Archiv der Kategorie: Track der Woche

Verschlungene Stimmen, unerwartete Wendungen

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 34: OHMME – GHOST (2020)

So mühsam das krisenbedingte Daheimbleiben auch sein mag, es bietet – an entspannteren Tagen – zumindest die Chance auf Entdeckungen: sowohl in ansonsten sträflich vernachlässigten Winkeln, Kästen und Schubladen der eigenen Wohnung („Oha, Backerbsen aus dem vorigen Jahrhundert“) als auch auf musikalischem Feld.

Das Ziel, mit den spätesten Jahrescharts der Welt® heuer vielleicht doch einmal früher fertig zu werden, erweist sich zwar trotz Quarantäne als aussichtsloses Unterfangen (noch liegen ca. 13 A4-Seiten mit Songs aus dem Jahr 2019 vor mir, die ich mir zumindest einmal anhören möchte; zugegeben mit doppeltem Zeilenabstand). Aber das fast schon generalstabsmäßig geplante Musikhören führt doch immer wieder zu wunderbaren Entdeckungen – und sei es nur zufällig, sowie im Fall von OHMME.

Denn die Formation aus Chicago hatte ich auf keiner meiner Listen stehen, ihre wirklich noch brandneue Single „Ghost“ wurde mir ganz banal von YouTube vorgeschlagen (die Logarithmen funktionieren also, der Große Bruder hat meinen exquisiten Musikgeschmack erkannt ;-)). Aber oft (Achtung, Kalenderspruch!) sind die die Dinge, in die man irgendwie hineinstolpert, ohnehin die interessantesten. Jedenfalls war ich sofort, wie man neudeutsch so sagt, hooked und suchte nach weiteren Songs. Ein schlechter war nicht dabei.

OHMME sind im Kern ein Frauen-Duo, nämlich Sima Cunningham und Macie Stewart (ergänzt um Drummer Matt Carroll). Sie hießen früher – wohl gleich ausgesprochen – Homme, mussten den Namen aber offenbar ändern, übrigens nicht wegen Josh Homme of Queens-Of-The-Stone-Age-Fame, sondern wegen einer K-Pop-Formation gleichen Namens. Beide Künstlerinnen, die auch in diversen anderen Formationen ans Werk gehen, sind Multiinstrumentalistinnen, u. a. ausgebildete Pianistinnen. Bei OHMME steht – neben ausgeklügelten Vokalharmonien – aber die Gitarre mit ihren vielfältigen Klangfacetten im Fokus.

Experimentierfreude ist dabei oberstes Gebot – nicht umsonst sind die Musikerinnen Teil der Avantgarde-Jazz- und Improvisationsszene von Chicago. Doch diese Lust auf ungewöhnliche klangliche Wege koppeln OHMME mit gehörigem Pop-Appeal – und genau darin liegt ihre Stärke. Denn sie klingen nicht nur unerwartet, vielseitig und eigenständig, sondern auch eingängig.

„Ghost“ zeigt das souverän auf: Makelloser, majestätisch-optimistischer Harmoniegesang trifft da in kompakten dreieinhalb Minuten auf einen dreckig-treibenden Bass und jaulende, sanft dissonante Gitarrenfiguren. Man kann es nicht anders sagen: Ein Hit!

Etwas spröder, aber fast ebenso zwingend präsentiert sich das ebenfalls erst vor wenigen Wochen veröffentlichte „3 2 4 3“, das melancholisch und, vor allem in der zweiten Songhälfte, leicht sphärisch daherkommt.

Besonders eindrucksvoll geraten ist das bereits 2018 veröffentlichte, düstere „Grandmother“, das verhalten-folkig startet, nach einer Dreiviertelminute plötzlich auf einem feisten Blues-/Hardrock-Beat daherreitet, umgarnt von Gitarrenschlieren und harschen, kratzigen Feedbackschleifen, ehe sich wieder diese grandiosen, sakral anmutenden Vokalharmonien schmetterlingsgleich entfalten. Und die zentralen Zeilen „Grandmother (…) Who’s looking out for you?“ erfahren in der aktuellen Situation, in der alte und pflegedürftige Menschen schon seit Wochen ohne Besuch in Heimen ausharren, eine gespenstische neue Bedeutungsebene.

Es ist vor allem die Vielfalt an Klangfarben und Atmosphären, mit denen OHMME verblüffen: Mal klingen sie alternativrockig-rau wie PJ Harvey, mal kunstvoll-prätentiös wie Kate Bush (mit beiden werden sie immer wieder verglichen). Und dann plötzlich wieder ganz anders, etwa in „Icon“, das mich persönlich z. B. an tUnE-yArDs oder die Schwestern von CocoRosie denken lässt – an Künstlerinnen, die im Versuch, ihrem Genie möglichst viel Auslauf zu lassen, auch mal in Kauf nehmen, die Hörerschaft zu überfordern und zu nerven. Und das meine ich positiv!

Stimmlich erinnern OHMME bisweilen auch an eine aufgekratztere Eleanor Friedberger (Fiery Furnaces) und die Popkulturgeschichte haben sie natürlich sowieso intus (wie sie etwa mit dem B-52s-Cover „Give Me Back My Man“ beweisen). Aber sie bleiben dabei eben immer angenehm unberechenbar und auf elegante Weise widerspenstig.

„Water“ beispielsweise beginnt als straighter Alternative Rock, der auch Bands wie Sleater-Kinney gut zu Gesicht stehen würde, ehe OHMME mit avantgardistischen Vokalharmonien, die sich gegenseitig anstoßen wie Billardkugeln, wieder mal in eine ganze andere Richtung abbiegen.

Dass OHMME als wichtige Band der Independent-Szene von Chicago gelten, verwundert angesichts ihres überschießenden Talents nicht. Dass sie mit einflussreichen, dem Experiment ebenfalls nicht abgeneigten Chicagoer Bands wie den großen Wilco oder den Postrock-Säulenheiligen Tortoise gespielt haben, ebensowenig. Macie Stewart war früher aber auch Mitglied einer Hip-Hop-Formation („Kids These Days“), was die große musikalische Wandelbarkeit nur noch unterstreicht.

Das neue Album „Fantasize Your Ghost“ erscheint im Juni, ich werde es mir für die Jahrescharts 2020 (hüstel) auf jeden Fall fett markieren. Wie es mit der anschließend geplanten, ausgedehnten US-Tournee weitergeht (und wann es OHMME vielleicht sogar einmal nach Europa schaffen), ist derzeit – wie so vieles andere – leider nicht absehbar.

Weitere Anspieltipps (alle super!): 3 2 4 3, Wheel, Sentient Beings, Left Handed, At Night (Letzteres nur auf Spotify)

Kaffee, Küche, Kippen, Keller – Korona?

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 33: THE DÜSSELDORF DÜSTERBOYS – KAFFEE AUS DER KÜCHE (2019)

Pandemie, Quarantäne und Ausgangssperre: Darunter geht’s wohl nicht ab, damit sich hier am Blog mal wieder was bewegt und die altehrwürdige Kategorie des „Tracks der Woche“ (der letzte stammt, hüstel, aus dem Oktober 2019) eine so nicht mehr erwartete Rückkehr feiert. Dafür sogar eine dauerhafte? Man darf den Optimismus nicht verlieren!

Und nein, der aktuelle Track der Woche ist definitiv kein Corona-Track – schließlich stammt er schon aus dem Vorjahr. Und bietet textlich und musikalisch weder finstere Dystopien noch trotzige Durchhalteparolen oder leidenschaftliche Solidaritätsaufrufe. Trotzdem passt er irgendwie perfekt in die aktuelle Situation.

Ich hol den Kaffee aus der Küche / Ich hol die Kippen aus dem Schrank /
Ich hol den Wein aus dem Keller / Und hau den Nagel in die Wand.

