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Unbeliebte Schweineteile, unfähige Pferdediebe und ein kafkaesker Kafka – Mclusky sind zurück und haben noch immer die besten Songtitel der Welt

2004 – wie kann das schon wieder 21 Jahre her sein? Wohin ist all die Zeit verschwunden? Und ist es wirklich möglich, dass das bislang letzte reguläre Studioalbum der walisischen Noiserock-Wüstlinge Mclusky in ebendiesem Jahr erschienen ist?

Unvorstellbar, aber nicht zu leugnen. Und jetzt, 2025, sind Mclusky plötzlich zurück, als wäre nichts gewesen. 21 Jahre – nur ein Wimpernschlag (wobei im Falle von Mclusky die Betonung eindeutig auf „Schlag“ liegen muss). Der Titel ihres neuen Albums – kommerzielle Ausdrücke wie „Comebackalbum“ verbieten sich bei einer so kompromisslosen Band – bringt die beträchtliche Zeitspanne, die seit 2004 vergangen ist, auch gleich lakonisch und unsentimental auf den Punkt: „The World Is Still Here and So Are We“.

Und, das möchte man sofort hinzufügen, Mclusky sind nicht nur wieder oder immer noch da – sie sind auch so schlecht gelaunt und unbarmherzig sarkastisch wie eh und je, genauso „biestig“ (wie es in einer Kurzrezension des „Standard“ treffend heißt) und „crass“ (wie es die Online-Plattform „Pitchfork“ nicht minder passend formuliert).

Auch an Energie hat das Trio, aktuell bestehend aus Front-Brüllaffe Andy „Falco“ Falkous, Schlagzeuger Jack Egglestone und dem vergleichsweise neuen Bassisten Damien Sayell, kein Jota eingebüßt. Mclusky – das ist nach wie vor eine konfrontative, provokante In-your-face-Erfahrung, auf musikalischer und textlicher Ebene.

Wer ein Album mit der Textzeile ‚Delicate seeds come from delicate flowers‘ / That was the horseshit she fed me for hours beginnt (in: „Unpopular Parts of a Pig“), macht keine Gefangenen. Mclusky, das bedeutet auch 2025 ätzenden, krachenden, in seinen harten Laut-Leise-Kontrasten höchst beweglichen Noiserock, der in radikaler Punk-Manier einer oft gnadenlosen Gesellschaft ihre Fratze zurückspiegelt, ihre eigene Säure zurück ins Gesicht spuckt: Money makers making moves / What else should money makers do? / Money makers making money making moves heißt es mit unverhohlener Verachtung in „Cops and Coppers“. Und, nur einen Song später (in „Way of the Exploding Dickhead“): Jerks prefer jerks for sure

Und dass man Zynismus, vor allem dem des Krieges, oft nur noch mit Zynismus beikommen kann, zeigen heftige Zeilen wie diese: Exploding kids, exploding kids, exploding kids can kill the mood / Can kill the mood if kid explosions aren’t your heart’s desire (aus: „People person“).

Musikalisch erreicht das Album spätestens mit dem Doppelpack aus „Kafka-Esque Novelist Franz Kafka“ und „The Digger You Deep“ seinen Höhepunkt – bissige, beißende Lieder, die problemlos mit den besten im Mclusky-Katalog mithalten können.

Und damit sind wir auch schon mitten im eigentlichen Thema dieses kleinen Beitrags angelangt: Mclusky waren, sind und bleiben unerreicht, wenn es um krasse, nicht selten grenzwertige, oft höchst originelle oder einfach verdammt lustige Song- und Albumtitel geht:

Wer sein erstes Album „My Pain and Sadness is More Sad and Painful Than Yours“ nennt und ein späteres „The Difference Between Me and You Is That I’m Not on Fire“, der versteht sein, nun ja, literarisches Handwerk, will sagen: Mundwerk, meisterlich.

Ja, ein Mundwerk haben Andy Falkous und Mclusky wie keine zweite Band – mit einer Ausnahme: Die heißt „Future of the Left“ (was ein angemessen großartiger Name ist) und stellt die zweite, nicht minder wahn-witzige und räudige Formation von „Falco“ Falkous und Drummer Jack Egglestone dar, im Team mit der Bassistin Julia Ruzicka.

Was liegt also näher als eine Liste (hat man heute bekanntlich so) der großartigsten, irrsten, grenzwertigsten, seltsamsten und verblüffendsten Songtitel von Mclusky und Future of the Left, am besten im Countdown? Eben. Here weg go!

