Später denn je: Die spätesten Jahrescharts der Welt, Ausgabe 2019 (Michael Domanig)

Ok, ich geb’s zu: Das mit 2020 … war ich. Zum Jahreswechsel 2019/20 hatte ich heftiges Zahnweh – und als abergläubischer Mensch habe ich das natürlich sofort als schlechtes Omen gedeutet. Zurecht, wie sich bald herausstellen sollte.

2020 war und ist also ein Drecksjahr, das man gedanklich am besten einfach überspringt. Was liegt also näher, als sich noch einmal dem Jahr 2019 zuzuwenden? Womit der elegante Übergang zu den Spätesten Jahrescharts der Welt® geschafft wäre, die heuer selbst für meine Verhältnisse unverzeihlich spät ausfallen. Aber 2020 war und ist leider auch arbeitstechnisch ein extrem anstrengendes Jahr und [weitere Ausflüchte bitte selbst einfügen].

Jedenfalls hat die Suche nach den 100 persönlichen Lieblingssongs des Jahres eine gewisse Ähnlichkeit zu Antigen-Massentests und Contact-Tracing: Man muss tausende negative Fälle überprüfen, um einige positive Fälle herauszufiltern – wobei positiv in diesem Fall wirklich positiv bedeutet. Ich hoffe, ich habe mich verständlich gemacht?

2020 never happened!

Tatsache ist, dass ich mich für die 2019er-Ausgabe durch so viel Musik, durch so viele Jahresbestenlisten gehört habe wie kaum je zuvor. Allein in meinem „Leider Nein“-Topf landeten am Ende über 700 Lieder, im Schüsselchen mit der Aufschrift „Wackelkandidaten“ fanden sich knapp 130 Songs wieder, die es knapp nicht in die Wertung geschafft haben. Und das Ergebnis? Aus meiner Sicht war 2019 insgesamt ein schwächerer Jahrgang, mit wenig Gedränge in den Top-20, dafür einem Überangebot im „Ja eh“-Bereich. Aber vielleicht projiziere ich hier nur das Jahr 2020 auf die unschuldige Musik des Vorgängerjahres?

Zu entdecken gab es trotzdem viel – traurige, gewitzte, mitreißende oder schlichtweg bizarre Musik – so dass das Ganze letztlich doch wieder die Mühe wert war, eh wie immer. Auffällig: Die globale Dominanz des Hip-Hop als führende neue Popkultur spiegelt sich in meiner Auswahl nur am Rande wieder, vielleicht sogar weniger als in anderen Jahren. Ausnahmeerscheinungen von Rico Nasty über Denzel Curry oder Tyler The Creator bis Dendemann lieferten zwar verlässlich, ansonsten habe ich raptechnisch leider sehr viel Mittelmäßiges und Ideenloses gehört, das bei mir einfach nicht zündet. Sorry, Pitchfork! Ebenfalls auffällig: Aus Österreich kam auch diesmal wieder besonders viel gute Musik. Sollte in der Popkultur, die seit jeher und zurecht auf nationale Grenzen pfeift, zwar keine Rolle spielen, freut mich aber trotzdem.

Und damit zur Liste samt Playlist und Kurzbeschreibung zu jedem Song. Viel Spaß!

1.) Purple Mountains – I Loved Being My Mother’s Son
Das Lied aus dem Jahr 2019, das mich am meisten erschüttert und berührt hat (sicher objektiv nicht der „beste“ Song), stammt von David Berman, der nur wenige Tage nach Erscheinen des Purple-Mountains-Debütalbums aus dem Leben geschieden ist. Nicht nur aus dieser Perspektive klingt dieses zurückhaltende Lied wie ein vertonter Abschiedsbrief an die Welt. Vor allem aber ist es eine zu Tränen rührende Liebeserklärung an die verstorbene Mutter.

2.) Billie Eilish – you should see me in a crown
Was die Musik von Wunderkind Billie Eilish (oh Gott, knapp halb so alt wie ich!) besonders reizvoll macht, ist der Minimalismus – klackernde Beats, fiese Störgeräusche, narkotisiertes Raunen, mehr braucht es nicht.