Genau, das ist auch schon der komplette, so einfache wie vieldeutige Text (der in den Background-Vocals noch einmal in der dritten Person Einzahl gespiegelt wird). Wie er ursprünglich gemeint ist? Kein Ahnung. Vielleicht als Metapher für eine denkbar unglamouröse, prekäre Künstler-/Bohemien-Existenz? Für ärmlichen Hedonismus? Oder aber als Kritik an einer spießbürgerlich-biedermeierlichen „My home is my Castle“-Mentalität samt borniertem Heimwerkerdenken (so ähnlich wie in „Mach es nicht selbst“ von Tocotronic)?

Klar ist wie gesagt: Um Corona geht es hier. Und doch lassen die ultrareduzierten Lyrics und der emotionslose bis latent aggressive Vortrag genau die Bilder aufsteigen, die unseren aus den Fugen geratenen Alltag derzeit prägen: räumliche Beschränkung, Rückzug auf Routinen und die „einfachen Dinge“, sprich auf Konsum jeder Art, nicht zuletzt auch jenen von legalen Rauschmitteln. So dürfte es derzeit vielen ergehen – zumindest jenen, die so privilegiert sind, dass sie nicht täglich in Krankenhäuser, Pflegeheime, Arztpraxen, Supermärkte oder öffentliche Verkehrsmittel eilen müssen, um unseren kollektiven Laden am Laufen zu halten. Von jenen, die ihren Job verloren haben oder zu verlieren drohen, wollen wir hier gar nicht reden.

Jedenfalls ist die Szenerie dieses Songs eng, klein, beschränkt, banal, denkbar weit weg von großen Themen und Gefühlen – und damit sehr passend für den Zustand einer Gesellschaft im Rückzugsmodus.

Musikalisch ist das Ganze hingegen ein verdammter (dabei stilistisch gar nicht so leicht zu schubladisierender) Ohrwurm, wie ihn in Deutschland derzeit kaum jemand besser hinbekommt als die Düsseldorf Düsterboys. Ok, höchstens noch International Music. Denn die Düsterboys Pedro Crescenti und Peter Rubel bilden auch zwei Drittel der letztgenannten Band, die 2018 mit „Die besten Jahre“ eines der, äh, besten Alben des Jahres abgeliefert haben.

Übrigens kommen die Finsterburschen gar nicht aus Düsseldorf, sondern aus Essen. Aber allein die Alliteration ist das Düsseldorf wert – und die musikgeschichtlichen Assoziationen, die im Namen mitschwingen, dürften wohl auch beabsichtigt sein. Schließlich ist Düsseldorf so etwas wie die heimliche Musikhauptstadt Deutschlands – von den Krautrockern Neu! und La Düsseldorf (sic!) über DAF (R.I.P.), Fehlfarben, Der Plan, KFC, Rheingold oder die, äh, Toten Hosen bis hin zur Antilopen Gang.

Im Mai hätten die Düsseldorf Düsterboys übrigens in der wunderbaren Jungen Talstation in Innsbruck auftreten sollen, ein Termin, den wohl nicht nur ich mir bereits dick und fett im Kalender angestrichen habe – und der unter den obwaltenden Umständen wohl kaum halten dürfte. Hoffentlich gilt hier wie bei so vielen anderen Dingen: aufgeschoben, nicht -gehoben.

Weitere Anspieltipps:
– Düsseldorf Düsterboys – Oh Mama, Messwein, Teneriffa, Meine Muse, Nenn mich Musik
– International Music – Für alles, Cool bleiben, Du Hund, Metallmädchen, Dein Daddy ist rich

Es gibt Reis, Baby!

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 32:
DON CHERRY – BROWN RICE (1975)

H.I.T. The Bassline ist nicht tot. Wir riechen nur komisch.

Alle Ausreden sind zwecklos. Die längste (Zwangs?-)Pause in der Geschichte unseres kleinen Blogs spricht für sich. Und gegen uns. Seit dem letzten Beitrag sind unglaubliche drei Monate vergangen, der letzte Track der, äh, Woche liegt NEUN Monate zurück. In einem Zeitraum, in dem andere Menschen Kinder kriegen, kriegen wir also nicht einmal ein paar lausige Beiträge zusammen. Schade, traurig, aber man kann ja zumindest Besserung geloben. Und damit genug der Selbstgeißelung – wir sind ja nicht bei den Flagellanten.

Um den Wiedereinstieg noch fragwürdiger zu machen, habe ich beschlossen, heute über etwas zu schreiben, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe: Ich weiß rein gar nichts über Don Cherry (außer vielleicht, dass er Stiefvater der großartigen Neneh Cherry und Vater von Eagle-Eye „Save Tonight“ Cherry ist/war), ich verstehe denkbar wenig von experimentellem Jazz und finde mich in kaum einer Ära der Popkultur weniger zurecht als in den mittleren 70er-Jahren, also nach Blues-, Hippie- und Psychedelic Rock und vor der Punk- und Post-Punk-Revolution.

Trotzdem: „Brown Rice“ von Don Cherry ist ein Entdeckung, die ich auf jeden Fall mit euch teilen möchte. Ich habe die Nummer zufällig vor ein paar Wochen im Abendprogramm von FM4, ich glaube im „Zimmerservice“, gehört – als Hörerwunsch, zu dem der Moderator sinngemäß anmerkte, dass er wohl nicht wirklich ins Programm von FM4 passe, er ihn jetzt aber trotzdem einfach spielt.

Fünf Minuten später war der Moderator spürbar verblüfft und begeistert – genau wie ich. Was da zu hören war, klang unerwartet, aus der Zeit (aus der Zukunft?) gefallen, kaum einzuordnen. Ich war gefesselt (und nicht im „Shades of Grey“-Sinne).

Don Cherrys Reisgericht schmeckt nach vielerlei Gewürzen gleichzeitig, mit seinem hypnotischen Groove, dem funkigen Wah-Wah-Bass, den Bongos, den kreischenden Bläser-Eruptionen, dem E-Piano, den sphärisch verhallten Uuuh-uuuh-uuhs von Sängerin Verna Gillis und Cherrys rhythmischen, lautmalerischen Lyrics im Flüsterton, düster und verführerisch-geheimnisvoll, zugleich einlullend und unterschwellig bedrohlich. Schließlich man weiß hier nie, was hinter der nächsten Ecke kommt.

(Afro-)futuristisch, kosmisch, transzendental, schamanisch: Die Wörter, die einem hier in den Sinn kommen, sind alles andere als klischeefrei. Ganz anders die Musik, die denkbar weit von schmierigem „Fusion“-Gedudel entfernt ist. Bezeichnend: Der Track ist mir irgendwie auch in die Sammel-Playlist für die Jahrescharts 2019 gerutscht – und klingt im fortgeschrittenen Alter von 44 Jahren moderner und gewagter als vieles, was sich dort so tummelt.

Don Cherry, vor allem als Trompeter bekannt, galt als Pionier des Free Jazz, besonders als Mitglied des berühmten Quartetts von Ornette Coleman. Und er spielte auch mit all den weiteren Größen des Avantgarde-Jazz, bei deren bloßer Nennung dem Jazz-Nerd die Hornbrille in die Teetasse fällt und der Speichelfluss unkontrollierte Ausmaße annimmt: John Coltrane und Sonny Rollins, Archie Shepp, Albert Ayler, Sun Ra, you name ‚em. Aber auch Genre-Fremde wie Lou Reed oder Ian Dury stehen auf der langen Kollabo-Liste.