DIE 25 (+1) BESTEN SONGTITEL VON MCLUSKY:

25) „Rice is Nice“
24) „Hate the Polis“
23) „She Will Only Bring You Happiness“ [okay, der wirkt recht unverfänglich, wartet aber mit einem umso verfänglicheren, tatsächlich grenzwertigen Chorus auf: Our old singer is / A sex criminal …]

22) „Falco vs. the Young Canoeist“
21) „Dethink to Survive“
20) „Whiteliberalonwhiteliberalaction“
19) „Icarus Smicarus“
18) „Undress For Success“
17) „Your Children Are Waiting for You to Die“
16) „Way of the Exploding Dickhead“
15) „See Them Smell Them Sign Them“
14) „You Should Be Ashamed, Seamus“
13) „Lightsabre Cocksucking Blues“
12) „The Habit That Kicks Itself“
11) „The Competent Horse Thief“
10) „Forget About Him I’m Mint“
9) „Unpopular Parts of a Pig“
8) „Reformed Arsonist Seeks Child Bride“
7) „Alan Is a Cowboy Killer“

6) „The Digger You Deep“
5) „Dave, Stop Killing Prostitutes“
4) „The Difference Between Me and You Is That I’m Not on Fire“
3) „Kafka-Esque Novelist Franz Kafka“
2) „Bipolar Bears Take Seattle“ [Merken als Teamname fürs nächste Pubquiz]
1) „To Hell with Good Intentions“ [das ist der Song mit der unübertrefflichen Eröffnungszeile: My love is bigger than your love (…) / Sing it!]
ODER (ex-aequo):
1) „How Can 15 People Be Wrong?“

DIE 33 BESTEN SONGTITEL VON FUTURE OF THE LEFT:

33) „Johnny Borrell Afterlife“ [Johnny Borrell ist der legendär großmäulige Sänger der längst vergessenen Band Razorlight, dem Future of the Left hier durchaus mit einiger Sympathie begegnen]
32) „Plague of Onces“
31) „Singing of the Bonesaws“
30) „50 Days Before the Hun“
29) „Why Aren’t I Going To Hell?“
28) „Fingers Become Thumbs!“
27) „Arming Eritrea“
26) „The Lord Hates a Coward“
25) „I Am Civil Service“
24) „Polymers Are Forever“
23) „The Limits of Battleships“

22) „She Gets Passed Around at Parties“
21) „No Son Will Ease their Solitude“ [womit Future of the Left beweisen, dass sie sich in all ihrem Sarkasmus auch auf tragische, ja berührende Titel verstehen]
20) „Real Men Hunt in Packs“
19) „adeadenemyalwayssmellsgood“
18) „Stand by Your Manatee“ [„manatee“ bedeutet so viel wie „Rundschwanzseekuh“, würde also auch auf Deutsch einen ziemlich guten Songtitel ergeben]
17) „Future Child Embarrassment Matrix“
16) „My Gymnastic Past“
15) „Robocop 4 – Fuck Off Robocop“
14) „Failed Olympic Bid“
13) „I Am The Least Of Your Problems“
12) „Things to Say to Friendly Policemen“
11) „I Don’t Know What You Ketamine“
10) „I Need To Know How To Kill A Cat“
9) „Suddenly It’s a Folk Song“
8) „Throwing Bricks at Trains“

7) „The Real Meaning of Christmas“
6) „If AT&T Drank Tea What Would BP Do?“
5) „You Need Satan More Than He Needs You“
4) „Sorry Dad, I Was Late For The Riots“
3) „Wrigley Scott“ [auch das ein heißer Tipp für einen Pubquiz-Teamnamen]
2) „The Hope That House Built“

1) „Sheena Is A T-Shirt Salesman“ [Ein Song und Video wie eine einzige brutale Energieeruption]

Ol‘ ’75: Ein Dreivierteljahrhundert Tom Waits in 25 persönlichen Lieblingsliedern

Was, Tom Waits – schon 75?? Kann das sein? 
Der Schock hält nur kurz an. Zum einen hat Mr. Waits, wie kluge Leute dieser Tage bemerkt haben, bekanntlich schon als junger Mann wie ein alter Mann geklungen, ja in seiner Frühphase vielleicht sogar älter als später. Eigentlich keine schlechte Strategie, um das Alter auszutricksen. Und zum anderen wird man ja auch selbst nicht …

Aber Schluss mit der Melancholie. Die überlassen wir lieber Tom Waits, denn aufs Melancholische versteht sich bekanntlich kaum einer besser als er. Aber auch aufs Ruppige, Räudige, Pathetische, Schwarzhumorige oder schlicht und einfach Ergreifende.

