor wenigen Wochen „2012 – 2017“, eine Ansammlung von Tanzflächenhymnen, die es in sich haben.
Das Album wurde nirgendwo großartig angekündigt und flog wegen des Pseudonyms einige Zeit lang völlig unter dem Radar der Musikpresse hinweg. Der Name Jaar ist nirgends angeführt. Aber früher oder später mussten neben treuen Fans auch die professionellen Rezensenten darauf aufmerksam werden. Es ist auch sehr schwierig, dem mit Jahreszahlen betitelten, aber zeitgleich zeitlos erscheinendem Album keine Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sich so ein eigenbrötlerischer junger Produzent aufmacht, um ein Genre wie Deep House aus dem Dachboden hervorzukramen und wieder ins Rampenlicht zu rücken. Zumindest erscheint dieses Subgenre, so wie es in seiner Blütezeit vor gut 30 Jahren produziert und zelebriert wurde, anno 2018 etwas antiquiert. Treue Szenefans und Insider, welche es besser wissen, mögen bitte gnädig sein und die Fackeln und Mistgabeln stecken lassen. Die ausgelutschte und auf Tomorrowland’schem Boden totgestampfte House-Beschallung, welche gigantomanische EDM-Produzenten reichweitenstark und mainstreamkonform unters Volk senden und die im Netz oft gerne als „deep“ bezeichnet wird, ist hier jedenfalls nicht mitgemeint und wird ausgeklammert.
Jaar entstaubt in die Jahre gekommene Genreformeln, ölt eingerostete Scharniere und haucht den totgespielten Klängen der Afterhour-Clubmaschinerie neues Leben ein. Zwischen allen Tricksereien und Spielereien war in seiner Diskografie immer schon auch Platz für ohrwurmtaugliche Momente, auch wenn diese sich manchmal unter einem engmaschig gewobenen Produktionsteppich versteckt hielten. Aber eine derart hohe Dichte an klar hervorstechenden Hooks und Refrains dürfte es bei ihm so noch nie gegeben haben. Für die 20. Ausgabe des Track der Woche – hoch die Tassen! – soll „Some Kind of Game“ als Beispiel dienen. Der Track wächst kontinuierlich heran und folgt einer klar ersichtlichen Progression, ihm werden dabei aber alle möglichen Produktionskniffe und Spielereien mit auf den Weg gegeben. Man weiß fast immer, welche galoppierenden Pianoakkorde hinter der nächsten Ecke kommen, aber nie, wie sie kommen. Eine herrliche Balance zwischen Hittauglichkeit und Detailverliebtheit. Halleluja indeed. Die Gesangssamples entstammen größtenteils R&B- und Soulsongs aus den 70ern, was für die bereits erwähnte Notion der Zeitlosigkeit sorgt, das Sounddesign selbst könnte hingegen nicht zeitgemäßer sein.
Wenn sich der Frühling dann endlich blicken lässt, haben wir nun einen Soundtrack, um ihm frohlockend entgegenzutanzen.
Weitere Anspieltipps: I Never Dream, Know You, Such a Bad Way, Rave on U.