Cherry wird außerdem stets als einer der Vorreiter, ja sogar Erfinder der Kombination von Jazz und „Weltmusik“ genannt. Zugegebenermaßen ein etwas depperter Ausdruck für die riesigen Klangkosmen außerhalb der europäisch-angloamerikanischen Blase, die ihrerseits ja schon endlos groß ist. Cherry selbst sprach übrigens lieber von „organic music“. Wie auch immer, das ganze „Brown Rice“-Album vibriert vor lauter Einflüssen – afrikanisch, indisch, indonesisch, arabisch, chinesisch, tibetanisch. Das Ergebnis ist allerdings kein Frappucino-tauglicher Soundteppich, sondern, im Gegenteil, fordernd, abstrakt-intellektuell, oft durchdringend, noisig und für nicht Jazz-sozialisierte Hörer wie mich und dich phasenweise ganz schön anstrengend.

Auch sonst geht das Album, heuer wieder einmal als Reissue erschienen und mehr denn je gefeiert, weite Wege: „Malkauns“ klingt elegisch, basiert offenbar auf einem indischen Raga und stellt die indische Langhalslaute Tanpura ins Rampenlicht. „Chenrezig“ ist tibetanisch beeinflusst und bassgetrieben, Cherry spricht hier in fremden Zungen (Tibetanisch?) und streift sogar den Kehlkopf-/Obertongesang. Trompete und Saxophon fließen melodiös oder lärmen atonal. „Degi-Degi“ beendet das Album funky und wiederum mit suggestiven Flüsterlyrics.

Und was bedeutet eigentlich der Song- und Albumtitel „Brown Rice“? Laut Auskennern könnte er (ähnlich wie „Brown Sugar“ der Stones) auf Heroin anspielen, aber angeblich auch auf eine Phase, in der sich Cherry fast nur von Reis ernährt haben soll, um sich selbst daran zu erinnern, wie viele Menschen weltweit hungern müssen. „It speaks to the two extremes of Cherry, that of the spiritual seeker and the junkie jazz musician“, schreibt Pitchfork in seiner Lobeshymne.

Mein Fazit: Ich werde sicher nie ein Jazzkenner. Aber es ist irgendwie tröstlich zu wissen, dass da draußen noch viele andere Welten existieren, so groß, facettenreich und unverständlich wie der Makro- und Mikrokosmos.

PS: Ins Don-Cherry-Album „Orient“ von 1972 hineinzuhören, lohnt sich ebenfalls. Viele, viele bunte Klangfarben.

PPS: Habe gerade gelesen, dass Don Cherry auch den Soundtrack zu Alejandro Jodorowskys berühmt-berüchtigtem Experimentalfilm-Bilderrausch „The Holy Mountain“ beigesteuert hat. Klingt nach einem Trip, auf den man sich einlassen sollte!

Als Funk zu Punk wurde. Wie eine Band namens Death ein neues Genre zur Welt brachte

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 31:
DEATH – POLITICIANS IN MY EYES (1976)

Zu den schönsten Aspekten der Popkultur zählt, dass sie im Idealfall soziale, kulturelle und ethnische Grenzziehungen zu überwinden vermag. Ja, im Grunde ist das wohl so etwas wie die Definition von „Pop“ an sich.

Unabhängig davon besteht aber kein Zweifel daran, dass der weitaus überwiegende Teil der modernen Populärmusik in „schwarzen“, konkret afroamerikanischen (und afrokaribischen) Musikkulturen wurzelt: Blues, Jazz und Rock ’n‘ Roll, Soul, Funk und R & B, Ska und Reggae mit all ihren Subgenres, aber auch Disco, Techno und House, Hip-Hop sowieso, mit allen jüngeren und jüngsten Strömungen von Trap bis Cloud-Rap – you name it.

Aber dass eine afroamerikanische Band – die ausgerechnet aus einem stark christlich geprägten Haushalt stammte und noch dazu einen so unheilvollen Namen wie Death trug – zu den geistigen Vorläufern des Punk zählte, ist bis heute über Nerd- und Spezialistenkreise hinaus erstaunlich wenig bekannt.

Und doch war es genau so: Die drei Brüder Bobby (Bass, Gesang), David (Gitarre) und Dannis Hackney (Drums), Söhne eines baptistischen Predigers aus Detroit, kamen zwar ursprünglich vom Funk. Doch stark beeinflusst von Bands wie The Who, den Beatles oder Alice Cooper, schlugen sie bald eine völlig neue Richtung ein – die vor allem vom ältesten Bruder David vorgegeben wurde: Ab 1971 nannten sie sich Death und entwickelten einen rauen, harten, direkten, aufs Wesentliche reduzierten Gitarrensound, den in Detroit damals auch Bands wie MC5 oder die Stooges kultivierten. Mit anderen Worten: Das war (Proto-)Punk, zu einer Zeit, als dieser Name noch längst nicht existierte und der entsprechende Sound in New York oder London noch kein wirkliches Thema war.

Bei Death kam zum aggressiven Sound ein unwiderstehlicher, eindeutig der Funk-Vergangenheit geschuldeter Groove hinzu, der sie von anderen (weißen) Proto-Punk-Bands deutlich abhob. Eigentlich eine denkbar explosive, aufregende Mischung, die damals absolut für Furore hätte sorgen können/sollen/müssen.

Doch es lief ganz anders ab: Zwar nahmen Death 1975 ein Album mit sieben Songs auf (geplant waren eigentlich zwölf), doch dieses erschien nie. Die Majorlabels zeigten Death die kalte Schulter, ein Deal mit Columbia soll, so heißt es, vor allem an David Hackneys (proto-punkiger) Weigerung gescheitert sein, den düsteren Bandnamen gegen einen verträglicheren, massenkompatibleren zu tauschen. (Ein Problem, mit dem die Death-Metal-Urväter Death Jahre später nicht zu kämpfen hatten. Im Gegenteil, einen besseren Namen für Genre-definierende Todesmetaller gibt es ja gar nicht).

Auch sonst dürften einige Umstände (übel) mitgespielt haben: Für den Mainstream waren Death wohl einfach ein zu früh dran – und in der schwarzen Community von Detroit müssen sie mit ihrem Sound ohnedies wie Alien gewirkt haben. Fakt ist jedenfalls, dass sich die Band bereits 1977 – ausgerechnet jenem Jahr, in dem sich der Säurekanal namens Punk voll in den Hauptstrom ergoss – schon wieder auflöste. Veröffentlicht hatten die drei zu diesem Zeitpunkt lediglich die 7-inch „Politicians In My Eyes“ mit der B-Seite „Keep on Knocking“, die sie 1976 im Eigenverlag herausgebracht hatten, in einer Auflage von nur 500 Stück.

Die ehemaligen Bandmitglieder gingen danach andere, verschlungene Wege, die von Gospel-Rock bis Reggae und geographisch bis nach New England führten.

Erst Jahrzehnte später wurde das äußerst schmale, aber visionäre Werk der Band wiederentdeckt. Zum einen von den Söhnen Bobby Hackneys, die 2008 die Formation „Rough Francis“ gründeten, mit der sie das Erbe von Death neu belebten. Zum anderen von Alternative-Größen wie Jello Biafra (Dead Kennedys). 2009 brachte das Label Drag City Records dann die 70er-Jahre-Demoaufnahmen erstmals heraus, in Form eines Albums mit dem angemessenen Titel „… For The Whole World To See“. 2009 reformierten Bobby und Dannis Hackney die Band schließlich selbst (mit einem neuen Gitarristen), in der Folge erschienen weiteres historisches Demo- und Sessionmaterial ebenso wie neue Alben.

Für viele, die zuvor nie von Death gehört hatten, war das nach Jahrzehnten endlich veröffentlichte erste Album eine wahre Offenbarung. So beschrieb Jack White gegenüber der New York Times seinen ersten Höreindruck folgendermaßen: „I couldn’t believe what I was hearing. When I was told the history of the band and what year they recorded this music, it just didn’t make sense. Ahead of punk, and ahead of their time.“

Das alles erinnert frappant an die Geschichte der Monks, die heute ebenfalls als stilistische Vorväter des Punk (aber auch von Industrial, hypnotischen Drones etc.) angesehen werden: Sie veröffentlichten sogar bereits Mitte der 60er Jahre ein (heute als Meisterwerk geltendes) Album, das seinerzeit völlig unbeachtet blieb. Und auch sie kamen erst sehr, sehr spät zu gebührender Anerkennung.