Genau das möchte ich nun beispielhaft aufzeigen, der Einfachheit halber grob an der Chronologie seiner Veröffentlichungen orientiert – obwohl ich sein Werk (so weit ich es denn kenne) in völlig anderer Reihenfolge kennengelernt habe. Aber dazu später mehr. Hier nun also 25 meiner persönlichen Lieblingslieder eines meiner persönlichen Lieblingskünstler, natürlich samt Playlist. 

  1. Ol‘ ’55:
    Der erste Song auf seinem ersten Album („Closing Time“, 1973) muss natürlich auch hier am Anfang stehen. Ein Lied, das wie kaum ein anderes für ein Gefühl (eine Utopie?) von Weite steht, wie man sie vielleicht empfinden mag, wenn man auf einem einsamen Highway in den Sonnenaufgang gleitet. Natürlich ein Klischee, aber genau das macht Klischees ja aus: dass sie größer sind als das echte Leben. Even better than the real thing

  2. A Sight for Sore Eyes:
    Unter den Fans von Tom Waits gibt es mehrere Lager: jene, die vor allem sein noch eher am klassischen Songwriting geschultes, wenn auch verglichen mit dem Mainstream schon damals ungeschliffenes Frühwerk schätzen (so etwa sein inoffizieller Biograph Barney Hoskins); jene, die den teils experimentellen Wahnsinn seiner mittleren und späten Alben bevorzugen; und vielleicht auch jene, die ihn erst über seine Berührungspunkte mit der, Achtung, deppertes Wort, Hochkultur kennengelernt haben (Stichwort: Zusammenarbeit mit dem Theaterregisseur Robert Wilson). Ich kann allen Seiten etwas abgewinnen, wobei ich das gediegenere Frühwerk bisher nur zum Teil kenne. Das wunderbare, leicht betrunken klingende „A Sight for Sore Eyes“, eine typisch Waits’sche Pianoballade, die mit einem Motiv aus einem der berühmtesten traurig-schönen Lieder überhaupt beginnt (Auld Lang Syne), soll hier jedenfalls stellvertretend für den 70er-Jahre-Geschichtenerzähler-Waits stehen, der in meiner Liste sonst etwas zu kurz kommt.

  3. 16 Shells From a Thirty-Ought-Six
    Richtig interessant wird Tom Waits für mich nämlich ab seiner doch recht radikalen experimentellen Wende in den 1980ern, die meist am Album „Swordfishtrombones“ festgemacht wird. „16 Shells From a Thirty-Ought-Six“ (keine Ahnung, was der Titel bedeutet) ist dafür ein gutes Beispiel, mit seinen unverkennbaren Waits-Zutaten wie dem kraftvoll-krächzenden, wüsten Gesang und der nach Schrottplatz klingenden Percussion. Dass dabei der innere Bezug zu Genres wie dem Blues, die Waits geprägt haben, erkennbar bleibt, macht das Ganze nur noch eindrucksvoller.

  4. Jockey Full Of Bourbon
    Ein echter Waits-Klassiker von einem seiner berühmtesten Alben („Rain Dogs“, 1985). Über die rätselhaften, im (fiktiv überhöhten) Halbweltmilieu angesiedelten Lyrics könnte man sich bestimmt lange den Kopf zerbrechen. Besser ist aber, man lässt Zeilen und Bilder wie „Bloody fingers on a purple knife / Flamingo drinking from a cocktail glass / I’m all alone with someone else’s wife / Admire the view from up on top of the mast“ einfach auf sich wirken und die dazugehörigen Bilder im Kopf entstehen. Apropos Kopf: Den unheilvollen Refrain („Hey little bird / Fly away home / Your house is on fire / Your children alone“), der auch in einem David-Lynch-Film nicht fehl am Platz wäre, kriegt man dort ohnehin nicht mehr raus.

