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In der Gewalt der Wortgewalt

Konzertbericht: GEWALT und TEXTA, Bogenfest Innsbruck, 19. Mai 2024

Es war ein starkes Zeichen: Das alternative, subkulturelle Innsbruck ist noch am Leben, trotz schwieriger Zeiten, trotz in den letzten Jahren stetig schwindender Flächen – vom Hafen über den Weekender und die Junge Talstation (hier besteht noch Hoffnung) bis hin zu Clubs wie Dachsbau und Cubique. Schon zum dritten Mal schlug das Bogenfest, organisiert vom Innsbruck Marketing und dem Kulturverein Bögen (nebst zahlreichen Vereinen und Initiativen, die in den Viaduktbögen angesiedelt sind), voll ein, mit Tausenden BesucherInnen, entspannter Atmosphäre und einem ganz schön bunten Gesamtbild.


Copyright: Gewalt

„A mords Zuagang“, dachte man sich unwillkürlich – und war damit in Gedanken gleich bei Gewalt. Nämlich der gleichnamigen Berliner Band, die beim Bogenfest ihr erstes Livekonzert dieses Jahres bestritt – und schon beim Namen ein Statement setzt: Harmlos-bequem und gemütlich ist hier nichts.

Dafür bürgt ein Name: Patrick Wagner. Wer wie ich ein lebendes Relikt seliger, prägender Viva-2-Zeiten ist, muss sofort an Wagners seinerzeitige Band „Surrogat“ (1994 bis 2003) denken, die als einnehmend größenwahnsinnig und polarisierend im Gedächtnis blieb. So ließ sich Wagner auf dem finalen „Surrogat“-Album für die titelgebende, etwas andere Hardrock-Nummer „Hell in Hell“ vom legendären Boxer René Weller (im Vorjahr verstorben) zu denkwürdigen Zeilen inspirieren: „Wir sind immer oben, und wenn wir unten sind, ist unten oben.“ Das saß.

Zu Unten und Oben dürfte Patrick Wagner, während und nach der „Surrogat“-Ära, auch persönlich einige Erfahrungen gemacht haben, doch das interessiert hier nicht. Was umso mehr interessiert, ist Wagners aktuelle Band „Gewalt“, zuhause im weiten und wilden Feld zwischen Noiserock und Postpunk. „German Wut Wave“ lautet eine Eigendefinition – und die passt wie die Faust aufs Auge.

Im Trio mit Gitarristin Helen Henfling und Bassistin Jasmin Rilke präsentiert sich Wagner (Gesang, Gitarre) keineswegs altersmilde oder versöhnlich, im Gegenteil: In Zeiten, in denen auch alternative Musik, vor allem die gitarrenlastige, oft allzu vorhersehbar und stromlinienförmig daherkommt, geht es hier schön schroff, konfrontativ und kantig zur Sache. Das gilt für die Musik ebenso wie die von Wagner repetitiv, gnadenlos und parolenartig hinausgebellten Texte.

Man nehme nur die Single „Deutsch“, mit der „Gewalt“ erstmals in meinem kleinen Kosmos aufschlugen (Jahrescharts 2019) – eine heftige Attacke gegen (selbstge)rechte Politik, Borniertheit und dumpfen Nationalstolz, die es selbstverständlich auch in Innsbruck zu hören gab. Wobei Wagner in der Anmoderation klarstellte: „Und natürlich sei damit ihr gemeint.“

„Deutsch“ sendet, wenn auch musikalisch denkbar anders umgesetzt, eine ganz ähnliche Botschaft wie einst „Attwenger“ mit ihrem Volksmusik-Elektropunk-Agitprop-Klassiker „Kaklakariada“ (womit dann auch der Übergang zum Konzert von „Texta“ geschafft wäre – hurra, aber leider viel zu früh):

„Diese gaunzn patriotn, nationale idiotn / Bitte saz so guad und stöts eich in a schwimmbod aufn bodn / Und pinkelz bis zum hois eich olle gegnseitig au / Und daun tauchz nu amoi unta und daun nemz an schluck davau / Und spukz eich au damit solaung bis dass eich schlecht is von der kacke / Und wählen sie die nummer bitte neben ihrer landesflagge“ hieß es 2002 bei „Attwenger“, gefolgt von einer zeitlosen Abrechnung mit dem „Hausverstand“, mit dessen Hilfe die Kleinkarierten die ganze Welt „in sämtlichen Verzierungen“ erklären zu können glauben.