Death sind eine Entdeckung von ähnlichem Rang (was Gitarrist David Hackney übrigens nicht mehr miterleben durfte; er starb bereits im Jahr 2000, nachdem er zuvor lange gegen den Alkoholismus gekämpft hatte): Sie sind so etwas wie das Missing Link zwischen Jimi Hendrix oder Chuck Berry und dem Punk, zwischen Punk und Funk/Soul, Punk und Hard Rock, Punk und Psychedelic Rock etc.

Die Annäherung zwischen dem „weißen“ Punk und sogenannten „schwarzen“ Sounds brachte vor allem im Großbritannien der späten 70er, frühen 80er Jahre spektakuläre Ergebnisse hervor (The Clash, The Specials, Madness usw.) – bei Death war diese Brücke schon geschlagen.

Denn Death groovten, waren funky – etwas, was man zum Beispiel von den Sex Pistols und vielen anderen frühen Punkbands wirklich nicht behaupten konnte (womit nichts, aber auch gar nichts gegen die Sex Pistols gesagt werden soll). Und natürlich waren sie im Vergleich ungleich virtuosere Musiker (womit nichts, aber auch gar nichts gegen die Abrechnung des Punk mit hohlem Virtuosentum gesagt werden soll). Und Death klangen vor allem extrem tight.

„Politicians In Their Eyes“ zeigt das besonders gut auf: Proto-Punk-Riffs treffen hier auf einen wuchtigen, fast stoisch-militärischen Groove, fetten Basssound und einen hymnischen Refrain, der fast schon – dare we say it? – Emo(tional Hardcore) vorwegnimmt. Für die reine Punklehre (die es damals logischerweise noch gar nicht gab) ist das natürlich viel zu komplex und ausufernd gespielt, von den harten Brüchen ganz zu schweigen. All das schadet aber – im Gegensatz etwa zu schwerfälligen Prog-Rock-Ungetümen – der ungestümen Wirkung des Songs nicht. Im Gegenteil: Wie etwa später beim komplexen Groove-Punk von Nomeansno tragen die Brüche zur Durchschlagskraft nur noch bei.

Auch sonst gibt es einiges zu entdecken: Die B-Seite „Keep On Knocking“ ist fast genau so zwingend und hymnisch wie „Politicians …“, „Freakin Out“ und „Rock-N-Roll Victim“ wiederum sind purer, stampfender Punk before the word. „You’re A Prisoner“ rockt dramatisch, während „Where Do We Go from Here???“ die Emotionalität von gutem Soul hat. Und „Let The World Turn“ wechselt ansatzlos von psychedelischer Ballade zu hartem, vertracktem Rock. Fazit: Faszinierend und hochenergetisch!

Bis heute sind schwarze Musiker (wenn man schon die Hautfarbe bemühen muss) und harte, gitarrendominierte Musik eine relativ rare Kombination. (Im Zusammenhang mit Death werden oft die – ungleich brachialeren – Hardcore-Afropunks Bad Brains bemüht, Jüngere könnten vielleicht auch an die Horror-Core/Industrial-Hip-Hop-Gruppe Ho99o9 denken oder etwa an die Punkwurzeln von Indie-Heldinnen wie Santigold oder Ebony Bones). Wäre dieser Entwicklungsstrang vielleicht anders verlaufen, wären Death damals so erfolgreich geworden wie ein paar Jahre später, sagen wir, The Clash, Blondie oder die Talking Heads? Wir werden es nie erfahren.

Nie erfahren werde ich wohl auch, wo zum Teufel mein Exemplar des tollen Proto-Punk-Samplers „Sick On You! One Way Spit!“ gelandet ist, auf dem ich Death vor Jahren zum ersten Mal entdeckt habe.

Naja, notfalls kauf ich ihn mir eben ein zweites Mal. Und die offenbar sehr sehenswerte Doku „A Band Called Death“ (2012) könnte ich mir auch noch gleich besorgen.

Das letzte Wort soll aber mal wieder einem YouTube-Kommentator gehören, der über Death meinte:

They’re called Death, because they’re killin‘ it.

Ja, so kann man das auch sagen.

Von Kauderwelsch und Zufallsgeneratoren

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE # 29:
THE BOOKS – TAKE TIME (2003)

„Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur in ihr zurecht finden.“ Ein Aphorismus, der sehr häufig Albert Einstein zugeschrieben wird. Klingt ziemlich nach kitschigem Wohnzimmer-Wandtattoo und siehe da: Tatsächlich stößt man bei der Suche nach Quellenangaben auf exakt das. Aber in bestimmten Bereichen des Lebens ist es sicher keine schlechte Idee, mehr Wert auf subjektives Wohlfühlen und „Zurechtfinden“ zu legen als auf reines Verständnis. Musik zum Beispiel.

Das Album „The Lemon of Pink“ von The Books ist bei Erstkontakt sehr wirr. Die Songs – wenn überhaupt als solche identifizierbar – wirken eher, als hätte man Interviewschnipsel, Gesangsfragmente und Folkgefiedel, -gezupfe und gestreiche aus allen Erdenwinkeln durch einen Zufallsgenerator gejagt. Man muss in der Schule kein Statistik-Ass gewesen sein, um zu wissen, dass es bei einer zufälligen Aneinanderreihung von allen möglichen Klangpuzzleteilen zwar nicht unmöglich ist, dass etwas Sinnhaftes und Schönes dabei heraus kommt, aber sehr unwahrscheinlich. Aber nicht alles, was auf dem ersten Blick random wirkt, ist es auch. Und mit ausreichend Geduld und Zeit entfalten sich die Ideen auf dem Album auch einigermaßen und man sieht sowohl die Bäume als auch den Wald. Also nehmen wir uns etwas Zeit.

„Take Time“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie dieser Patchwork-Zugang zu Songwriting gut funktionieren kann und wieso das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Hinter dem wiederkehrenden Gelächter und allen anderen  Sprachsamples sind die warmen, akustischen Instrumente der Klebstoff, der alles formschön zusammenhält. Hinzu kommt das titelgebende, selbst eingesungene „take time“, das sich wie ein Mantra wiederholt. Wobei, in diesem Fall eher wie das stoische Ticken einer alten Uhr. Vor allem gegen Songende hört man das stark betonte K und es wird klar, dass diese Tick-Assoziation nicht von ungefähr kommt. Beinahe so, als hätte man den Songtitel konsequent zuende gedacht, entwickelt der Track eine eigene Rhythmik, die sich bis zum im wahrsten Sinne des Wortes taktvollen Timing der Samples durchzieht.

In diese Collage aus Instrumenten und Stimmen, aus Melodien und deren Manipulationen, floss natürlich einiges an Feinschliff und Liebe zum Detail. Und Zeit eben. Wie viel genau ist schwer zu sagen. Wohl nicht zu wenig, sodass ein rundes Ding dabei herauskam, mit Anfang, Ende und allem dazwischen. Aber auch nicht zu viel, denn es wirkt zu keiner Sekunde verkopft und glatt. Das ist sehr wichtig, da die Leichtfüßigkeit ein großer Teil dessen ist, was den Flair des Albums ausmacht. „The Lemon of Pink“ als ganzes Album ist weit davon entfernt, perfekt zu sein, was auch immer das im konkreten Fall überhaupt heißen soll. Das könnte es auch gar nicht, schließlich klingt das Album derart menschlich, und wann ist etwas schon „perfekt“, wenn es menschelt? Gerade weil sich das Album trotz aller Verfremdungen so vertraut anfühlt, gelingt es ihm jedes Mal aufs neue, mir ein Grinsen ins Gesicht zu zaubern. Die menschliche Komponente wird beispielsweise im Outro „PS“ sehr deutlich unterstrichen. Dieser einminütige Rausschmeißer ist im Endeffekt ein Interview, das The Books mit NPR-Radiomoderatorin Terri Gross geführt haben. Nur hört man dabei nichts vom eigentlichen Interview, sondern stattdessen die Ähms und Öhms, die peinliche Stille und die holprigen Füllwörter. Kein Inhalt, nur die übrig bleibende Essenz des Zwischenmenschlichen.