  5. Cemetery Polka
    Kurz, wild, dissonant: Die Friedhofspolka macht ihrem schaurig-schönen Namen alle Ehre. Zum ersten Mal habe ich dieses Lied übrigens nicht auf einem Album gehört (in Vor-Streaming-Zeiten musste man sich an den Backkatalog eines Künstlers schon aus finanziellen Gründen schrittweise herantasten, was sicher nicht der schlechtere Zugang war), sondern beim Liveauftritt eines mir namentlich nicht mehr erinnerlichen deutschen Sängers, der mit tollen Tom-Waits-Coverversionen im Innsbrucker Treibhaus zu Gast war. Das kleine Konzert fand, so weit ich es mir noch ins Gedächtnis rufen kann, im Vorraum (!) des Treibhaus-Kellers statt – und ich war gemeinsam mit meiner Mutter (!!) dort. Was mir heute beim Hören zum ersten Mal aufgefallen ist: Josef Hader muss sich ein schönes Sprachbild aus einem seiner Lieder („So unabhängig wia a Sau aufm Eis“) aus ebendiesem Lied geklaut haben.

  6. In The Neighborhood
    Warum ich die Behauptung über Josef Hader einfach so unverschämt in den Raum stelle? Weil es von Hader auch eine kongeniale, ins multikulturelle Wien verlegte Version von Tom Waits‘ grandioser Blick-aus-dem-Fenster-auf-das-großstädtische-Grätzel-Nummer „In The Neighborhood“ gibt. Es ist also davon auszugehen, dass er mit dem Werk von Waits vertraut ist. So wie übrigens auch Wolfgang Ambros, von dem es bekanntlich ein ganzes Album mit Wienerischen Waits-Covers gibt. „In The Neighborhood“ ist jedenfalls eines von zahllosen Beispielen, das Waits als großen Erzähler kleiner Alltagsgeschichten ausweist: “ … and Butch joined the army / Yeah that’s where he’s been / And the jackhammer’s diggin‘ / Up the sidewalks again“. Ganze Filme spielen sich da binnen drei Minuten vor dem inneren Auge ab.

  7. Cold, Cold Ground
    Zu den bemerkenswertesten Fähigkeiten von Tom Waits gehört, wie Trauriges und Schönes bei ihm textlich und musikalisch stets Hand in Hand gehen. So wie im wahren Leben ja auch.

  8. Innocent When You Dream (78)
    Apropos schön und traurig: Das hier ist eine meiner absoluten Lieblingsnummern von Waits und wahrscheinlich überhaupt unter den zehn Liedern, die mir am meisten bedeuten. „Innocent When You Dream“ klingt, als wäre es zufällig in einem verstaubten Keller auf einer uralten Schellackplatte entdeckt worden, hat etwas von einem einlullenden, tröstlichen Kinderlied, das einem die Mutter vorsingt, erzählt von der Unschuld und den Träumen der Kindheit, aber zugleich auch von Abschied und Vergänglichkeit, führt also Anfang und Ende des Lebens zusammen. Und wirkt dabei selbst wie aus der Zeit gefallen.

  9. Earth Died Screaming
    Ein denkbar harter Kontrast zum vorigen Song: „Earth Died Screaming“ stammt von Waits‘ passend betiteltem Frühneunziger-Album „Bone Machine“ und zeigt ihn von seiner wüstesten Seite – mit räudig hervorgekrächzten, alttestamentarisch-apokalyptischen Lyrics („And the moon fell from the sky / It rained mackerel / It rained trout“) nebst einem bedrohlichen Rhythmus, der tatsächlich so klingt, als würde er mit menschlichen Knochen getrommelt …

  10. I Don’t Wanna Grow Up
    Näher am Punk war Waits nie – nicht umsonst haben die Ramones (die bekanntlich diverse „Wanna“-Titel im Repertoire haben) diesen Song auf ihrem Abschiedsalbum gecovert. Und auch die Haltung, die in den Lyrics vermittelt wird – ich finde, sie gehören zu Waits‘ besten -, ist purer Punk: immer Kind bleiben, sich nicht mit der feindlichen, verlogenen Erwachsenenwelt abfinden, nicht dazugehören wollen, ein Rückzug wie zu Corona-Zeiten, aber aus Protest: „Seems like folks turn into things / That they’d never want“ oder „I rather stay here in my room / Nothin‘ out there but sad and gloom“ oder „Stay around in my old hometown / I don’t wanna put no money down / I don’t wanna get me a big old loan / Work them fingers to the bone“. Und am Ende fragt sich das lyrische Ich dann fassungslos: „How the hell did I get here so soon? / I don’t wanna grow up.“