„Gewalt“ sagen so ziemlich dasselbe, wenn es heißt:
„denk dir deinen teil – du seelenloser, du kleinkarierter, du untertan. D-D-Deutsch!“

In wenigen, drastischen Zeilen kommt hier viel zur Sprache, von Aggression, die in Ängsten wurzelt („ich seh die angst in deinen augen, du fieser mob“) bis zum Zusammenhang zwischen Hass und Hässlichkeit. Letzteres bezieht sich klarerweise nicht auf körperliche Merkmale (dann wären bösartige Menschen ja leicht zu erkennen), sondern ist im Sinne des „hässlichen Deutschen“ / „hässlichen Österreichers“ zu verstehen.

Man sieht schon: Textlich werden bei „Gewalt“ keine Gefangenen gemacht. Es geht immer um uns selbst, es geht immer aufs Ganze. Bei der Anmoderation einer weiteren Nummer, „Guter Junge, böser Junge“, strich Wagner das in Innsbruck selbst hervor: Er habe einen Song schreiben wollen, der alles umfasst, worum es in seinem und unser aller Leben geht. Das Publikum möge nach der Darbietung selbst beurteilen, „ob das gelungen ist“.

Und tatsächlich wird hier in ultrareduzierten, einhämmernden Zeilen (fast) alles gesagt:
„Ich lebe / Du lebst / Wir leben / Das ist Leben“ oder „Ich arbeite / Du arbeitest / Wir arbeiten / Das ist Arbeit“.

Für Humor ist bei allem Existenzialismus auch noch Zeit („Ich bin langweilig / Du bist langweilig
Wir sind langweilig / Das ist Netflix“), ehe es gegen Ende um das Ende geht:
„Ich möchte nicht sterben / Du möchtest nicht sterben / Wir möchten nicht sterben / Das ist Angst vor dem Tod.“

Wagner und „Gewalt“ schonen weder sich selbst noch das Publikum. Da ist ein explizites Lied über den Wunsch nach einem „Jahrhundertfick“ (huch!) statt allzu viel Geschwätz schon fast eine Erleichterung, bevor es erst recht wieder ans Eingemachte geht – so wie in „Nichts in mir ist einer Liebe wert“, das Wagner laut eigener Aussage seinem Vater zu verdanken hat. Kafka, schau oba!

Die Musik dazu fällt ebenso gnadenlos aus: scharfkantig, krachig, mit markanten Laut-Leise-Kontrasten, die auch dem kürzlich viel zu früh verstorbenen Steve Albini ein grimmiges Lächeln aufs Gesicht gezaubert hätten. Bisweilen verspürte man fast Industrial-Vibes (samt elektronischer Eruptionen), wozu auch das Fehlen eines Schlagzeugs beiträgt: Als viertes Bandmitglied geben „Gewalt“ stattdessen „DM 1“ an – eine Drum-Machine.

Das Gute daran: Dieser harte, monotone Im-weitesten-Sinne-Rock kommt ohne männliche Mucker- und Macker-Attitüden (wie man in Deutschland sagen würde) aus, dank Gitarristin Helen Henfling, dem bewundernswert stoischen Gegenpol zum wild gestikulierenden Wagner, und der formidablen Jasmin Rilke am Bass.

Am Ende setzte es, neben kleinen Sticheleien („Klagenfurt, ihr seid großartig!“), erwartungsgemäß noch die tolle neue Single „Trans“: In der geht es nicht nur um Körperpolitik und Selbstermächtigung/Selbsterfindung („Ich hab mich selbst erschaffen, ich bin trans, ich bin trans“) – nein, das Ganze wird nochmals auf ein andere Ebene gehoben: „Ich bin trans / Ich bin trans / Ich bin transzendent.“

Fazit: Mit dem „Gewalt“-Konzert wurde in Innsbruck ein schwerer, dunkler Brocken, ein – im positiven Sinne – Fremdkörper ins Bühnenprogramm des Bogenfestes gesetzt, mitten hinein zwischen partytauglichere Klänge (Electronic Afro-Dub von „Tasheeno“, exaltierter Disco-Pop von Ankathie Koi). Schön, dass dafür Platz war! Oder, wie es Patrick Wagner am Ende selbst sagte: Besten Dank an David Prieth (PMK) für den Mut, die Band zum Bogenfest zu holen.

Damit ging es für mich ans andere Ende der Bogenmeile und an ein anderes Ende im musikalischen Spektrum, nämlich zu Texta aus Linz, Pionieren des österreichischen Mundart-Raps, die zum Abschluss auf der „Block Party Stage“ zu hören waren.

Leider habe ich Texta nie in ihrer vollen personellen Wucht erlebt, mit dem großartigen Skero und dem leider früh verstorbenen Energiebündel Huckey. Aber auch in kleinerer Besetzung gaben sich Flip, Laima und DJ Dan redlich Mühe, die zahlreich Versammelten mitzureißen. Österreichs Hip-Hop-Pioniere mögen inzwischen längst gesettelte Familienväter sein – der Flow und die Energie stimmen nach wie vor.