3.) Dendemann – Menschine
Um das Herzstück eines fantastischen, melodramatischen Samples der deutschen Sängerin Su Kramer baut Dendemann sein dringliches Statement gegen den allumfassenden „Work hard, play hard“-Selbstoptimierungswahn auf. „Schraube um Schraube, Zahn um Zahn / Bis das letzte Rad dreht“. Man wird länger denn je suchen müssen, um im sogenannten Deutschrap mehr Hirn, Witz und Sprachgefühl zu finden. 

4.) Jesca Hoop – Death Row
„Her music is like going swimming in a lake at night“: Besser als Tom Waits (!) kann man den wundersam prätentiösen Experimental-Folk von Jesca Hoop nicht beschreiben. Oder doch? Nochmals Tom Waits: „Like a four-sided coin“. Hier stecken mehr melodische und atmosphärische Ideen in einem Song als bei anderen Ideen in einem ganzen Album. Eine meiner Entdeckungen des Jahres 2019 – und dabei hat Hoop schon mindestens sieben Alben veröffentlicht (huch!).

5.) Xixa – The Code
Vor ein paar Jahren habe ich die „Mystic Desert Rock“-Formation um Grabesstimme Gabriel Sullivan in der PMK Innsbruck gesehen (hach, Livekonzerte!), seither sind sie nur noch zwingender geworden mit ihrem ausgeprägt kinematographischen, westernhaften, zum Glück ganz und gar nicht klischeefreien Klangkosmos.

6.) The New Pornographers – The Surprise Knock
Die New Pornographers aus Vancouver sind eine dieser Bands, über die ich kaum etwas weiß und auch nichts wissen muss – außer dass mir im Grunde jeder Song, den ich von ihnen kenne, gefällt. Dieser mitreißende Mix aus Power Pop und vielstimmigen Vokalharmonien trifft bei mir einfach einen Nerv im Hirn. Einen Glücksnerv!

7.) Billie Eilish – bury a friend
Ultrareduzierter, futuristischer ASMR-Flüsterpop mit Gruselfaktor – believe the hype (noch immer)!

8.) Michael Kiwanuka – Rolling
Klingt wie aus den 70ern – und wäre auch damals ein Instant-Klassiker gewesen. Heillos retro? Heilsam retro!

9.) Erstes Wiener Heimorgelorchester – Kurz
Das EWHO zählt seit Jahren zu meinen österreichischen Lieblingsbands – auch, weil ich ihr Faible für Sprachspiele teile. Für das Album „anderwo“ haben die Heimelektroniker Texte  deutschsprachiger Autoren vertont. Dieser hier stammt von Pia Hierzegger (die man besonders als Schauspielerin kennt) – und wird im traumhaft trashigen Elektrokleid zum besten Rausschmeißer-Song seit Langem. Quizfrage: Wer mir sagen kann, auf welche 90s-Eurotrash(?)-Nummer ab 2:13 min kurz angespielt wird (ich komm und komm nicht drauf), bekommt von mir eine Jumbopackung Soletti – und ein Glas Wein.

10.) Purple Mountains – Margaritas at the Mall
„How long can a world go on with no new word from God?“  Dave Bermans Bilanz: „We’re just drinking margaritas at the mall / That’s what this stuff adds up to after all.“ Resignative Theodizee, tieftraurig. 

11.) Bilderbuch – Frisbee
Ein Hit ab dem ersten Hörvorgang, ein Song, von dem man sich gerne nerven lässt, lebensfroh und sinnlich. Die Flacherdler haben doch recht!

12. Doja Cat – Won’t Bite ft. Smino
Apropos schön nervig: Doja Cat wurde heuer offenbar über TikTok zum Megastar. Ohne mir in Sachen Jugendkultur noch irgendeine Kompetenz anmaßen zu wollen – ich kannte sie mit diesem dreckigen „Ohrwaschlkräuler“ (wie es Voodoo Jürgens ausdrücken würde) schon vorher. 