  11. The Black Rider
    Die Vereinnahmung eines Underground-Künstlers (zu einem solchen entwickelte sich Waits lustigerweise erst in den 80ern, nach der zugänglicheren 70er-Jahre-Phase) durch die sogenannte Hochkultur birgt natürlich immer Gefahren. Auch im Fall von Tom Waits gibt es manche AutorInnen, die seine (Theater-)Kollaborationen mit dem Regisseur Robert Wilson und anderen kritisch sehen. Ich hingegen finde die Ergebnisse sehr reizvoll und spannend – hier etwa beim Titelsong von „The Black Rider“, einem Stück, das lose auf der Oper „Der Freischütz“ aufbaut. Allein, wie Waits hier mit pseudodeutschem Akzent einen reißerischen Zirkus-/Varieté-/Kuriositätenkabinett-Ausrufer gibt, muss man gehört haben. Und die Frage „Oh, may I use your skull for a bowl?“ wurde wohl nie höflicher gestellt!

  12. Cold Water
    „Mule Variations“ (1999) war mein Erweckungserlebnis in Sachen Waits – nicht nur, weil es das erste seiner Werke ist, das ich mir zugelegt habe. Sondern auch weil ich es so oft gehört habe wie wenige andere Alben; weil ich mich erst langsam in den spröden, rauen, aufs Nötigste reduzierten Sound einarbeiten musste, der klingt, als wären manche Lieder im Hühnerstall aufgenommen oder mit einem Blecheimer über dem Kopf eingesungen worden; weil ich dann umso mehr hineingekippt bin, nicht zuletzt auch ins geheimnisvolle, Sepia-getönte Artwork mit seinen seltsamen Bildern von Vogelscheuchen und Schlangenschirmen. 
    Mein musikalischer und textlicher Einstieg in den Kosmos dieses Albums (das in dieser Liste eigentlich mit deutlich mehr als drei Songs gewürdigt werden müsste) war eben „Cold Water“: Mir liegt es fern, Obdachlosigkeit zu verharmlosen oder gar zu glorifizieren, aber wenn es ein Lied gibt, das zugleich Elend und Würde eines Lebens auf der Straße bzw. am Rande der Gesellschaft (eines „Hobo“-Lebens) vermittelt, dann dieses. Scheinbar einfache Zeilen wie „Stores are open / But I ain’t got no money“,Found an old dog / And it seems to like me“, „Slept in a graveyard / It was cool and still“ oder „I’m watching TV in the window of a furniture store“ haben mich nie wieder losgelassen. „I look 47, but I am 24“, heißt es an anderer Stelle. Fragen nach Authentizität oder soziokultureller Aneignung stellen sich bei so berührenden, empathischen Bildern erst gar nicht. Und dazu noch der räudige Groove!

  13. What’s He Building?
    Dass Herr Waits ein begnadeter Geschichtenerzähler ist (übrigens auch bei seinen oft ausufernden Ansagen im Rahmen von Livekonzerten), wurde schon mehrfach erwähnt. Hier ist „Erzähler“ wörtlich zu nehmen, denn es handelt sich um eine Art Mini-Hörspiel, eine schaurige Spoken-Word-Nummer, in der ein Nachbar seine Mutmaßungen über den Sonderling nebenan zum Besten gibt: „He has subscriptions to those magazines … / He never waves when he goes by“. Keine Frau, keine Kinder, keine Freunde, dafür ein ungepflegter Rasen. Kurz: alles höchst verdächtig. Also, was treibt der Mann da drinnen? „We have a right to know“, behauptet der Ich-Erzähler – als hätte Waits die Post-9/11-War-on-terror-Paranoia um Jahre vorweg genommen. Lustig ist das Ganze übrigens auch. Wie Waits den misstrauischen Erzähler über den Nachbarn sagen lässt „… and he used to have a consulting business … in Indoneeesia“, muss man einfach gehört haben.

  14. Take It With Me
    Zu den bewegendsten Liebesliedern, die Tom Waits je geschrieben hat, zählt dieses hier. Abseits von schräger Rollenprosa geht es in einfachen, ergreifenden Worten um die letzten Dinge im Leben – um die Erinnerungen, die (hoffentlich) bleiben, wenn jemand geht, um die leise Hoffnung, dass da mehr ist als ein vergänglicher Körper („It’s got to be more / Than flesh and bone / All that you loved / Is all you own“) oder „Ain’t no good thing ever dies“. Am Ende gibt es dann eine Liebeserklärung, die zu Tränen rührt – und von Waits wohl an seine Frau Kathleen Brennan gerichtet ist, die seine Musik und sein Leben geprägt haben dürfte wie niemand sonst: „In a land there’s a town / And in that town there’s a house / And in that house there’s a woman / And in that woman there’s a heart I love / I’m gonna take it with me / When I go“.