Außerdem spielen „Texta“ selbst augenzwinkernd und selbstironisch damit, nicht mehr die Jüngsten zu sein. Das tun sie auf Social Media (wo sie zum 20-Jahr-Jubiläum ihres Albums „So oder so“ schrieben: „Im Nachhinein lustig, dass wir damals schon den Track ‚Alt‘ mit Blumentopf gemacht haben, dabei waren wir da ja eh noch jung und knackig“) genauso, wie sie es beim Konzert in Innsbruck taten.

Man stehe für Old-School-Hip-Hop, meinte Flip, bei dem es zum Beispiel statt einem simplen Druck auf den Play-Button noch einen DJ gibt. Schließlich, so Flips kleine Geschichtsstunde, sei die DJ-Kultur vor 50 Jahren die Keimzelle für das gesamte HipHop-Universum gewesen. An anderer Stelle konnte er sich einen Seitenhieb auf die Generation der 16- bis 25-Jährigen und ihren angeblichen „Granny“-Lifestyle (früh ins Bett, früh aus dem Bett) nicht verkneifen: Hier müssten wohl die Eltern ihre Kinder dazu bringen, wieder um die Häuser respektive durch die Bogenmeile zu ziehen, meinte er mit breitem Grinsen.

Jedenfalls war deutlich zu spüren: Klassischer Hip-Hop ist nicht das Schlechteste. Was „Texta“ servierten, mag durchaus weit weg sein vom heutigen Rap-Game. Und sicher konnten nicht alle Jungen, die vor dem Konzert zu DJ-Klängen abfeierten und Tanz-Battles bejubelten, etwas mit den gut gelaunten Reimen in breitem Linzer Slang oder den feinen Scratches von DJ Dan anfangen.

Aber: Hip-Hop lebte immer von Kreativität und Sprachwitz – und beides hatten und haben „Texta“ einfach drauf. Ihr größtes Asset ist dabei die geschmeidige oberösterreichische Mundart („Geschmeidig“ hieß nicht umsonst bereits ihre erste EP aus dem Jahr 1995). Gut, dass sie vor rund 30 Jahren diese kulturelle Aneignung wagten!

Und so ging es in Innsbruck auf Zeitreise in eine Ära, in der Hip-Hop noch nicht die alles dominierende Jugend-/Musikkultur, sondern zumindest im deutschsprachigen Raum (und erst recht in Österreich!) noch frisch, ungewohnt und aufregend war.

Auch wenn das Set nicht frei von Tonproblemen war (gerade die Samples gerieten oft etwas leise), sorgte der Streifzug durch einen erstaunlich langen Katalog an kleineren und größeren Hits für gute Laune: Die Palette reichte von „Sprachbarrieren“ bis „Ois Ok Mama“, von „So oder so“ und „Mehr oder weniger“ bis, natürlich, „Hediwari“. Und dabei wären noch diverse weitere Kracher im Talon gewesen, man denke nur an „(so schnö kaust gor net) schaun“ mit den mächtigen „Attwenger“ (ja, da sind sie wieder!), das wunderbare „So könnt’s gehen„, „You’re driving me wild“ und mehr.

Auch der Tirol-Bezug kam übrigens nicht zu kurz: Bereits der Einzug der Linzer erfolgte zu den Klängen der augenzwinkernden Hymne „Aus Innsbruck“ von „IBK Tribe“, bei den Zwischenansagen gab es auch Reminiszenzen an Tiroler Rap-Pioniere wie „Total Chaos“ – und später einen kurzen Gastauftritt der Formation „AUTsiderz“ aus Zirl.

Das Publikum taute immer mehr auf und feierte die Genre-Legenden (die nächstes Jahr ein neues Album veröffentlichen werden) verdientermaßen ab, so dass am Ende des „Texta“-Auftritts beste Partystimmung herrschte. Schade nur, dass beim Bogenfest Punkt 22 Uhr die Verstärker abgedreht werden müssen – eine Zugabe war deshalb nicht möglich.

Abgesehen davon zeigt das Festival eines eindrucksvoll auf: Innsbrucks Subkulturen brauchen in erster Linie Platz und Infrastruktur – den Rest macht die Szene dann schon selbst. Diese Botschaft ist sicher auch bei der neuen Innsbrucker Dreierkoalition (deren RepräsentantInnen am Fest gesichtet wurden) angekommen …

Mr. Sandman, bring me a dream

Konzertbericht: SANDMAN’S CALLING, KuFa-Bar Kufstein, 9. Februar 2024

„Der HIT The Bassline-Blog ist nicht tot, er riecht nur komisch.“ Zugegeben, Frank Zappa hat das nicht über unseren komatösen Musikblog gesagt, sondern über das Genre Jazz. Und damit wäre die, ähem, elegante Überleitung auch schon geschafft: Ein Jazzabend im engeren Sinne war es zwar nicht, was da am Freitag in der erfreulich gut gefüllten KuFa-Bar zu Kufstein zu erleben war – aber sehr wohl ein Abend ganz im Zeichen der Improvisation. Und der hörte sich zum Glück nicht nach musikalischer Totenruhe an, sondern klang quicklebendig und energiegeladen.