Es ist also kein filigranes Herummanipulieren an ausschließlich fremden Soundquellen. Es ist in keinster Weise ein zweites „Endtroducing“. Wenn überhaupt, dann der leicht tollpatschige, aber vor Neugier überquellende kleine Bruder davon. Außerdem besteht „The Lemon of Pink“ nicht ausschließlich aus Sampling, Paul De Jong und Nick Zammuto singen (und „singen“) viele Stellen des Albums selbst ein. Vor allem letzterer machte sich in der Indieszene auch durch seine Soloalben einen Namen.

Die Samplequellen erscheinen isoliert betrachtet ähnlich willkürlich wie deren Aneinanderreihung auf dem Album. Mal lauscht man dem Vaterunser, dann einer Stewardess nach erfolgreicher Landung in Japan. Im Anschluss teilt uns Albert Einstein seine Meinung über Mahatma Gandhi mit, einige Minuten später sitzen wir in einem Pasolini-Film. Es fühlt sich an, als sei man ein unbeteiligter Beobachter oder gar ein Geist, und würde ziellos um die Gegend oder gar um die Welt geschickt und lauscht dabei allem, auf das man auf dieser Reise stößt. Dabei horcht man auch in die Köpfe der Menschen hinein, entdeckt Absurditäten, Widersprüche, oder glaubt es zumindest. Hin und wieder versteht man nur Bahnhof. Dabei ist auch nicht immer klar, ob es am eigenen Verständnis scheitert oder ob es sich tatsächlich um Kauderwelsch handelt. Aber ist auch komplett egal, schließlich haben wir gelernt: Man muss nicht immer alles verstehen, man muss sich nur darin zurechtfinden. Könnte zu viel Verständnis dessen sogar für Entzauberung und Desillusionierung sorgen? Um Himmels Willen!

Eine Stimme, die alles hinwegschwemmt

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 28:
BESSIE SMITH – MUDDY WATER (A MISSISSIPPI MOAN) (1927) 

Bei manchen MusikerInnen neigt man (nicht erst in Zeiten von Wikipedia) dazu, sich mehr auf ihre Biographie zu konzentrieren als auf ihr Werk – besonders wenn der Lebenslauf so spannend und dramatisch ist wie jener von Bessie Smith (1894-1937).

Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen im tiefen, segregierten US-Süden, beide Eltern früh verstorben, Anfänge als Straßenmusikerin und -tänzerin, Mitglied in einer fahrenden Musiktheater-Gruppe, steiler Aufstieg zur wohl erfolgreichsten Blues-Sängerin der 20er und 30er Jahre, zu einem Star des frühen Radio, zur bestbezahlten afroamerikanischen Unterhaltungskünstlerinnen ihrer Zeit, zur „Empress of the Blues“. So könnte man dieses intensive Leben im Telegrammstil Revue passieren lassen.

Man könnte von Bessie Smiths turbulenter Ehe mit zahlreichen Seitensprüngen beider Partner berichten, von ihren zahlreichen Affären, auch und gerade mit Frauen. Man könnte ihr Werk darauf hin analysieren, wie es schwarze Arbeiterklasse-Identität, weibliches Selbstbewusstsein und sexuelle Selbstbestimmung thematisiert, wie es Armut und soziale Ungleichheit reflektiert. Man könnte es im zeitgeschichtlichen Kontext zwischen Rassentrennung und Showbusiness-Kapitalismus (Stichwort: Platten- und Radioindustrie) beleuchten. Man könnte ihren Tod nach einem entsetzlichen Autounfall in Mississippi im Jahr 1937 in den Fokus rücken – in einem Krankenhaus für Schwarze, da trotz ihrer Berühmtheit offenbar niemand im Entferntesten daran gedacht hätte, Bessie Smith in ein „weißes“ Krankenhaus einzuliefern.

Man könnte darüber schreiben, welche Spuren sie in der Musikgeschichte und Popkultur hinterlassen hat, wie sie Billie Holiday, Janis Joplin und andere große Sängerinnen inspirierte, wie sie J. D. Salinger oder Edward Albee zu Kurzgeschichten bzw. Theaterstücken animierte, wie sie in Songs (etwa von The Band) und Filme („Bessie“ mit Queen Latifah in der Hauptrolle) Eingang fand.

Aber alle biographischen Daten und kulturgeschichtlichen Fakten, mögen sie noch so spektakulär sein, bleiben letztlich sekundär, verblassen vor der schieren Kraft dieser rauen, dunklen Stimme. Besonders eindrucksvoll zu erleben ist das in „Muddy Water“. Wie viele Emotionen, Stimmungen, atmosphärische Nuancen Smith hier in drei Minuten transportiert – Melancholie, Sehnsucht, Stolz, Mut, sexuelle Spannung, Lebenslust – beeindruckt bis heute, selbst wenn die Musik für unsere Ohren zahm, vielleicht sogar fad klingen mag. Im Mittelpunkt steht hier der Gesang, ehrfurchtgebietend und unaufhaltsam wie der Mississippi selbst.

Obwohl Smiths Stimmgewalt sich bestimmt auch langjähriger technischer Schulung und Praxis verdankt, kommt sie doch ohne jene an Hochleistungssport erinnernde Vokalakrobatik aus, die vielen zeitgenössischen Mainstream-„R’n’B“ oder -„Soul“ so unerträglich macht, von der deprimierenden Castingshow-Kraftmeierei ganz abgesehen. Und das ist ganz ohne Kulturpessimismus gemeint!

Weitere Anspieltipps: Wasted Life Blues, Back Water Blues, Downhearted Blues

Wahre Liebe

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 27:
DAVE ALVIN & JIMMIE DALE GILMORE – DOWNEY TO LUBBOCK (2018)

Ich kann mich noch an den Abend erinnern, als ich zum ersten mal das Zombie-Slasher-Roadmovie „From Dusk Till Dawn“ gesehen habe. Die Titelsequenz ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Nach einem missglückten Stopp beim Schnapsladen steigen die Gangster-Brüder Seth und Richie Gecko streitend wieder in ihren staubigen Schlitten ein, während die Bude hinter ihnen in Flammen aufgeht. Welch ein furioser Einstieg! Der Ältere fährt, Seth drückt aufs Gas und der Titelsong „Dark Knight“ ertönt. Er gibt den Ton für den gesamten weiteren Film vor.

Der Name der Band, „The Blasters“, hat sich mir gleich eingeprägt, lange war mir aber nur dieser eine Song bekannt. Erst Jahre später, passenderweise in einem Innsbrucker Kellerlokal, hörte ich wieder einen Song in diese Richtung, eine stampfende Coverversion des Bob Dylan-Klassikers „Highway 61 Revisited“ – und zwar von Dave Alvin. Bald hatte ich herausgefunden, dass Dave Alvin Gitarrist der Blasters war und ich habe begonnen, mehr Blasters und Dave Alvin mit seiner Band The Guilty Ones zu hören. Später brachte sich Blog-Kollege Michael dann noch mit dem Album „Common Ground“ von Dave & Phil Alvin ein, einer Sammlung von Big-Bill-Broonzy-Coverversionen, interpretiert von Dave Alvin mit Bruder Phil, ebenfalls Teil der Blasters. Nebenbei gab es noch viel andere Musik zu entdecken, die ähnlich auf mich wirkte: Jason & The Scorchers, Green On Red, Roky Erickson und Justice Hahn sind einige meiner Favoriten.