13.) The Düsseldorf Düsterboys – Kaffee aus der Küche
Als hätten die Düsterboys (Mitglieder der nicht minder tollen Band International Music) die gepflegte Trostlosigkeit von Lockdown und Ausgangssperre vorausgesehen: „Ich hol den Kaffee aus der Küche / Hol die Kippen aus’m Schrank / Hol den Wein aus’m Keller / Und hau den Nagel in die Wand“. Apropos: Sie hätten heuer in Innsbruck spielen sollen – schönen Dank auch, Corona!

14.) MOLLY – The Fountain of Youth
Erhabener und erhebender Neo-Shoegaze/Psychedelic Rock/Dream Pop aus Tirol. Von internationaler Klasse – auch auf ihrem Debütalbum.

15.) Voodoo Jürgens – Kumma ned (feat. Louie Austen)
Eine altmodisch anmutende Strizzi- und Glücksspielgeschichte, die es schafft gleichzeitig zutiefst wienerisch und exotisch zu klingen. Ansa Woar!

16.) Temples – Context
Um es mal im, ähem, Internetslang zu sagen: I’m a simple man: I hear versponnenen Psychedelic-Pop mit grandiosen Melodiebögen, i hit like.  

17.) Soundwalk Collective with Patti Smith – Eternity (feat. Philip Glass & Sufi Group Of Sheikh Ibrahim)
Zufällig „Im Sumpf“ gehört, sofort gefesselt: Wenn das der repetitive Klang der Ewigkeit ist, bin ich dabei.

18.) Soundwalk Collective with Patti Smith – Bad Blood (feat. Philip Glass & Sufi Group Of Sheikh Ibrahim)
Und weil die Ewigkeit bekanntlich ziemlich lang dauert, braucht es mindestens eine Doppelportion Sufi-Trance.

19.) Yola – Faraway Look
Majestätischer, schwereloser Soul, produziert von Dan Auerbach (Black Keys) – durch und durch retro, mag sein, mir aber hundertmal lieber als slicker Plastik-R’n’B mit all der trostlosen vokalen, pardon my French, Weitwichserei.

20.) Sky Ferreira – Voices Carry
Eigentlich schon 2018 veröffentlicht, sollte aber 2020 auf einem Album erscheinen (das aus irgendwelchen Gründen noch immer nicht erschienen ist): Also geht Sky Ferreiras wunderbar unterkühltes Cover der mir restlos unbekannten 80s-Band „’Til Tuesday“ locker als 2019 durch. PS: Leider weder auf Spotify noch offiziell auf YouTube zu finden …

21.) Pixies – Silver Bullet
Auch wenn ich ihn hier stimmlich kaum wiedererkannt hätte: Frank Black/Black Francis versteht sich immer noch auf Dramatik und scharfe Laut-Leise-Kontraste. Wer hat’s erfunden?

22.) Altın Gün – Leyla
Halluzinogene türkische Psychedelik in der Tradition des leider weitgehend vergessenen Anadolu Rock – made in Holland. Wetten, dass die fromme türkische Staatsführung mit so etwas wenig Freude hat?

23.) Mattiel – Food for Thought
Die legitime Erbin von Nancy Sinatra? Hier kommt „klassisch“ von Klasse!

24.) Kahlenberg – Tennis
Der „Standard“ schreibt treffend von „Schnöselpunk“ – eine treffendere Musik-Satire über das Wohlstandsbürgertum aus den Nobelbezirken und seine Abgründe hat hierzulande seit den seligen Drahdiwaberl kaum einer hinbekommen. Dirty Penzing!

25.) Vampire Weekend – Sunflower (feat. Steve Lacy)
Vampire Weekend sind toll – vor allem, wenn sie mal aus dem allzu lieblichen Indieschmindieland ausbrechen und stattdessen mit leichtfüßigem Groove bezaubern. Wie hier.

26.) Blond – Thorsten
Der denkbar beste Song über Mansplaining: „Schön, dass es dich gibt / danke fürs Erklär’n / ich hab dich von Herzen lieb / ich kann noch so viel von dir lern’n“.