Zu Besuch war der aus New York stammende Bassist und Oud-Virtuose Shanir Ezra Blumenkranz, in Kufstein ein gern gesehener und gehörter Gast, den Mike Litzko und sein verdienstvoller Kulturverein KlangFarben schon mehrfach nach Tirol lotsen konnten. Die wilden Shows mit dem Projekt Abraxas sorgen bei vielen, die dabei waren (ich leider nicht), noch immer für leuchtende Augen. Diesmal reiste Meister Blumenkranz aber in einer anderen Formation an – und gar nicht unbedingt als Frontmann, sondern als gleichberechtigter Teil eines großartigen Kollektivs.

Sandman’s Calling nennt sich die (aus einer jahrelangen Freundschaft hervorgegangene) Zusammenarbeit mit den kongenialen Schweizer Musikern Gregor Frei (Klarinette, Saxophon) und Matthias Künzli (Schlagwerk), seit Neuestem ergänzt um einen weiteren großartigen Drummer und Klangtüftler, Julian Sartorius.

Foto: Mike Litzko

In dieser Zusammensetzung veröffentlichten Sandman’s Calling dieser Tage das neue Album „Bern“ – und wären eigentlich auch in Kufstein als Quartett aufgetreten. Doch das böse C hatte etwas dagegen: Corona (ja, das gibt es leider immer noch) setzte Gregor Frei außer Gefecht. Und damit den eigentlichen Bandleader in diesem Projekt – oder, wie es Blumenkranz an diesem Abend augenzwinkernd ausdrückte, jenen Musiker, „who should be standing right there and tell us what to do“.

Repetitiv, rituell, hypnotisch

Doch Sandman’s Calling machten aus der Not eine Tugend, experimentierten und improvisierten sich einfach als Trio durch diesen Abend, durch Klangwelten, auf die schon der Name Sandman’s Calling einen ganz guten Hinweis gibt. Der Sand, um den es hier geht, ist allerdings nicht der, der Kindern vom Sandmännchen in die Augen gestreut wird, um Träume entstehen zu lassen – süße Träume wie bei den Chordettes, Albträume wie bei Metallica oder bizarre (Automaten-)Träume wie in Hoffmanns Erzählungen.

Nein, hier geht es eher um den Wüstensand im Sinne von Desert-Rock-Bands wie Tamikrest, Imarhan oder den von mir besonders bewunderten Tinariwen – minus den hypnotischen (Sub-)Sahara-Gesang, dafür ergänzt um Einflüsse von John Zorns Masada-Projekten bis hin zu Tom Waits, der von Sandman’s Calling ebenfalls als Einfluss angeführt wird.

Auf der Website der Gruppe ist auch von „Sandmandalas“ zu lesen – wobei das dann doch einen etwas zu sanften Eindruck von dieser Musik geben würde. Live ging es phasenweise nämlich durchaus laut und rau zur Sache. Was man aus dem Begriff „Mandala“ aber sehr wohl herauslesen kann, ist die hypnotische, minimalistische, fast rituelle Qualität dieser Musik, geprägt von repetitiven Patterns und ausufernder Improvisation, die sich mal dahin, mal dorthin treiben lässt. Wie vom Wüstenwind eben.

Live angetrieben wurde das Ganze von der kombinierten Wucht zweier herausragender Schlagwerker, links auf der Bühne Julian Sartorius, rechts davon Matthias Künzli, die gemeinsam einen gewaltigen, zwingenden Groove entfalteten, muskulös und zugleich extrem variabel, mit allerlei zusätzlichen Becken, Gongs und anderen Rhythmusinstrumenten, die ich nicht einmal namentlich kenne. Das klang dann mal nach Tribal-Rhythmen, mal fast nach der Präzision elektronischer Musik, auf alle Fälle mitreißend.

Foto: Mike Litzko

Shanir Ezra Blumenkranz bediente dazu abwechselnd den E-Bass, aus dem er mittels experimenteller Spieltechniken alle möglichen und unmöglichen Klangfarben hervorzauberte (von reduzierten Grooves über fast schon Metal-artige Riffs bis hin zu dissonanten Einsprengseln), und die Oud, eine orientalische Kurzhalslaute, die er meisterhaft beherrscht. Gerade in diesen Phasen, im Zusammenspiel mit dem furiosen Doppel-Schlagwerk, entstanden aus Reduktion und Repetition magische Momente – womit wir dann doch wieder beim Sand- bzw. Traummännlein wären.

