Archiv für den Monat: Januar 2017

Ein Tor (zurück) in die Zukunft

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 8:
BEYOND THE WIZARD’S SLEEVE – DOOR TO TOMORROW (2016)

Narkotisch. Hypnotisch. Halluzinogen. Psychedelisch. Wie auch immer man diese ganz spezielle Eigenschaft von Musik nennen möchte – die darin besteht, dass man bis über beide Ohren in sie eintauchen, die Außenwelt ausblenden und ein subjektives Zeiterlebnis genießen kann, das mit der real vergangenen Zeit nicht übereinstimmt -, sie zählt zweifelsohne zu den wichtigsten Qualitäten im Pop. Realitätsflucht im positivsten Sinn.

Genau diese Erfahrung ermöglicht „The Soft Bounce“, das formidable Debütalbum des englischen Psychedelic-Electronica-Duos Beyond The Wizard’s Sleeve. Dieses Gespann besteht aus Erol Alkan, seines Zeichens Londoner Star-DJ, -Produzent und -Remixer türkisch-zypriotischer Herkunft, und dem Musiker und Produzenten Richard Norris, den man (ich nicht) zum Beispiel von der House/Dance-Formation The Grid kennen könnte.

„Wizard’s Sleeve“ ist, so behauptet zumindest das Urban Dictionary, ein vulgärer Slangausdruck für Vagina, zugleich verweist der Bandname aber natürlich auf die magische, überirdische Dimension dieser Musik. „Beyond The Wizard’s Sleeve“ machen klassische psychedelische Musik, aber mit den Mitteln moderner, ausgefuchster, „fetter“ Produktionstechnik. Britische 60s-Psychedelia trifft hier auf Acid House und Balearic Beat. Verhallte Vocals (von durchwegs großartigen GastsängerInnen), verwaschene Gitarren und wahlweise wabernde, schwebende oder zirkulierende Synthieflächen – alles fließt zu einem bunt schillernden Strom zusammen.

Laut Liner Notes versteht sich „The Soft Bounce“ als „trip album in the widest sense“: Das Wort Trip wird hier also vielfältig gedeutet – als Reise (etwa ans Meer), als Drogentrip ins Unbekannte, aber auch in der Bedeutung von „to trip“, also im Sinne von stolpern und plötzlich umfallen. Zugleich funktioniert das Album, wenig überraschend, wie ein genau durchdachtes DJ-Set oder Mixtape, mit elegant fließenden Übergängen und raffinierten Spannungsbögen. „It contains pleasure and pain, doubt and transcendence, and it ends somewhere that is different from where you started„, verspricht das Booklet. Und womit? Mit Recht.

Das Spektrum reicht vom gleichermaßen pumpenden wie sphärischen Auftakt mit „Delicious Light“ – getragen von den einlullenden Dreampop-Vocals der irischen Musikerin Hannah Peel – über den düsteren Psychedelic Rock von „Iron Age“ (hier singt Blaine Harrison von den hochsympathischen Mystery Jets) bis hin zum Titelsong mit seinen hypnotisierenden Drumpatterns und abermals wunderbar gehauchten Vocals von Hannah Peel.

Im programmatischen Schlusstrack „Third Mynd“ wird das Erlebnis des Trips (Stichwort: Synästhesie, also Klänge, die man plötzlich auch sehen kann etc.) sehr schön, wenn auch nicht ganz klischeefrei in Worte gefasst. Kreise, Spiralen, Springbrunnen aus Farbe, pure Schönheit und bodenlose Abgründe, alles ist da …

„It was ecstasy / and it was horrible“ (…) „Suddenly I was aware that the colours were the music“ (…) „This is how one ought to see“.

Die (teils modulierte) Sprechstimme gehört hier übrigens niemand Geringerem als dem Musikjournalisten und Autor Jon Savage, der mit „England’s Dreaming“ das, so sagt man, definitive Buch zu den Sex Pistols und dem britischen Punk im Allgemeinen geschrieben hat. Gleichzeitig ist der Mann aber ein Fan berauschender und berauschter Psychedelia – und zeigt so, dass sich die musikhistorischen Gräben zwischen Psychedelic Rock (den aufrechte Punks eigentlich als bedröhntes, Patschuli-geschwängertes Hippie-Gedöns ablehnen müssten) und Punk (den aufrechte Hippies eigentlich als zynische, nihilistisch-brutale Unmusik verachten müssten) spielend überwinden lassen. Zumindest dann, wenn man sich nicht von Genreschubladen und -Feindschaften, sondern einzig von der Liebe zu schöner, bewegender, befreiender Musik leiten lässt.

Apropos: Der schönste Song auf „The Soft Bounce“ ist aus meiner Sicht „Door To Tomorrow“, wunderbar gesungen von Euros Child, ehemals Sänger der walisischen Psychedelic-Folk-Formation Gorky’s Zygotic Mynci.

Das „Door To Tomorrow“ erweist sich dabei eher als eine Tor in die Vergangenheit, konkret in die goldene Ära der Psychedelik, also die mittleren bis späten 60er Jahre. Die im Text besungene Emily ist ein direkter Querverweis auf „See Emily Play“ (1967), einen der schönsten, betörendsten und geheimnisvollsten Songs von Pink Floyd – ein Kleinod aus jenen rundum empfehlenswerten Anfangstagen, als dort noch der große Wahnsinnige Syd Barrett am Steuer war, also aus der Ära vor der Gigantomanie und bleischweren Ernsthaftigkeit. Kaum ein Song bewegt sich so traumwandlerisch zwischen der unbeschwert-naiven und der abseitigen, unheimlichen Dimension des Psychedelischen wie dieser. Was natürlich auch den Herren Alkan und Norris nicht entgangen ist.

Auch auf „Emily Small“ (ebenfalls 1967 erschienen) von der heute weitgehend vergessenen Spät-Sixties-/Psychedelic-Band The Piccadilly Line weisen die musikhistorisch bestens bewanderten Elektroniker hier hin. (Danke, Liner Notes!)

Fazit: Der Trip von und mit „Beyond The Wizard’s Sleeve“ führt durch (drogen-)nebelverhangene, bisweilen dunkel-romantische Gefilde, es bleibt aber durchwegs ein sanfter, sonniger Ausflug. Für schlechte Trips oder gar Horrortrips gibt es andere Adressen. Wer sich aber dem eisigen, dunklen Winter durch ein wenig psychedelische Realitätsflucht entziehen will, ist hier genau richtig!

PS: „Door To Tomorrow“ wird sich definitiv auch in meinen Jahrescharts für 2016 wiederfinden. Aber das ist eine andere, unendliche Geschichte …