27.) Rico Nasty – Guap (LaLaLa)
Dass Rico Nasty wirklich das dickste Ding in der Hose hat (und sei es nur die Geldbörse), glaubt man ihr aufs Wort, wenn man ihren ultraaggressiven Vortrag hört.

28.) Earth – Cats on the Briar
Game of Drones: So hoch ist bei mir eine reine Instrumentalnummer noch selten gechartet – danke an den in Sachen hypnotischer Klang- und Lärmwelten immer hervorragend informierten Jo Hannes.

29.) Gewalt – Deutsch
Eine gnadenlosere Abrechnung mit nationalistischen Biedermännern und Brandstiftern habe ich seit Attwengers „kaklakariada“ im deutschsprachigen Raum nicht gehört: „Denk dir deinen Teil / Du Seelenloser, du Kleinkarierter, du Untertan / D-D-D-Deutsch!“

30.) Richard Hawley – My Little Treasures
Ich weiß nichts über Richard Hawley – außer, dass fast alle Songs, die ich von ihm bislang gehört habe, von zeitloser Schönheit und erhabener Melancholie sind. So wie dieses kleine dramaturgische Meisterwerk.

31.) Erstes Wiener Heimorgelorchester – Rund
Das sprachverliebt-verschrobene EWHO und der radikal antikonventionelle Autor Clemens J. Setz? Passt! „So rund war ich schon lang nicht mehr / Und werd’s auch nie mehr sein / Nicht mal am Ende rollt mich wer / Zu einer Kugel ein“. Notiz an Gehirn: Jetzt Setz lesen!

32.) Xixa – Osiris
Nicht nur Osiris lässt sich mit so großen, dunklen Melodien heraufbeschwören.  

33.) Dope Lemon – Hey You
Bedröhnt, betäubt, benebelnd. 

34.) Rico Nasty – Fashion Week
Nimmt Rico Nasty hier Materialismus und Markengeilheit, wie sie gerade auch im Hip-Hop notorisch sind, aufs Korn – oder feiert sie das Ganze ab? Wie auch immer, wer „Krischtschän Dior“ oder „Wärsatschie“ so schön dirty aussprechen kann, hat sowieso gewonnen.

35.) Aldous Harding – The Barrel
Delikater Independent-Folk mit einer Prise Exzentrik. Von der neuseeländisch-walisischen Songwriterin wird man hoffentlich noch einiges hören.

36.) Stefanie Schrank – Fabrik
Stefanie Schrank, die man von den tollen Locas in Love kennen könnte (jetzt „Mabuse“ hören!), betört hier mit traumwandlerischem Krautrock/Elektropop.

37.) King Gizzard & The Lizard Wizard – Perihelion
Space ist the place for the human race: Psychedelisches Rumgespinne, stets am Rand zur Selbstparodie – auf die am Fließband produzierenden Australier ist Verlass.

38.) MOLLY – As Years Go By
Molly sind nur zu zweit – was sie nicht daran hindert, besonders weiträumige Klangkathedralen zu zimmern, in denen die Melancholie frei atmen kann.

39.) Holly Herndon – Frontier
Phasenweise mögen Holly Herndons futuristische Vokalverfremdungen kopflastig und anstrengend klingen, hier aber entfalten sie ihre volle harmonische Wirkung: Menschine!

40.) The Specials – The Lunatics
„The lunatics have taken over the asylum“: Wenn man sich den Stand der (politischen) Dinge vor Augen hält, ist dieser Befund aus dem Jahr 1981 (das Original stammt von der Specials-Abspaltung „Fun Boy Three“) ungebrochen aktuell. Und die Specials lassen ihn auch angemessen frisch klingen.

41.) Kahlenberg – Zentralfriedhof
Zwischen Weltekel und Todessehnsucht: Der Zentralfriedhof ist als Wien-Klischee nicht totzukriegen – und feiert natürlich auch bei den formidablen Kahlenberg fröhliche Urständ.