Schön auch die ruhigen, lyrischen Passagen, die sich mit den dynamischeren abwechselten, wobei das Ganze stetig in- und auseinanderfloss. Pausen sind etwas für Loser! Immer wieder ließ sich Blumenkranz dabei selbst in die Rhythmen seiner Mitmusiker versinken, schien darüber zu meditieren, welchen Weg er als nächstes einschlagen sollte.

Lieber zu kurz als zu lang

Dass man sich hin und wieder den vierten Musiker Gregor Frei für zusätzliche Impulse gewünscht hätte – geschenkt. Denn immer dann wenn es, zumindest für das ungeübte Ohr, kurzzeitig etwas ziellos zu werden drohte (zu improvisierter Musik gehört wohl auch die eine oder andere Sackgasse) oder der Soundmix nicht auf Anhieb perfekt austariert war, kam garantiert einer der Drei mit der nächsten zündenden Idee um die Ecke.

Und so war es auch leicht zu verschmerzen, dass der Soundmix nicht immer sofort perfekt austariert war und ein paar wenige störende Besucher den nötigen Respekt für diese wunderbaren Musiker vermissen ließen. Aber okay, dass sich manche Leute nur für sich selbst und für ihre Smartphones interessieren, einfach nicht mehr zuhören wollen oder können, ist halt leider ein Zeichen der Zeit. Sorry, so viel Kulturpessimismus muss sein …

Der Großteil des Publikums tauchte jedoch bereitwillig in die Welt von Sandman’s Calling ein, applaudierte begeistert und holte die Band zumindest für eine besonders schöne Zugabe auf die Bühne zurück. Ein, zwei weitere Nummern hätten es übrigens schon noch sein dürfen – aber: Lieber ein Konzert ist zu kurz und lässt einen noch hungrig zurück, als wenn es zu lang wäre und man selbst schon übersättigt.

„For us it was special“, bilanzierte Blumenkranz diesen improvisiert-improvisierten Abend – und dem kann man sich auf alle Fälle anschließen. „Michael, I love you“, hieß es dann noch in Richtung des Veranstalters. Die Wertschätzung, die ein kleiner, mit Herzblut geführter Kulturverein den KünstlerInnen entgegenbringt, wird also durchaus erwidert … Zurecht!

So bleibt am Ende nur noch ein Appell, an mich selbst genauso wie an andere: Rausgehen! Den Allerwertesten hochkriegen! Livemusik genießen! Und lokale Kulturinitiativen unterstützen! Das ist heute wichtiger denn je.

Nur die Frau im Mond schaut zu

Albumtipp: Moon Woman – Open Gates (2020)

Hätte mir vor bald 14 Monaten (um Gottes willen!) jemand gesagt, dass der mitreißende Auftritt von Kosmodrom aus Oberfranken und Moon Woman aus Tirol in der Jungen Talstation zu Innsbruck vorerst mein allerletztes Livekonzert sein würde, ich hätte sie oder ihn mindestens mit einem sorgenvollen Blick bedacht. Inzwischen ist das damals Unvorstellbare längst neue Normalität geworden – und wann Konzertabende oder Festivals wieder in gewohnter Form stattfinden können, steht weiter in den Sternen.

Wechseln wir also von den Sternen lieber gleich auf den Mond – und von geschlossenen Saal- und Clubtüren zu „Open Gates“, dem gleichnamigen, hoffnungsfroh betitelten Debütalbum von Moon Woman aus Innsbruck. Daniel Rieser (Gesang, Bass), Florian Ortner (E-Gitarre, Slidegitarre) und Rene Nussbaumer (Schlagzeug, Synths) haben die Pandemie nämlich bestens genützt, im Sommer 2020 binnen zwei Wochen ein Album mit acht Tracks in Eigenregie aufgenommen (bei zwei Nummern mit Unterstützung von Thomas Riesner an der Violine) und dieses gegen Jahresende ebenso autonom herausgebracht.

Als ein „Bier-aufmach-und-ganz-durchhör-Album“ bezeichnet die Band ihr Erstlingswerk selbst – und das trifft tatsächlich ins Schwarze. Mit seiner geschickten Dramaturgie und seinem Wechsel zwischen kompakten Tracks und Stücken, die sich viel Zeit zum gepflegten Ausfransen nehmen, eignet sich „Open Gates“ wirklich besonders dazu, in einem Zug gehört zu werden. Beim beschwörenden „Sun Chant“ (sehr schön gewählter Titel!) oder dem eröffnenden „Tiger and his warrior“ würde man sich im besten Sinne fast wünschen, dass sie noch länger dauern, während Moon Woman im Titelsong, bei „Western Territories“ oder dem finalen Dreizehnminüter „Eastern Lights“ ihren Psychedelic/Stoner/Heavy Blues-Sound in Ruhe in verschiedenste Richtungen wuchern lassen.