Alle genannten Bands teilen die wahre Liebe zu den klassischen Ami-Genres: Country, Rockabilly, Folk, Roots Rock. Jedoch werden nicht nur Klassiker zum Besten gegeben oder seichte Nachahmungen produziert, im Vergleich zu den Originalen wirkt alles etwas roher und oft fetziger und gröber. Sie sind Fans der alten Schule, hatten den überzüchteten Schmalz-Country der 70er- und 80er-Jahre satt, und revitalisierten die in Jahre gekommene Cowboy-Musik mit einer ordentlichen Portion Punk-Attitüde, ähnlich wie es zur selben Zeit die Ramones mit Rock’n’Roll- und Pop-Songs machten. Der Cow Punk war geboren!

Doch nun zum eigentlichen Track der Woche: „Downey to Lubbock“ vom gleichnamigen Album. Hier tut sich Dave Alvin mit Jimmie Dale Gilmore zusammen, der mir durch ein herausragendes Townes Van Zandt-Cover bekannt ist. In Gilmores Version von „White Freight Liner Blues“ wird das Getöse auf dem Highway nicht durch die Fidel nachgeahmt, sondern durch eine höllisch schnelle E-Gitarre und Lapsteel. So haucht er dem Song wiederum Lebendigkeit ein, ohne die Grundstimmung abzuändern.

Die Kombination Alvin/Gilmore macht Sinn, ein Roots-Rock-Album von zwei Veteranen – und das im Jahr 2018. Alles etwas ruhiger als in der wilden alten Zeit, aber gekonnt fetzig und keineswegs altbacken kommt der Album-Opener „Downey to Lubbock“ daher. Die Seele der Musik ist dieselbe, auch wenn sich das Gewand verändert hat.

Viel Spaß!

Weitere Anspieltipps:

  • The Blasters – Boomtown (Non Fiction, 1983)
  • Green On Red – Hair of the Dog (Gas Food Lodging, 1985)
  • Jason & The Scorchers – Lost Highway (Lost & Found, 1985)
  • Roky Erickson – Don’t Slander Me (Clear Night for Love, 1985)
  • Jimmie Dale Gilmore – Weight Freight Liner Blues (Fair & Square, 1988)
  • Justice Hahn – Lucky Ladies (Ragged But Right, 1991)
  • Dave Alvin – Johnny Ace Is Dead (Eleven Eleven, 2011)
  • Dave Alvin & Phil Alvin – Stuff They Call Money (Common Ground, 2014)

Noch mehr Bla Bla (Bla) über Nirvana

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 26:
NIRVANA – VERY APE (1993)

Bereits in meinem letzten Track der Woche spielten Nirvana eine nicht unwesentliche Rolle. Einige Monate später (ja, ich war sehr, sehr schreibfaul) stolpere ich über die nächste Kuriosität rund um die Band. Kurios auch deshalb, weil ich die Band eigentlich nur äußerst selten bewusst höre und auch keine starke Meinung zu ihrer Musik habe, weder in die eine noch in die andere Richtung. Aber einen Bogen um deren Klänge, Mythen und Anekdoten zu machen ist eh so oder so unmöglich, wie sich erneut zeigte. Aber ich greife vor.

Die Versuchung war groß, diesen Beitrag „Gut geklaut ist besser als schlecht erfunden, Teil 2“ zu nennen, aber eigentlich geht es nicht um Klauen. Es geht um Sampling. Nur ewiggestrige Puristen würden es heutzutage noch wagen, Sampling grundsätzlich als Ideendiebstahl zu bezeichnen. Nicht wenige der besten und prägendsten Werke zeitgenössischer Musikgenres leben von kreativer Samplingarbeit. Und oft muss es auch buchstäblich nervenaufreibende Arbeit sein, bekannte wie auch irrsinnig obskure Samplequellen in einem neuen Kontext zu positionieren oder sie teilweise bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Augenscheinlich irrelevante Sekundenbruchteile werden zum tragenden Fundament eines neuen Songs, Gesangspassagen fungieren plötzlich als Percussion, uralte fremdartige Folklore schleicht sich ent-fremdet (sic!) via weltbekannter Pophits in westliche Gehörgänge, alles ist möglich.

Hier noch ein kleines Stück Musik-Trivia, das mittlerweile lange schon kein Geheimnis mehr und vielen Leuten bekannt ist. Ich zeige und erzähle es trotzdem immer wieder gerne. Die britischen Blues-Rocker von Stretch waren von 1974 bis 1979 aktiv und in dieser kurzlebigen Karriere waren sie zwar sehr fleißig und produzierten unter anderem vier Studioalben, ihr einziger wirklicher Erfolg blieb jedoch die Single „Why Did You Do It?“ aus dem Debutalbum „Elastique“. In 2011, also beachtliche 32 Jahre nach der Auflösung, versuchten sie es erneut mit dem bezeichnenden Albumtitel „Unfinished Business“, erneut mit mäßigem Erfolg, trotz einer Neuauflage von „Why Did You Do It?“. In der Zwischenzeit – und davon gab es wie gesagt reichlich – vergriff sich allerdings auch eine weitere Person am Originalmaterial, und zwar kein Geringerer als Gigi D’Agostino. Man beachte in der Originalversion die Gesangspassage ab 2:31. Nicht die ganze Passage, die ersten zwei Sekunden reichen eigentlich schon. Und hier gibt‘s des Rätsels Lösung, falls die Nostalgiebombe nicht schon längst einschlug. Genau sowas meinte ich in der Einleitung mit kreativem Sampling und originellem Quellenmaterial.

Die Story an sich war mir schon lange bekannt, aber die beiden einzelnen Songs waren es noch länger. Und genau darum geht es hier, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen und eine total bekannte Samplequelle nicht schon längst als solche erkannt zu haben. Und vielleicht ist das folgende Stück Musik-Trivia sogar wesentlich bekannter als das von gerade eben und ich stand bloß mein ganzes bisheriges Leben lang mächtig auf der Leitung, jedenfalls kommen wir nun zurück zu Nirvana. 1993 erschien ihr letztes Studioalbum „In Utero“, und mittig eingebettet zwischen mehreren Kulthits findet sich dort auch der Song „Very Ape“. Rotzige zwei Minuten mit nicht minder rotzfrechem Text. Fast exakt ein Jahr später sollte dessen Eingangsriff auf einer der bekanntesten Big Beat Scheiben aller Zeiten gesampled werden:

Im Gegensatz zur ersten Anekdote kann man hier vielleicht nicht von der am kreativsten und cleversten implementierten Samplingarbeit aller Zeiten sprechen. Aber gerade deshalb ist es ein totales Rätsel, wie diese Sache jahrelang unbemerkt an mir vorübergehen konnte, obwohl ich vor allem die dutzenden, teilweise sehr guten Remixe vom The Prodigy Track extrem oft gehört habe. Ich wiederhole die Schlussworte meines letzten Tracks der Woche: Wenn man tief genug gräbt stößt man gewiss auch auf weitere Beispiele. Vielleicht sind der Leserschaft sogar einige bekannt?

Von der schäbigen Würde des „Eierkicks“ – endlich ein guter Fußballsong!

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 25:
DER NINO AUS WIEN – UNENTSCHIEDEN GEGEN RIED (2018)

Fußball und Musik – das ist nicht unbedingt eine fruchtbare Beziehung.