42.) Xixa – Kvmbia Okvlt
Düsterer Grenzlandsound aus Arizona, der durch das leicht trashige Element sogar noch besser wird.

43.) Los Bitchos – Pista (Great Start)
Apropos Cumbia: Wenn diese jungen Damen aus London zur instrumentalen Surfrock-meets-Cumbia-Sause laden, will man natürlich dabei sein – ein echter Stimmungsaufheller!

44.) The New Pornographers – Falling Down the Stairs of Your Smile
„Falling down the stairs of your smile“ finde ich ein wunderschönes Sprachbild – und die New Pornographers finden dazu wie immer wunderschöne Harmonien.

45.) Tyler The Creator – Gone Gone / Thank You
In der zweiten Hälfte franst das Ganze für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr aus, bis dahin ist es aber das denkbar süßeste Stück Neo-Soul vom einstigen Horrorrap-Bürgerschreck.

46.) Omni – Sincerely Yours
Wikipedia führt Omni unter Post-Punk – ich fühle mich hier eher an schluffigen Slacker/Alternative Rock der 90er erinnert. Aufs Angenehmste!

47.) Jesca Hoop – Footfall to the Path
Der mystische Folk von Jesca Hoop entfaltet hier fast sakrale Qualitäten. 

48.) The Specials – Black Skin Blue Eyed Boys
Das Original hat Eddy Grant (of „Gimme Hope Jo’anna“ fame) vor 50 Jahren (!) mit seiner Band The Equals aufgenommen, vor der sich die nicht weniger legendären Specials hier verneigen. Die textliche Botschaft klingt heute noch so radikal und visionär wie zu Zeiten des Vietnamkriegs: „People won’t be black or white / The world will be half-breed“.

49.) Dope Lemon – Dope & Smoke
Drin ist, was draufsteht. Am halben Weg zwischen Entspannung und Narkose. Übrigens ein Projekt von Angus Stone, einer Hälfte des australischen Indiefolk-Duos Angus & Julia Stone.

50.) Panda Bear – Token
Fast drei Minuten muss man warten, ehe Panda Bear kurz die volle melodische Brillanz erreicht, die man von ihm erwarten darf. Aber der Rest ist auch nicht übel.

51.) Meat Puppets – Nine Pins
Seit sie mich mit einem würdevoll-berührenden Auftritt beim Primavera-Festival begeistert haben (aufrechte Haudegen unter lauter hippen jungen Auskennern auf und vor den Bühnen), bin ich den Meat Puppets – deren Klassiker mir allesamt unbekannt sind – gewogen. Vor allem, wenn sie so beschwingt-melancholischen Folkrock aufbieten.

52.) Black Mountain – Boogie Lover
Boogie Lover muss man für dieses schwer stampfende, dampfende Stück Psychedelic/Space Rock (zum Glück) keiner sein.

53.) Ian Noe – Between the Country
Gute Americana klingt zugleich uralt und zeitlos frisch. Ian Noe weiß, wie’s geht.

54.) Sinkane – Dépaysé
Völkerverbindende Botschaften, in ebenso grenzenlose Musik gekleidet: Der sudanesisch-britisch-amerikanische Multiinstrumentalist macht alles richtig.

55.) Aldous Harding – Zoo Eyes
Manchen mag Aldous Hardings Stimme hier phasenweise zu sehr das (männliche?) Bild von der verwunschenen Folk-Fee zu bedienen, aber wem solche Melodien einfallen, der – die! – hat recht. „It’s the greatest show on earth you shall receive.“

56.) Iorie & Arutani – De la Vida (Original Mix)
„Fluffy“ und „dreamy“ lese ich irgendwo über diesen Track. Mehr muss man gar nicht wissen.  (Wobei der „Original Mix“ auf YouTube der Version auf Spotify noch vorzuziehen ist).

57.) Sudan Archives – Glorious
Unerhört (!), eine solche Mischung aus Hip-Hop, funkigem R’n’B und dramatischem Geigenspiel.