Was den Tracks bei allen Kontrasten gemeinsam ist: Trotz wuchtiger Riffs und zentnerschwerer Drums bleibt der Gesamtsound stets groovy, beweglich, luftig und leichtfüßig, was manch anderer, allzu verbissener und schwerfälliger Band in verwandten Genres abgeht. Trotzdem (oder gerade deshalb) verstehen es Moon Woman, stetig Spannung aufzubauen – und zwar ohne sie immer gleich voll ausbrechen zu lassen, manchmal sogar ohne sie überhaupt aufzulösen. Die jungen Musiker gönnen sich immer wieder Momente fast vollständiger Stille, nur um Schlagzeug, Bass, Gesang dann fast gemächlich wieder einsetzen und wachsen zu lassen. Nicht nur in diesem bewusst zurückhaltenden Ansatz lassen sie bisweilen an die gefeierten Psychedelic-Blueser All Them Witches denken. Was den düsteren Sprechgesang betrifft, sind, etwa in „Dance of the Komorebi“, auch Parallelen zu den Doors (im Sinne von „When The Music’s Over“ oder „The End“) nicht von der Hand zu weisen, auch wenn der Sound insgesamt natürlich in eine ganze andere Richtung weist.

Und diese Richtung liegt, wie schon der Bandname suggeriert, in der Weite, im Kosmischen und Sphärischen. Die Produktion ist angenehm reduziert, nie überladen. So entfaltet der Gesamtsound eine einlullende, fast beruhigende Qualität, auch wenn er wie in „Stray Dog“ oder dem dunklen „Eastern Lights“ mit seinen dramatischen Vocals und räudigen Synths volle Fahrt aufnimmt.

Fazit: „Open Gates“ ist ein willkommener, einladender Weg, um sich aus der Pandemie fortzuträumen – und weckt zugleich die Lust auf eine Rückkehr der Livemusik. Übrigens: Mit „Meeting at old valley station“ haben Moon Woman dem Baudenkmal der Jungen (Alten) Talstation der Hungerburgbahn, einer tollen Konzertlocation, sogar ein skizzenhaftes instrumentales Denkmal gesetzt. Und für Sommer plant das Trio eine Tour mit Kosmodrom durch Österreich und Bayern. Wär schön, wenn das klappt!

Hören kann und sollte man das Album in voller Länge HIER oder HIER. Und damit entlasse ich die geneigte Leserschaft mit mysteriösen Zeilen des Dichters Christian Morgenstern, die mir irgendwie sehr passend erscheinen:

Das Mondschaf spricht zu sich im Traum:
„Ich bin des Weltalls dunkler Raum.“
Das Mondschaf. 

Im Schnelldurchlauf durch mein musikalisches 2018

Man könnte sagen, dass wir für unsere unfassbar späten Jahrescharts bekannt wären – wenn wir denn bekannt wären. Dieser Beitrag wird sowohl das eine als auch das andere nicht ändern. Auch Mitte Februar ist eigentlich vergleichsweise sehr spät für ein Jahres-Recap. Aber dieser persönliche Jahresrückblick hat weder den Anspruch, einen neuen Pünktlichkeitsstandard zu etablieren, noch unsere traditionellen, früh- bis hochsommerlichen Vorjahrescharts zu ersetzen. Schließlich geht es in den kollaborativen Charts um die Hits des Jahres, die Singles, die Ohrwürmer, die für sich allein stehenden Songs. Ich bin eher Albummensch, also präsentiere ich in diesem Egotrip die 20 Alben, die mein persönliches Musikjahr 2018 ausgemacht haben.

Die Beschränkung auf exakt 20 Alben ist natürlich total willkürlich. Wer sagt, dass nicht bloß 18 Alben besonders hervorstachen, oder dass es nicht 37 oder gar 51 Alben wert waren, dass man einige Worte über sie verliert? Ebenso willkürlich ist die Beschränkung auf Full-Length Alben, schließlich wurden wir 2018 auch mit einigen großartigen EPs beschenkt, beispielsweise jene von Aphex Twin (!), Protomartyr oder Panda Bear.

