Archiv für den Monat: Februar 2017

Frühjahrsputz in Finnland

Review: Kairon; IRSE! – Ruination

Auf der Suche nach schräger, andersartiger und Konventionen systematisch missachtender Musik landet man meist sehr schnell in Japan. Dass aus dem Land, das der Welt Dinge wie Hentai, Kanchō, Dakimakura, Yaeba-Zahnoperationen und Robotertoiletten offenbart hat, auch auffällige bis sonderliche Musiktrends stammen, ist nicht verwunderlich. Dass es mit Finnland auch in Europa einen kleinen Hotspot für etwas speziellere Klänge gibt, schon eher. Gerade jenes Land also, dessen Einwohnern man eher eine distanzierte, unterkühlte Mentalität zuschreibt. Und dennoch findet man gerade dort einen Fundus an herrlich unkonventionellen Musiknischen, Humppa mal ganz außen vor gelassen. Beispielsweise ist „Suomisaundi“ eine freiere, experimentellere Form des (für viele Menschen bereits in seiner herkömmlichen Form sehr kuriosen) Psytrance. Das Funk neu interpretierende, Synthesizer-lastige Subgenre „Skweee“ hat seinen Ursprung ebenfalls im kühlen Nordosten. Und mit „New Weird Finland“ existiert auch eine finnische Antwort auf die im Umfeld des (Freak-) Folk beheimatete kulturelle Strömung des „New Weird America“.

Das in Szenekreisen sehr geschätzte finnische Label Svart Records beherbergt viele Spielarten alternativer, experimenteller und schwerwiegender Gitarrenmusik und bietet neben internationalen Bands auch vielen dieser etwas spezielleren Gruppen aus heimischen Landen eine Heimat. Eine dieser Bands ist das aus dem eher spärlich bewohnten Westen Finnlands stammende Quartett Kairon; IRSE!. Ja, die Satzzeichen gehören so. Hinter diesem kryptischen Namen wartet ein nur schwer in Genreschubladen zu stopfender Sound auf, der verschiedene Strömungen psychedelischer, improvisatorischer, verträumter und progressiver Musik in sich vereint. Nachdem ihr erster Release, welcher vom schrillen Falsettgesang abgesehen noch aus recht gewöhnlichem Post-Rock bestand, noch unter sämtlichen Radaren durchrutschte, konnte der Nachfolger „Ujubasajuba“ 2014 bereits die Gunst einiger Blogs und Reviewplattformen erspielen und einen kleinen Internethype auslösen. Die dynamische Hochzeit von reverbgetränktem Shoegaze, stilbetontem bis kakophonischem Saxophonspiel und satten Post-Rock-Riffsalven mit dem bereits erwähnten grellen wie gewöhnungsbedürftigen Gesang, war und ist aber auch jeden Hype wert. Der Großteil von Ujubasajubas Songstrukturen beruht auf krautrockiger Repetition mit kontinuierlich aufeinander aufbauenden Elementen und die so heranwachsenden Monotoniemonolithen muten weniger wie ein verkopft in Theoriearbeit ausgetüfteltes Studioalbum und eher wie eine im positivsten Sinne aus den Fugen geratene Jamsession an, was dem eh schon beflügelten Langspieler zusätzliche Leichtfüßigkeit verleiht.

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Betörend und verstörend: Die Schönheit der Verfremdung

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 9:
AGNES OBEL – FAMILIAR (2016)

Das Instrument der Verfremdung ist in der Kunst ein gern gewähltes Mittel: von Bert Brecht, der damit Illusionen auf der Bühne zerstören wollte (V-Effekt), bis zur digitalen Bildbearbeitung von heute, die, ganz im Gegenteil, fast perfekte Illusionen ermöglicht.

Und auch in der populären Musik sind Verfremdungseffekte allgegenwärtig, ob sie nun per Effektpedal, Computerprogramm oder auf anderem Wege erzielt werden. Als besonders ergiebig und wirkungsvoll erweist sich dabei seit jeher das Bearbeiten und Verfremden der menschlichen Stimme: Zwischen billigen Autotune-Effekten („Beliiieve“ von Cher) und ausgefuchsten (Live-)Loop-Experimenten, bei denen Künstler ihre Stimmen tausendfach vervielfältigen, verzerren und modulieren, tut sich hier ein unendlich weites Feld auf.

Besonders schön, geradezu gespenstisch schön, gelingt die stimmliche Verfremdung in unserem Track der Woche – der ausgerechnet den Titel „Familiar“ trägt. Er stammt von Agnes Obel, einer großartigen dänischen Musikerin, die derzeit, wie die halbe musizierende Menschheit, von Berlin aus tätig ist. Ihr drittes Album heißt „Citizen of Glass“ (2016) – und begeistert mit einer tatsächlich fast gläsernen Klarheit und Eleganz.

Eine in mehrfacher Hinsicht traumhafte, aus der Zeit gefallene, fast sakrale Aura umgibt Songs wie „Trojan Horses“, „Stretch Your Eyes“ oder „Golden Green“. Obels Stimme klingt dabei wunderbar sphärisch, ätherisch und melancholisch, nach dunklem Dreampop – aber es ist ein Dreampop ganz ohne Gitarrenwände, weißes Rauschen oder unterkühlte Elektronik.

Stattdessen greift die Pianistin zu allerlei eher selten gehörten Tasteninstrumenten wie Mellotron, Spinett oder Celesta, lässt Cello und Violine unterschwellige Dramatik verbreiten oder setzt mit dem Trautonium, einem wenig bekannten Synthesizer-Vorläufer aus den 1930er Jahren, dezent retrofuturistische Akzente. Obels größter Trumpf sind aber stets die delikaten, versponnen-folkigen Vokalharmonien.

Für den geisterhaft schönen Refrain der ersten Single „Familiar“ hat Obel allem Anschein nach einen Gastsänger engagiert. Aber wer ist das bloß? Und: Wieso steht der geheimnisvolle Herr nicht in den Albumcredits? Nun, ganz einfach: Es handelt sich um Agnes Obel selbst. Sie tritt hier in einen Dialog mit ihrer eigenen Stimme, die aber so verfremdet wurde, dass sie wie eine Männerstimme klingt. Sie singt also quasi ein Duett mit sich selbst als Mann. Klingt verstörend? Ja, vor allem aber betörend.

„Our love is a ghost that the others can’t see“, heißt es hier – wobei Form und Inhalt nicht besser zusammenpassen könnten.

Dass der Großmeister der filmischen Verfremdung, David Lynch (der als Musiker übrigens auch ganz stark auf bizarr verfremdete Stimmen setzt), ein erklärter Fan von Agnes Obel ist, dürfte angesichts dieser Mischung kaum überraschen. Sollte aber als weiterer Ansporn dienen, in diese seltsame, fremde Welt einzutauchen.