58.) The Düsseldorf Düsterboys – Oh, Mama
„Wann kommst du / wann bist du wieder da? Übermorgen / oder nächstes Jahr?“ Der Klang des Wartens, die Kunst der Langsamkeit.

59.) Los Bitchos – The Link Is About To Die
Schmissiger Surfrock, perfekt geeignet, um sich in eine andere Wirklichkeit zu träumen.

60.) Jeffrey Lewis & The Voltage – Depression! Despair!
Jeffrey Lewis wurde einst zur sogenannten „Anti Folk“-Szene in New York gezählt – was in der LoFi-Produktion und dem lässig-nachlässigen Gesang noch anklingen mag. Ansonsten liegt hier eher alternativer Slacker-Punk vor – feine Sache.

61.) Michael Kiwanuka – Living In Denial
Die warmen Klangfarben ziehen einen sofort Jahrzehnte zurück, die Aussage zielt ins Heute. 

62.) The New Pornographers – Colossus of Rhodes
Und schon wieder dieser überschäumende Melodienreichtum! Der großartigen Neko Case könnte ich stundenlang zuhören.

63.) Aldous Harding – Treasure
Hier scheint sich die multitalentierte Aldous Harding fast ein bisserl zu viel Zeit zu lassen – und erzeugt am Ende gerade dadurch Spannung.

64.) SWMRS – Lose Lose Lose
Ich liebe die Energie des Punk, aber allzu formelhaften „Punkrock“ halte ich inzwischen schwer aus. SWMRS entgehen dieser Falle durch schiere Wucht und Energie, mit einem begrüßenswerten Hang zur Hysterie. 

65.) Vampire Weekend – Flower Moon (feat. Steve Lacy)
Okay, die schwelgerisch produzierten Hits sind eher zu Beginn des Vampire-Weekend-Albums „Father of the bride“ zu finden. Richtig interessant wird aber erst die zweite Hälfte, wo sich federleichte Petitessen wie diese finden.

66.) Amanda Palmer & Friends – Truganini (with Montaigne)  
Truganini war laut Wikipedia im 19. Jahrhundert „a woman widely considered to have been the last full-blooded Aboriginal Tasmanian“. Das Original stammt von den australischen Politrockern Midnight Oil, beim Cover spielt Amanda Palmer ihre bekannten Stärken (Piano-Pathos!) aus.

67.) Damon Locks/The Black Mountain Ensemble – Solar Power
Spirituelle Chormusik trifft auf Schnipsel aus politischen Reden und minimalistischen Jazz – das Ergebnis berührt nicht nur mit „Black Lives Matter“ im Hinterkopf.

68.) Corridor – Domino
Jangle-Gitarren, die irgendwann einfach durchgehen und davongaloppieren, klangvolle französische Lyrics, eine Spur Psychedelik – Montreals Independent-Szene (in der z. B. auch Arcade Fire zuhause sind) bietet immer wieder neue Entdeckungen.   

69.) Voodoo Jürgens – Ohrwaschlkräuler
Das nennt man dann wohl Metaebene: Mit seiner Ode an den Ohrwurm ist Voodoo Jürgens ein ebensolcher gelungen. 

70.) Richard Hawley – Alone
Im Video geht es offenbar um Fußball – aber als Stadionhymne für Sheffield Wednesday ist diese nostalgische Kostbarkeit denkbar ungeeignet.

71.) Adam Green – Cheating on a Stranger
An seinem Erfolgsrezept (zumindest in Europa war es das mal) aus bizarr-verschrobenen Texten und klassischer Crooner-Eleganz hat Adam Green seit vielen Jahren exakt gar nichts geändert – gut so!

72.) Chromatics – Whispers in the Hall
Vom Songtitel über das creepy Synth-Motiv bis zum verhallt-verwunschenen Gesang: Alles hier lässt an die Ästhetik eines Arthouse-Horrorfilms denken – wohliges Gruseln! 