Eines der erwähnenswerten Alben, die vom Rasiermesser dieser Willkür erwischt wurden, ist „Dead Magic“ von Anna von Hausswolff. Man hört der schwedischen Vorzeigesängerin und -Organistin die ausgedehnten Tourneen mit Swans deutlich an. Sons of Kemet präsentierten auf „Your Queen is a Reptile“ eine moderne, abwechslungsreiche und auch politische Palette an Afro-Jazz Hymnen. George Thompson alias Black Merlin begab sich für die „Island of the Gods“ Labelreihe erneut auf Reisen. In mehreren Expeditionen nach Papua-Neuguinea nahm er die Klänge des Kosua-Stammes und des ihn umgebenden Dschungels auf und verwandelte die Soundaufnahmen und Eindrücke in ein außergewöhnliches Album. Soldat Hans formen auf „Es Taut“ einzigartige Balladen aus Düsterjazz, Sludge und Post-Irgendwas. Und dann gab es da noch das vielseitige Zweitwerk von Skee Mask, neues Melancholiematerial von Low, die außerweltliche Kollaboration von Actress und dem London Contemporary Orchestra, den folktronisch-neopsychedelischen vertonten Sonnenschein von 공중도둑 (Mid-Air Thief), ein neues Solowerk von Godspeed You! Black Emperors Frontmythos Efrim Menuck, und noch viel viel mehr.

Man kann es womöglich vor den eigentlichen Top 20 bereits herauslesen: 2018 war für mich ein sehr gelungenes Musikjahr. Jetzt aber ohne weitere Umschweife auf ins Getümmel!

  1. Warm Drag – s/t

Das grundlegende Soundfundament von Warm Drag schreit nach Garagenband, wobei diese Bezeichnung angesichts der vielen psychedelischen, elektronischen, lärmigen und anderweitig experimentellen Ausschweifungen dann doch nicht so treffend erscheinen mag. Noch kurioser: Es ist nicht nur keine Garagenband, es ist eigentlich gar keine Band im herkömmlichen Sinn. Paul Quattrone, den man auch von Thee Oh Sees und !!! kennt, hat alle Songs mit einem Sampler kreiert, durch welchen alles Mögliche an Quellenmaterial gejagt und bis zur Unkenntlichkeit manipuliert wurde. Für noch mehr Abwechslung sorgt die laszive bis rotzfreche Chamäleonstimme von Sängerin Vashti Windish.

  1. GAS – Rausch

Ganze 17 Jahre mussten verstreichen, bis 2017 mit „Narkopop“ endlich ein neues GAS-Album erschien. Nun, kaum ein Jahr später, schickt Wolfgang Voigt den Hörer mit „Rausch“ erneut auf eine Reise durch den Nebelwald, sich selbst treu bleibend mit einem leichten Hauch von Nationalromantik und aus weiter Ferne hallenden Bläsern und Streichern. Der Direktvergleich mit dem Vorgänger hinkt jedoch, „Rausch“ ist dringlicher, intensiver, schreitet stoisch und pulsierend immer geradeaus, bei gleichzeitigem Gefühl schwindenden Orientierungssinns. Rausch eben.

  1. Sleep – The Sciences

GAS-Fans mussten 17 Jahre auf neues Material warten, das letzte ordentliche Sleep-Album ist jedoch geschlagene 20 Jahre her. Umso beeindruckender, dass das Stoner Metal Urgestein es wahrhaftig geschafft hat, den Erwartungshaltungen gerecht zu werden und genau den Monolithen von einem Album abzuliefern, den die Community sich so lange erhofft und gewünscht hat. Auch live nach wie vor eine Wucht!

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Frühjahrsputz in Finnland

Review: Kairon; IRSE! – Ruination

Auf der Suche nach schräger, andersartiger und Konventionen systematisch missachtender Musik landet man meist sehr schnell in Japan. Dass aus dem Land, das der Welt Dinge wie Hentai, Kanchō, Dakimakura, Yaeba-Zahnoperationen und Robotertoiletten offenbart hat, auch auffällige bis sonderliche Musiktrends stammen, ist nicht verwunderlich. Dass es mit Finnland auch in Europa einen kleinen Hotspot für etwas speziellere Klänge gibt, schon eher. Gerade jenes Land also, dessen Einwohnern man eher eine distanzierte, unterkühlte Mentalität zuschreibt. Und dennoch findet man gerade dort einen Fundus an herrlich unkonventionellen Musiknischen, Humppa mal ganz außen vor gelassen. Beispielsweise ist „Suomisaundi“ eine freiere, experimentellere Form des (für viele Menschen bereits in seiner herkömmlichen Form sehr kuriosen) Psytrance. Das Funk neu interpretierende, Synthesizer-lastige Subgenre „Skweee“ hat seinen Ursprung ebenfalls im kühlen Nordosten. Und mit „New Weird Finland“ existiert auch eine finnische Antwort auf die im Umfeld des (Freak-) Folk beheimatete kulturelle Strömung des „New Weird America“.