Dabei sind sich die Kickerei und die alternative Popkultur heute wahrscheinlich näher denn je. Längst hat das Thema Fußball Kreise erreicht, die sich jenseits aller negativen Begleiterscheinungen des Weltsports Nummer eins (Rassismus, Nationalismus, Kommerz, Korruption, Katar) intensiv mit Fußballkultur auseinandersetzen. Und zwar mit Humor und Enthusiasmus, aber ohne den intellektuellen Dünkel und die Verachtung, mit der man dem Phänomen früher im (Hoch-)Kulturmilieu oft begegnete.

Alternative Fußballmagazine wie 11 Freunde und Ballesterer oder auch die Fußballanalysen von Martin Blumenau auf FM4 mögen als deutschsprachige Beispiele für diesen Paradigmenwechsel genügen. In England stehen sich Pop- und Fußballnerds ohnedies schon viel länger nahe (Paradebeispiel Nick Hornby, der beides in Personalunion verkörpert).

Und es ist auch nicht so, dass im Kontext von Fußball grundsätzlich keine gute Musik vorkommen würde: Die Soundtracks zur FIFA-Computerspielreihe präsentieren sich beispielsweise schon seit den fernen Tagen, als ich mich noch für Games (und Vereinsfußball) interessiert habe, stets spannend, weltoffen und am Puls der Zeit. Die 19er-Ausgabe enthält z.B. Tracks von so formidablen KünstlerInnen wie Courtney Barnett, Gorillaz, Jungle, Death Cab For Cutie, den Crystal Fighters, Bob Moses, den Young Fathers oder Childish Gambino. Passt!

Umso erstaunlicher ist es, dass es nach wie vor sehr wenige brauchbare Lieder über das Thema Fußball selbst gibt. Dazu muss man nur in die Stadien hineinzuhören: Dort dominieren – so weit ich das noch mitbekomme – bis heute stumpf stampfender Stadionrock (der Begriff kommt nicht von ungefähr), patriotischer Befindlichkeitsschlager oder, wenn man an die Sprechchöre denkt, (mehr oder) weniger gelungene Verballhornungen von Klassikern der Popgeschichte.

Mich würde z. B. nach wie vor interessieren, was Jack White eigentlich darüber denkt, dass sein Riff zu „Seven Nation Army“ auf seltsamen Wegen zu einem DER globalen Fußball-Schlachtgesänge wurde. Ein AMI und Fußball, das geht aus Sicht des Durchschnittsfans ja eigentlich gar nicht zusammen! Interessieren würde mich außerdem, ob Welthits wie „Yellow Submarine“ oder „Those Were The Days“ von den Fans nach wie vor dazu herangezogen werden, die sexuelle Orientierung des gegnerischen Spielmachers in Frage zu stellen oder die unterlegene Mannschaft zum „nach Hause geh’n“ aufzufordern.

Witzig-absurde Adaptionen wie die Umdichtung des 90er-Jahre-Eurotrash-Klassikers „Freed from Desire“ von GALA auf „Will Grigg’s on Fire“ durch die sangesfreudigen nordirischen Fans („Will Grigg’s on fire / Your defence is terrified“ …) bleiben leider nach wie vor die Ausnahme von der stumpfsinnigen Regel. 

Noch zweifelhafter sind die Ergebnisse eigentlich nur, wenn Fußballer sich bemüßigt fühlen, selbst zum Mikrofon zu greifen. Und da muss man gar nicht mal an die kroatischen Kicker denken, die heuer zusammen mit dem rechtsextremen Rocker Thompson sangen und abfeierten. Auch die, ähem, historischen Auftritte von Franz Beckenbauer oder gar dem Chor der österreichischen Sportreporter (sic!) sind mit Worten wie „jenseitig“ am besten beschrieben (aber zumindest irgendwie lustig, was man von Thompson nun wirklich nicht behaupten kann). „Nachtfalke“ Hans Krankl alias Johann K. zählt in der Zunft der singenden Fußballer jedenfalls noch zu den Höhepunkten.

Die sogenannten WM- und EM-„Hymnen“ wiederum zeichnen sich vor allem durch ihre absolute Austauschbarkeit und Harmlosigkeit aus – und sind schneller wieder vergessen, als man „abseitsverdächtig“ sagen kann. „Live it Up“, anyone?

Am ehesten kann man sich hier vielleicht noch an die (auch recht nervige und seither mehrfach recycelte) Sportfreunde-Stiller-Nummer „’54, ’74, ’90, 2006“ erinnern, die immerhin von echter Leidenschaft für die Thematik zeugte. Die Sportis tragen ihr Interesse an Athletik schließlich schon im Bandnamen – und der Titel ihres (noch durchaus coolen) Debütalbums „So wie einst Real Madrid“ (2000) spricht ebenso für sich. Genau wie der Name einer weiteren Band von Sportfreunde-Drummer Florian Weber: Bolzplatz Heroes. Ach ja, und einen weiteren Fußballhit namens „Ich, Roque“ (feat. den paraguayischen Kicker Roque Santa Cruz) hatten die Stillers auch. (Danke an Julian D. für die Erinnerung).

Aber wo bleiben nun die WIRKLICH guten Fußball-Lieder? Außer dem ebenso unverwüstlichen wie offensichtlichen „Three Lions (Football’s Coming Home)“ der englischen Alternative-Band The Lightning Seeds oder dem kitschverdächtigen „You’ll Never Walk Alone“ von Gerry and the Pacemakers (ebenfalls aus Liverpool) fällt einem da spontan nicht viel ein. Vielleicht noch der deutsche Rapper Marteria/Marsimoto, in seiner Jugend selbst deutscher Nationalkicker, der immer wieder für Sport- und Fußballmetaphern gut ist, derzeit etwa im Hit „Champion Sound“ gemeinsam mit Casper.

Das einzige wirklich coole Lied über Fußball, das ich bis vor Kurzem kannte, stammt von der französischen Formation Mickey 3D und dreht sich um den (mir unbekannten) ehemaligen holländischen Fußballstar Nicolas „Johnny“ Rep, der u. a. gemeinsam mit Michel Platini bei St. Etienne kickte – wie auch dem mitreißenden Kommentatorensample im Song zu entnehmen ist.

Doch jetzt gibt es endlich ein weiteres, rundum gelungenes Lied über das, ähem, runde Leder! Der Song stammt aus Österreich, genauer gesagt von Der Nino aus Wien, und trägt den ziemlich großartigen Titel „Unentschieden gegen Ried“, der eigentlich schon alles aussagt.
Hier geht es nicht um die große, glitzernde, von Pathos und Drama erfüllte Fußballwelt, nicht um die Champions League, ja nicht einmal um die Europa League, sondern um den deutlich weniger glamourösen (Fußball-)Alltag in den Untiefen der Heimat: „Eierkick“, „Wiener Liga“, raunzende Altfans, die „Hearst spü eahm, gib eahm, renn a bissl schnölla mitm Boi“ brüllen und zugleich dem „Ogerl“ oder dem „Kurtl Jara“ nachtrauern – das ist der Stoff, aus dem dieses Lied gemacht ist.

Schon im wunderbaren „Praterlied“ hatte Nino genau diese Form der Alltagspoesie perfektioniert: Leberkas, Dosenfisch und „Gösserbier“, beim Nah & Frisch erworben – so etwas erzählt einfach viel mehr über das tägliche Leben in Österreich als irgendwelche geschraubt-pathetischen Texte über große Gefühle. Und Ninos Fußball-Affinität wurde darin auch schon deutlich, u. a. in der perfekt ins Kreuzeck gezirkelten Zeile „Zhaus spüst ab bissl FIFA und valierst“. Der Alltag ist halt meistens eher Regionalliga als Champions League – deshalb heißt er ja Alltag.