  15. Alice
    Mit den „Alice“-Büchern von Lewis Carroll, in denen das Kindliche, Komische, Skurrile und Abgründige unentwirrbar verwoben sind, habe ich mich erst heuer näher auseinandergesetzt (der Prachtband The Annotated Alice: The Definitive Edition ist schwer zu empfehlen). Dass diese seltsam-schöne Welt mit jener von Tom Waits gut zusammenpasst, wusste ich aber schon länger. Auch hier handelte es sich um eine Kooperation von Waits/Brennan mit Robert Wilson. Der Titelsong ist eine dunkle, kühle, geheimnisvolle Jazzballade.

  16. Reeperbahn
    In mehreren tollen Nummern auf „Alice“ – etwa „Poor Edward“ oder „Table Top Joe“ – lässt Tom Waits allerlei seltsame, groteske Gestalten auftreten, durchaus im Geiste von Lewis Carroll. In „Reeperbahn“ wiederum sind es gesellschaftliche Außenseiterfiguren, von Rosie, deren rosige Wangen heute nur noch aufgemalt sind, bis zum kleinen Hans, der immer schon gern Frauenunterwäsche trug. Am Ende klingt die Nummer dann so, als würde man zu fortgeschrittener Stunde in einer düsteren Gasse einem Seemann begegnen, der besoffen an der Straßenlaterne hängt und ein altes Shanty grölt. Was so natürlich nie passieren wird und ziemlich klischeehaft wäre. Aber auch hier gilt wieder: Even better than the real thing.

  17. No One Knows I’m Gone
    Für das tragisch-morbide Pathos in Zeilen wie „The rain makes such a lovely sound / To those who’re six feet underground“ oder „I love when it showers / But no one puts flowers on a flower’s grave“ (aus dem ebenso schönen „Flower’s Grave“) war man mit Anfang 20 natürlich besonders empfänglich. Aber auch heute berühren diese kleinen, dunklen Preziosen noch, obwohl (oder gerade weil?) Waits hier bisweilen am Rande der Selbstparodie wandelt.

  18. All The World Is Green
    Apropos Pathos: Hier eine besonders schöne, hemmungslos melancholische Nummer vom Album „Blood Money“, das 2002 parallel zu „Alice“ erschien und, wieder in Kooperation mit Robert Wilson, auf dem „Woyzeck“-Stoff basiert. Einmal mehr geht es um die unerfüllbare Sehnsucht nach der Unschuld der Kindheit: „We can bring back the old days again / When all the world is green“.

  19. Hoist That Rag
    Sollte jemand ernsthaft befürchtet haben, dass Waits von der allzu gediegenen Hochkulturwelt glattgebügelt würde, belehrte ihn oder sie spätestens das experimentelle, sperrig-schroffe 2004er-Spätwerk „Real Gone“ eines Besseren. Das krasse „Hoist That Rag“ könnte einem grindigen Piratenfilm entsprungen sein, in dem sich von Skorbut ausgezehrte Freibeuter tatsächlich gezwungen sehen, noch die letzten Stofffetzen als Segel zu setzen. Wild!

  20. Going Fetal 
    Hä, wie klingt Tom Waits denn hier? Raue Stimme ja, aber das ist doch nicht seine?? Genau, hier handelt es sich vielmehr um Mark Oliver Everett (kurz: E) von den Eels, den man durchaus als einen jüngeren Geistesverwandten von Tom Waits ansehen könnte – ähnlich unberechenbar, ebenso kauzig, gleichfalls pendelnd zwischen schroffem Krächzen und unverhohlener Melancholie. Und lange Jahre ebenfalls einer meiner Lieblingsmusiker, dessen jüngste Alben leider allesamt ziemlich langweilig und einförmig ausgefallen sind. Ganz anders als sein Opus magnum „Blinking Lights and Other Revelations“ (2005), dem auch das wunderbar-schräge „Going Fetal“ entstammt. Die gegrummelten „Hey“-Rufe im Hintergrund – so schließt sich der Kreis – stammen von niemand Anderem als Tom Waits. Und der Wunsch, sich wieder ins geborgene Stadium eines Fötus‘ zurückzuziehen, ist nicht weit weg von Waits‘ eigenem „I Don’t Wanna Grow Up“.