Das in Szenekreisen sehr geschätzte finnische Label Svart Records beherbergt viele Spielarten alternativer, experimenteller und schwerwiegender Gitarrenmusik und bietet neben internationalen Bands auch vielen dieser etwas spezielleren Gruppen aus heimischen Landen eine Heimat. Eine dieser Bands ist das aus dem eher spärlich bewohnten Westen Finnlands stammende Quartett Kairon; IRSE!. Ja, die Satzzeichen gehören so. Hinter diesem kryptischen Namen wartet ein nur schwer in Genreschubladen zu stopfender Sound auf, der verschiedene Strömungen psychedelischer, improvisatorischer, verträumter und progressiver Musik in sich vereint. Nachdem ihr erster Release, welcher vom schrillen Falsettgesang abgesehen noch aus recht gewöhnlichem Post-Rock bestand, noch unter sämtlichen Radaren durchrutschte, konnte der Nachfolger „Ujubasajuba“ 2014 bereits die Gunst einiger Blogs und Reviewplattformen erspielen und einen kleinen Internethype auslösen. Die dynamische Hochzeit von reverbgetränktem Shoegaze, stilbetontem bis kakophonischem Saxophonspiel und satten Post-Rock-Riffsalven mit dem bereits erwähnten grellen wie gewöhnungsbedürftigen Gesang, war und ist aber auch jeden Hype wert. Der Großteil von Ujubasajubas Songstrukturen beruht auf krautrockiger Repetition mit kontinuierlich aufeinander aufbauenden Elementen und die so heranwachsenden Monotoniemonolithen muten weniger wie ein verkopft in Theoriearbeit ausgetüfteltes Studioalbum und eher wie eine im positivsten Sinne aus den Fugen geratene Jamsession an, was dem eh schon beflügelten Langspieler zusätzliche Leichtfüßigkeit verleiht.

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Regression.

Ist es schon so weit? Habe ich mich tatsächlich in den Fötenzustand eines Musikhörers zurückentwickelt, so wie Oma am Ende die kognitive Kapazität eines Kleinkinds hatte? Kehre ich mit nur 32 Jahren geistig in die Zeiten zurück, als „Coco Jamboo“ meine Jahrescharts beherrschte und ich „Wannabe“ kaufte, bevor es in den Charts war?

Stein des Anstoßes ist eine Single, die ich letzten Freitag als erzwungener Passiv-Radiokonsument hörte und sofort dieses Gefühl verspürte, das man nur wenige Male im Jahr verspürt, wenn man einen Song hört und – geschult durch 20 Jahre reflektierten Musikhörens – instinktiv weiß: „Der wird mir noch mal sehr viel besser gefallen als jetzt in diesem Moment.“

Das war 2015 eigentlich erst so bei „Willkommen im Dschungel“, „Golden Nights“, „Huarache Lights“, „Irony. Utility. Pretext“, „Life“, „Ballad of the mighty I“ und „Let it happen“, also allesamt wahrlich keine Songs, für die man sich schämen muss. Aber jetzt?

Das kann nicht sein?! Das DARF nicht sein! Ist aber so. Und es kommt noch schlimmer. Sämtliche bisher veröffentlichten Singles aus dem neuen Album „Purpose“ vom 360-Grad-Ultra-Musiksatan der letzten Jahre sind erstklassig! „What do you mean“ kommt gleich locker-tropisch-addiktiv daher wie angesprochenes „Sorry“ und auch das schon etwas ältere, aber an mir logischerweise komplett vorbeigegangene „Where are Ü now“ sind bei mir gerade sensationell auf heavy rotation.800px-Believe_Tour_13,_2012

Ich kann das schwer mit seinen älteren Sachen vergleichen, da ich abgesehen von der Kaufhaus-Zwangsbeglückung nur sehr selten in den zweifelhaften Genuss kam, aber das reicht, um zu erkennen, dass es sich wohl um einen dramatischen Imagewandel in der Karriere von He Who Must Not Be Named handeln muss. Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Wahrscheinlich treffen wir uns gerade in der Mitte: Der Rotzbua wird erwachsen – und ich, naja, bin in Regression.

Sicher, die unsägliche Göre hat mit dem Masterplan wahrscheinlich recht wenig zu tun. Aber wem auch immer die Idee kam, das Schreckgespenst der Popmusik mit Produzenten wie Diplo oder Skrillex zu verheiraten, gebührt sicherlich eine Spindoktor-Ehrenmedaille. Von mir überreicht in Platin: Skrillex und Blood Diamonds für „Sorry“. Sowie in Gold: Mason Levy für „What do you mean“. Und immerhin noch in Silber: Diplo & Skrillex für „Where are Ü now“. Große Popmusik.

Und so klang der Sound übrigens im Jahr 1999.