Genau diesem tristen Alltag Witz und, ja, auch Würde abzugewinnen, gelingt Nino in „Unentschieden gegen Ried“ ein weiteres Mal – und ein richtiger Ohrwurm ist das Ganze obendrein. Auch auf die Gefahr hin, nun fünf Euro ins Phrasenschwein werfen zu müssen, bleibt mir als Matchbericht nur Folgendes zu sagen: ein Volltreffer!

Sixteen Miles High. Oder: So muss Cover!

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK(S) DER WOCHE, # 22:
THE BYRDS – EIGHT MILES HIGH (1966)
HÜSKER DÜ – EIGHT MILES HIGH (1984)

Was macht eine gute Coverversion aus? Irgendein kluger Kopf, der von einem anderen klugen Kopf im Musikexpress zitiert wurde (wo ich wohl nicht ganz so kluger Kopf das Ganze dann gelesen habe), meinte einmal sinngemäß, eine gute Coverversion müsse entweder ganz nahe am Original sein oder aber völlig anders klingen.

Tatsächlich zeichnen sich viele mäßige bis schlechte Coverversionen (und daran herrscht nun wahrlich kein Mangel) dadurch aus, dass sie entweder einzelne Aspekte des Original besonders (über)betonen oder aber meinen, unbedingt ein bestimmtes Einzelelement hinzufügen zu müssen. Das resultiert dann oft in zusätzlichem Pathos, „kraftvollerem“ oder „souligerem“ Gesang, fetteren Gitarren, dickerer Produktion oder dem Einfügen von ein paar unmotivierten Beats. Und am Ende merkt man dann nur allzu oft, dass auf diese Weise dem Original rein gar nichts hinzugefügt wurde.

Ein Paradebeispiel für eine höchst gelungene Coverversion, die eindeutig aus Kategorie zwei stammt (= klingt völlig anders), soll im Rahmen des heutigen Tracks der Woche präsentiert werden. Aber zuerst ein paar Worte zum Original:

Denn „Eight Miles High“ (1966) von den Byrds ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Track. So gilt er vielen als eines der ersten – wenn nicht DAS erste einflussreiche – Beispiel für das bis heute vielgeliebte und wirkmächtige Genre des Psychedelic Rock (wobei zugleich, vor allem in den Gesangsharmonien, auch die Verwurzelung im zeittypischen Folk-Rock noch sehr deutlich zu spüren ist). Generell handelt es sich hier um einen jener kostbaren Songs, die tatsächlich exemplarisch für ihre Zeit stehen – in diesem Fall für das allgemeine Streben nach neuen Erfahrungen, für die Suche nach unbekannten Klangwelten, für das Interesse an anderen Kulturkreisen, für einen musikalischen Entdeckerdrang, für ein globales „Kalifornien“-Feeling, das mit Geographie nur wenig zu tun hat. Ach ja, und natürlich auch für die bewusstseinserweiternden Drogen – was der Nummer einst sogar einen Radiobann in den USA bescherte.

Ganz konkret manifestierte sich diese Neue Offenheit (um mal ein griffiges Schlagwort zu kreieren) im Fall von „Eight Miles High“ in den ungewöhnlichen Klangfarben, die auf die Pophörer der damaligen Zeit wirklich unerhört und revolutionär gewirkt haben müssen: Zentralen Einfluss auf die Arrangements übten nachgewiesenermaßen der modale, futuristische Jazz von John Coltrane und die Musik des indischen Sitar-Gurus Ravi Shankar aus – beide liefen damals im Tourbus von Gene Clark, Jim (= Roger) McGuinn und David Crosby auf heavy rotation. In „Eight Miles High“ versuchte McGuinn unter anderem, das freitönende Saxofonspiel von Coltrane auf seiner 12-saitigen Rickenbacker-Gitarre nachzuempfinden – was besonders im ikonischen, grandios disharmonischen Solo zum Tragen kommt. (Auf der B-Seite „Why“ wiederum sollte die Gitarre wie eine Sitar klingen, hat mir Wikipedia erzählt).

Zusammen mit den im selben Atemzug anspielungsreichen UND mystischen Lyrics (die von einem Flug der Byrds nach England und ihren dortigen Tourerlebnissen inspiriert waren; die erwähnte „rain grey town known for its sound“ ist das London zu Zeiten der British Invasion) ergibt das einen der schönsten und zugleich rätselhaftesten Songs der Hippie-Ära.

Live wurde das Lied, auch das zeittypisch, gerne in ausufernde, bis zu 15 Minuten lange Jams überführt, zu denen es sich bestimmt wunderbar allerlei fantasieanregendes bzw. -benebelndes Zeug rauchen und einschmeißen ließ. Als Beispiel möge die folgende, schon aus der Post-Hippie-Ära stammende Instrumentalversion (1970) dienen, die die Byrds auf der Höhe ihrer hypnotisierenden Meisterschaft zeigt: virtuos, aber zum Glück nicht pompös.

Trotzdem kann man angesichts des endlosen Gejammes auch irgendwie nachvollziehen, wieso gut ein halbes Jahrzehnt später fast zwangsläufig die Punk-Revolution in den USA und danach in England ausbrechen musste, was sie angetrieben hat, warum es nach der psychedelischen Revolution dringend eine neue brauchte: hart und laut, direkt und brachial, bitter und bissig, (mindestens acht) Meilen weit entfernt vom Summer of Love.

Kinder dieses schäbigen, zugleich befreienden Punk-Spirit waren auch Hüsker Dü, 1979 in St. Paul, Minnesota, formiert – und heute weithin als eine der bedeutendsten 80er-Jahre-Bands zwischen Hardcore Punk, Noise Rock und dem aufkeimenden Alternative Rock anerkannt.

1984 legten Bob Mould, Grant Hart und Greg Norton eine atemberaubende Neudeutung von „Eight Miles High“ vor: die Gitarren verzerrt und übersteuert, Moulds Gesang urschreiartig herausgebrüllt und kaum zu verstehen, die Produktion rau und lo-fi, die Energie roh und wild, der Gesamteindruck jener von Verzweiflung und einer emotionalen Intensität, die fast alles, was sich heute „emotional“ nennt (oder vor ein paar Jahren gar „Emo“ schimpfte), nur als selbstmitleidiges, hohles Gepose entlarvt.

Dass Hüsker-Dü-Hörer offenbar sensible, intelligente Menschen sind (ähnlich wie Mastermind Bob Mould selbst, der bis heute tolle Soloalben abliefert), zeigt sich übrigens sogar in den Kommentaren auf YouTube, deren Lektüre in diesem Fall ausnahmsweise lohnenswert ist. Zur kongenialen Coverversion von „Eight Miles High“ heißt es dort unter anderem:

Somehow this burst of noise captures the emotion of this tune so well.

A way more realistic take on the drug issue. Not everyone has good trips. This is the king god hell version of a BAD trip.

Just the primal screaming in it sums it up for me. I think Bob also has had an issue with the whole „Summer of Love“ thing …

Auch hierzu möchte ich euch noch eine feine Liveversion (1987) ans Herz respektive Ohr legen. Mit dem ungleich klareren Gesang ist sie freilich schon näher am Alternative Rock ihrer Zeit als am Lofi-Noise der „Studioversion“. Aber Hüsker Dü hatten eben immer auch ein Herz für große Melodien unter all dem Lärm. Und vielleicht ist die ganze vielbeschworene ideologische Gegnerschaft zwischen „Hippies“ und „Punks“ ohnehin eine sehr gestrige Betrachtungsweise. Am Ende zählt ja doch nur, dass Musik etwas in uns berührt und auslöst. Klinge ich jetzt wie ein Hippie?

Doch das letzte Wort soll einmal mehr einem YouTube-Nutzer gehören, der im Bezug auf Hüsker Düs alles mit- und niederreißende „Eight Miles High“-Version lakonisch meint:

As covers go this pretty much covers it!