  21. Widow’s Grove
    Einen Eindruck, wie facettenreich und faszinierend das Waits-Universum ist, gibt die aus drei Alben bestehende Compilation „Orphans: Brawlers, Bawlers & Bastards“ von 2006, die Kostbarkeiten und Seltsamkeiten aus verschiedensten Schaffensphasen von Waits versammelt. „Widow’s Grove“ hat musikalisch etwas von einem wunderbar narkotisierenden Schlummer- oder Wiegenlied (fast einen „Guten Abend, gut‘ Nacht“-Vibe). Textlich geht es hier aber denkbar schaurig zur Sache … Übrigens findet sich auf derselben Compilation tatsächlich eine gesprochene Nummer namens „Children’s Story“ – mit Sicherheit die traurigste Kindergeschichte aller Zeiten. Und damit schon wieder lustig.

  22. What Keeps Mankind Alive
    Nicht nur die Doors haben einen Song von Bert Brecht/Kurt Weill unvergesslich vertont („Alabama Song“ vulgo „Whisky Bar“), auch Tom Waits ist dieses Kunststück gelungen: Die berühmte „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“-Botschaft wird hier angemessen dramatisch vermittelt, ehe es am Ende ebenso desillusioniert wie eindringlich heißt: „Mankind is kept alive … by bestial acts“. Das sitzt!

  23. Take Care Of All My Children
    Mit 17 oder 18 war ich über die humorvolle Blasphemie auf dem Waits-Album „Mule Variations“ ein wenig erschrocken – wenn etwa in „Chocolate Jesus“ der geschmolzene Heiland als Schokoladensauce über Eiscreme gegossen wird oder ganz am Ende des Albums, im lebensbejahend-unchristlichen Gospel „Come On Up to the House“, die Aufforderung erklingt: „Come down off the cross / We can use the wood“. Hier aber, auf einem weiteren Juwel der „Orphans“-Kompilation, handelt es sich wirklich um einen lupenreinen Gospelsong (halt in Waits-Manier), dessen Botschaft, eine flehende Bitte um Schutz, mindestens genauso berührt.

  24. Army Ants
    Hier erleben wir Waits noch einmal von seiner bizarrsten und schrulligsten Seite: Der Text, den er auf unvergleichliche Weise rezitiert, könnte einem alten Lehrbuch über Insekten und Skorpione entsprungen sein – aber natürlich geht es bei all den tierischen Brutalitäten und Absonderlichkeiten eigentlich um (allzu) menschliches Verhalten. Jedenfalls ist es ein Genuss, wenn Waits Wörtern wie „moisture absorption“ auf seine Weise beikommt, um am Ende zu verkünden: „And, as we discussed last semester, the army ants will leave nothing but your bones.“

  25. Talking At The Same Time
    Das bislang letzte Studioalbum von Tom Waits, „Bad as Me“ von 2011, war mir gar nicht mehr richtig präsent – wahrscheinlich weil es nach der Zeit meiner intensivsten musikalischen Prägung erschien und zugleich knapp vor der Phase, als ich damit begann, Online-Jahrescharts zusammenzustellen, um mich wieder mehr mit aktueller Musik zu konfrontieren (ab 2012, jetzt immerhin noch in Form von „Jahresordnern“ auf der Streamingplattform). Dabei gibt es auch auf diesem Album einiges zu entdecken, von rau („Raised Right Men“) bis hemmungslos nostalgisch („Last Leaf“). „Talking At The Same Time“ wiederum lässt an das schräge Falsett in Waits-Klassikern wie „Temptation“ denken. Und besser als mit den Zeilen „All the news is bad / Is there any other kind? / Everybody’s talking at the same time“ kann man die aktuelle gesellschaftliche und (sozial)mediale Situation eigentlich nicht zusammenfassen. Was für 2011 galt, gilt für 2024 (und bald 2025) sogar weit mehr. Zeitlose Kunst eben!

    Stichwort zeitlos: Mein nächster Plan lautet jetzt, mich einmal quer durch die 17 Studioalben von Tom Waits zu hören, speziell durch jene, die ich bisher gar nicht kenne. Für irgendetwas muss der Moloch Spotify ja gut sein!