73.) Mike Patton, Jean-Claude Vannier – Yard Bull
Bloggründer Dave plant einen Artikel unter dem klangvollen Motto „Crooner statt Corona“: Da müsste Mike Patton, der zwischen wüsten Metal-Growls und erhabenem Schmelz alles beherrscht, von Amts wegen einen Fixplatz bekommen Das hier lässt mich schon wieder an alte europäische Horrorfilme denken (vgl. Platz 72).

74.) Erstes Wiener Heimorgelorchester – Der ausgestorbene Astronaut
„Es gibt kein Tier, das Kanten gebiert“. Seltsamere Zeilen findet man in kaum einem Liedtext. Das Heimorgelorchester und Clemens J. Setz (Text) führen in die Zwergastronauten-Archäologie ein.

75.) Jeffrey Lewis & The Voltage – LPs
Der beste Song übers Plattensammeln. Voll Witz und brillanter Beobachtungen zur Dynamik des Musikmarktes, auf dem Vinyl binnen einiger Jahre vom Flohmarkt-Ramsch (wieder) zum schwarzen Gold wurde. Jeffrey Lewis‘ verblüffender Rat zum Schluss: Jetzt CDs kaufen! Denn: „Whatever people don’t want that‘s the time to get it …“ Danke an meinen alten Freund Peter für diesen Tipp.

76.) Temples – The Howl
„Raise you head up / Stamp your feet“ heißt es im mächtigen Refrain – und tatsächlich lädt dieser Stomper verdächtig zum Mitstampfen ein, kriegt dabei zum Glück aber gerade noch die Kurve vor der Abzweigung in Richtung allzu stumpf.

77.) Stefanie Schrank – Möbiusschleife
„Möbiusschleife“ ist ein sehr schönes Wort – und den Klang einer Möbiusschleife stelle ich mir genauso vor wie diesen sanft narkotisierenden Song. Innen wird oben, unten wird außen.

78.) Meat Puppets – Dusty Notes
Wer die Meat Puppets als einflussreiche Proto-Grunge-Helden abgespeichert hatte, wird an diesem abgebremsten Tex-Mex-Mariachi-Schlager vielleicht schwer zu schlucken haben – aber mir taugt’s!

79.) Jesca Hoop – All Time Low
„Michael outside / Looking in“: Woher Jesca Hoop wohl weiß, dass ich mir manchmal so vorkomme?

80.) The Raconteurs – Bored and Razed
Die Supergroup (sagt man das noch so?) um Jack White und Brendan Benson produziert unverdrossen dreckigen (Blues-)Rock. Solange ihnen solche Melodien einfallen, gerne.

81.) Caroline Polachek – Door
Es gibt einiges, was mich an diesem Song und seiner Ästhetik nervt – aber der fantastische Echokammer-Refrain öffnet tatsächlich eine Tür zu einer Tür zu einer Tür …

82.) Dendemann – Müde
Der Dendemann ist so müde, „dass Schafe mich zählen“ – und präsentiert sich trotzdem noch immer viel aufgeweckter, wacher und intelligenter als die Konkurrenz.

83.) Jessica Pratt – Crossing
„Quiet Signs“ hieß das jüngste Album der amerikanischen Songwriterin – und tatsächlich fällt diese Musik ganz und gar nicht mit der Tür ins Haus, sondern findet Anmut in Zurückhaltung.

84.) John Southworth – Obscurantism
Ungewöhnlicher Songwriter, ungewöhnliches Liedthema: John Southworth (oder sein Song-Ich) begegnet hier einem Doppelgänger, der seine Lieder singt und sogar seinen Namen geklaut hat. Daraufhin beschließt das Original, seine Musik noch unzugänglicher und damit fälschungssicher zu machen: „And from that day on / I made my song / Impossible to con / I made it bluer, obscurer / A shadow in the mirror / So no one could sing along“. Experiment gelungen?

85.) Sheer Mag – Steel Sharpens Steel
Klingt nach jener Art von HardRRRRAWK, die ich normalerweise gar nicht leiden kann. Aber irgendwie hat mir diese Nummer vom ersten Hören an Spaß gemacht.

