Huch!, schon wieder ein Jahr weg … Ein Jahr, in dem sich weltpolitisch die Ereignisse überschlagen haben – während dieser Blog hier, positiv formuliert (ich glaub, „positiv“ darf man jetzt wieder sagen), eine Oase der Stille war. Weniger positiv formuliert: So wenig wie heuer ist hier überhaupt noch nie passiert und das will angesichts der ebenfalls nicht übertrieben produktiven Vorjahre schon was heißen.
Nicht einmal mein Bericht zum tollen Konzert der Düsseldorf Düsterboys in der „Bäckerei“ zu Innsbruck ist je online gegangen – auch weil ich, so viel sei zu meiner Entschuldigung gesagt, die versprochenen Fotos nie erhalten habe (pfui!). Und auch Jahrescharts-technisch schaut es düster aus – bis man sich einen einigermaßen repräsentativen Überblick über das abgelaufene Popjahr gemacht hat, ist das nächste schon wieder fast vorbei, seufz. Das traurige Los des Sorgfältigen. Ob ich die Jahrescharts 2022 (und, Asche auf mein Haupt, auch die Jahrescharts 2021) noch irgendwann nachreichen werde – wer weiß das schon?
Als kleinen Ersatz gibt es hier, ungewohnt pünktlich, 22 Songs aus dem Jahr ’22, die bei mir positiv hängen geblieben sind – in willkürlicher Reihenfolge und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit oder Jahreschartscharakter. Trotzdem: Viel Vergnügen!
PANDA BEAR, SONIC BOOM – EDGE OF THE EDGE
Mit Panda Bear (dem mit Abstand talentiertesten „Viech“ des Animal Collective) und Sonic Boom (von den Drogenfressern Spacemen 3) haben sich die Richtigen gefunden. In diesen süßen psychedelischen Harmonienebeln geht man gerne verloren.
ANIMAL COLLECTIVE – WE GO BACK
Apropos: Animal Collective kommen mir manchmal vor wie ein Rudel Kinder, das man in einen Raum voller Klangerzeuger gesteckt hat, wo die viel zu munteren Kleinen dann alle verfügbaren Knöpfchen und Tasten drehen und drücken – und zwar alle gleichzeitig. Zu viele Einfälle in zu kurzer Zeit (dieser Befund gilt auch für andere akustische Zappelphilippe wie etwa Black Midi). Aber manchmal erwischt einen das Kollektiv dann doch genau auf dem richtigen Fuß. So wie mit diesem kleinen, großen Trip.
ALDOUS HARDING – LEATHERY WHIP
Seltsam, verspult, neben der Spur, zugleich unwiderstehlich eingängig – wie macht das die multitalentierte Neuseeländerin Aldous Harding bloß? Wenn die Lederpeitsche des Lebens so zischt wie dieser im besten Sinne schräge Ohrwurm, dann nur her damit!
DORA JAR – IT’S RANDOM
Ich sage mal: Wer Aldous Harding mag, mag auch Dora Jar. Genauso verschroben, wendungsreich und hochbegabt. Wie viele gute Ideen passen eigentlich in kaum zweieinhalb Minuten?
THE BURNING HELL – BIRDWATCHING
Vögel zu beobachten, gilt gemeinhin als entschleunigende Aktivität, bei der man einen langen Atem und viel Geduld braucht. Dieser Song über Vogelbeobachtung ist das genaue Gegenteil: schnell, kurz – und witzig: „While everybody else is busy / Polishing their coffins / We’ll be mixing Cosmopolitans / And Birdwatching.“
KOCHKRAFT DURCH KMA – INFLUENCER:INNEN HASSEN DIESEN TRICK … (mit Liser)
Der erste Song mit Gender-Doppelpunkt im Titel, den ich kenne. Und auch gleich der beste! Den Bandnamen kapiere ich zwar nicht, ebensowenig den Songtitel. Aber das Ding hat Punch, hat Kanten und fährt ein – alles Qualitäten, die in der aktuellen Musiklandschaft allzu dünn gesät sind. Und „Ein Leben lang / Hampelmann“ ist einfach ein guter Refrain. Note to self: Mehr Musik aus der BRD hören!
LOEWELOEWE – STOP LIFT STOP
Das „Verschwende deine Jugend/dein mittleres bis höheres Alter“-Lebensprinzip von Wanda bleibt richtig, wichtig und sympathisch; musikalisch bin ich aber spätestens seit diesem Ö3-Hit über den TV-Kommissar raus. Die schönste Wanda-Nummer 2022 stammte auch nicht von Wanda, sondern von ihrem heuer tragischerweise mit nur 32 Jahren nach schwerer Krankheit verstorbenen ehemaligen Keyboarder Christian Hummer und seinem Projekt Loeweloewe. Nonchalant gesungene Zeilen wie „Lass mich raus, ich hab noch so viel zu tun“ oder „Ich will endlich wieder Licht sehen“ bekommen im Nachhinein eine ganz andere, berührende Bedeutung.
YEAH YEAH YEAHS – SPITTING OFF THE EDGE OF THE WORLD (feat. Perfume Genius)
Das Comeback-Album der Nullerjahre-New-Yorker soll insgesamt nicht so berauschend sein, diese Vorabsingle zündet aber gleich beim ersten Hören – obwohl oder gerade weil es Karen O hier im Vergleich zu früher ruhiger und melancholischer angehen lässt.
LOS BITCHOS – LINDSAY GOES TO MYKONOS
Als „instrumental psychedelic sunshine cumbia“ bezeichnet die all-female-Band (muss man das heute eigentlich noch als Besonderheit betonen?) ihren Stil selbst. Das Wörtchen „Surfrock“ sollte man vielleicht noch ergänzen.
TOCOTRONIC – ICH TAUCHE AUF (feat. Soap&Skin)
Für das Pathos der mittleren bis späten Tocotronic ist man nicht jeden Tag gleich empfänglich – aber dieses Duett (um mal ein gefürchtetes Wort auf früheren Popjahrzehnten zu reaktivieren) mit der immer superen Soap&Skin ist, äh, immer super.
GORILLAZ – CRACKER ISLAND (feat. Thundercat)
Wahnsinnig spannend war das nicht, was die Gorillaz zuletzt so abgeliefert haben. Mal schauen, was das neue Album „Cracker Island“ (2023) bringt. Die erste, gleichnamige Single ist zumindest einmal vom Feinsten: Damon Albarn hat nicht verlernt, wie man „Banger“ buchstabiert. Und Thundercat gewährleistet an gscheidn Groove.
CARI CARI – ZDARLIGHT 1992
Hausmarke, was das stilsichere österreichische Duo hier serviert. Und damit sehr fein zu hören.
BENJAMIN CLEMENTINE – DELIGHTED
Der Brite mit ghanaischen Wurzeln gilt als launisches Genie – und denkt angeblich daran, nach einem weiteren Album 2023 die Musik an den Nagel zu hängen. Wäre schade um so viel Prätention, Exzentrizität und schiere Brillanz.
BUILT TO SPILL – UNDERSTOOD
„Strange“, „Conventional Wisdom“ – das sind glaub ich die einzigen beiden Songs von Built to Spill, die ich bislang kannte. Beide unaufdringlich großartig, passend für eine Band, die stets unter dem Hype-Radar unterwegs war. Zum Glück! Das aktuelle Album „When The Wind Forgets Your Name“ ist, nach dem ersten Durchhören zu schließen, eines der allerschönsten 2022. Und „Understood“ ein heißer Kandidat für die Top 10 der Jahrescharts, falls ich diese denn jemals … blabla, siehe oben.
SUDAN ARCHIVES – SELFISH SOUL
Ob das Beyoncé-Album wirklich so toll ist, wie alle tun, oder doch nur fett produzierter Multimillionärs-R’n’B? Keine Ahnung. Im Zweifelsfall lieber Sudan Archives hören, ist bestimmt die zehnmal spannendere Alternative.
MIDLAKE – MEANWHILE …
Meanwhile, in a secret room. Midlake sind auch so eine tolle Band der frühen Nullerjahre, die man schon ganz vergessen hatte. Album muss ich erst checken, aber das hier klingt schon mal so wohlig-harmonisch wie damals … anno 2005 (oh Gott!).
VOODOO JÜRGENS – ZUCKERBÄCKER
Ob Voodoos Lieder nun autobiographisch grundiert sind oder aber Geschichten aus einer versunkenen Wiener Halbwelt, die so eh nie existiert hat (oder beides), macht keinen Unterschied. Wer solche Melodien aus dem abgewetzten Ärmel schüttelt, hat so oder so gewonnen.
3RD SECRET – DEAD SEA
Angenehm aus der Zeit gefallen und weit jenseits all dessen, was heute trendet: So klingen die Lieder dieser Supergroup aus Grunge-Überlebenden (Soundgarden, Nirvana, Pearl Jam), angeführt von zwei Sängerinnen. Originalitätspreis gibt’s keinen, aber geht ja auch mal ohne.
ARAI – LITTLE STUPID BOY
Kennt ihr das auch? Lieder, bei denen euch ein Teil super gefällt, während euch andere Teile desselben Songs furchtbar auf die Nerven gehen? Bei mir ist es z.B. so mit The Weeknd und seinem Hit „Gasoline“: schöne melancholische Strophe, dann aber ein schmieriger Refrain, bei dem es mir die Haare aufstellt – und nicht von wegen Gänsehaut. „Little Stupid Boy“ von ARAI (über den ich nichts zu berichten weiß) ist das Gegenstück dazu: Die ungelenk sprechgesungene Strophe geht mir schon nach drei Sekunden auf den Zeiger, die ölige Bridge macht es nicht besser – aber dann folgt wie aus dem Nichts ein derart treffsicherer Refrain, dass man ihn tagelang nicht mehr aus dem Gehörgang kriegt. Wetten?
THE DÜSSELDORF DÜSTERBOYS – DAS ERSTE MAL
International Music sind die derzeit womöglich beste deutsche Band – und die Düsterboys mehr als nur ein Nebenprojekt dieser formidablen Formation. Beim Konzert in Innsbruck (siehe mein eingangs geäußertes Gejammer) war die Hipster-Hütte voll. Voll womit? Mit Recht. Am besten gefällt mir die fast schon sakral-kirchenmusikalische Aura dieser seltsamen, immer etwas neben der Spur dahineiernden Gesänge.
ALELA DIANE – HOWLING WIND
Aufs erste Durchhören hat mich das aktuelle Album der herausragenden Alternative-Folk-Songwriterin nicht wirklich umgehauen. Aber diese charaktervolle Stimme ist und bleibt eine Macht.
DEAD CROSS – REIGN OF ERROR
Ein Rausschmeißersong muss sein, wie ein Rausschmiss eben so ist: kurz und heftig. Mike Patton weiß, wie so was geht.
Sodala, das war’s fürs Erste. Ich wünsche euch allen ein möglichst fades und ereignisarmes Jahr 2023, auf dass wir alle miteinander wieder mehr zum Musikhören kommen mögen. Und was die unfinished Jahrescharts betrifft: Fortsetzung folgt. Oder doch nicht?