86.) Sky Ferreira – Downhill Lullaby
Pitchfork schreibt von einem fünfeinhalbminütigen „goth-noir, chamber-pop piece—with strings!—that could have easily closed an episode of the revived Twin Peaks“. Vielleicht eine etwas zu ehrgeizige Vorgabe, aber die Richtung stimmt. Intensiv!

87.) Sleeper – Paradise Waiting
Klingt schwer nach 90er-Jahre-Alternative-Rock? Dürfte daran liegen, dass Sleeper im Alternative Rock bzw. Britpop der 90er-Jahre tatsächlich eine recht  große Nummer waren. Damals haben sie sich bei mir leider nicht vorgestellt – aber erfreulicherweise haben sie das jetzt nachgeholt

88.) The Divine Comedy – Norman and Norma
Kaum einer textet so gewitzt und elegant wie Neil Hannon – hier gibt es eine Beziehungsgeschichte im Zeitraffer. Mit Happy-End!

89.) Denzel Curry – Speedboat
Der energiegeladene Highspeed-Rapper aus Florida variiert hier gekonnt seinen Flow.

90.) Priests – Good Time Charlie 
DIY-Dance/Post-Punk? Was der Produktion an Nuancen fehlen mag, machen die Priests mit roher Energie wett. 

91.) Isobel Campbell – Runnin‘ Down A Dream
Einer meiner liebsten Tom-Petty-Songs, den die Schottin Isobel Campbell (ex- Belle and Sebastian, Duettpartnerin von Mark Lanegan) ebenso sanft wie souverän in ihre verträumten Klanggefilde überführt. 

92.) Dives – Chico
Mit ihrem lässig-räudigen Garagenpunk und Surfrock (oder eher Surfpunk und Garagenrock?) überzeugt die heimische All-female-Formation auch weiterhin, klare verbale Kante inklusive: „You’re way too comfortable with every word you say / I like it best when you keep your hands away“.

93.) These New Puritans – Where The Trees Are On Fire
Sperrig und geheimnisvoll wie eh und je: Das englische Duo bleibt denkbar unkommerziell.

94.) Weyes Blood – Something To Believe
Phasenweise übertreibt es Natalie Laura Mering alias Weyes Blood hier vielleicht in Sachen Theatralik – aber gegen den machtvollen Refrain ist kein Kraut gewachsen.

95.) Marry Waterson & Emily Barker – Perfect Needs
Im allerletzten Abdruck doch noch in die Charts gerutscht, weil sich ein Fixstarter („Lessleg“ von Charlie Cunningham) plötzlich als Eindringling aus dem Jahr 2015 entpuppte, der nur 2019 neu aufgelegt wurde. Aber dieses Stück Power-Pop samt feiner Background-Vocals hat es auch verdient.

96.) Du Blonde – Coffee Machine
Raue Punk-Energie und Verletzlichkeit finden bei der britischen Non-binary-Musikerin zu einem spannenden Ergebnis zusammen. 

97.) Sebadoh – see-saw
Die legendären LoFi-Pioniere verstecken wieder glänzende melodische Nuggets in einer bewusst trüben Produktion.

98.) DIIV – Blankenship
Keine Ahnung, wer oder was der „Blankenship“ im Titel und Refrain ist. Der gleichnamige Song wandert jedenfalls im weiten Feld zwischen Shoegaze, Postrock und Dream Pop.

99.) The Happy Sun – The House On Highland Avenue
Hymnisches Gun-Club-Cover. Ich dachte übrigens, die Band hieße „The Happy SOUND“ (was, zugegeben, ein selten dämlicher Bandname wäre) und konnte sie daher auf Spotify längere Zeit nicht orten … 

100.) Flying Lotus – Fire Is Coming feat. David Lynch
Ist das noch Musik? Oder eher eine Szene aus einem apokalyptischen Avantgarde-Hörspiel? David Lynch lyncht lynchesk herum, spricht Wörter wie „hose water“ unvergleichlich aus – und am Ende kommt das Feuer. Hat da jemand schon das Jahr 2020 vorausgeahnt?   

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