Archiv der Kategorie: Track der Woche

Ein Tor (zurück) in die Zukunft

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 8:
BEYOND THE WIZARD’S SLEEVE – DOOR TO TOMORROW (2016)

Narkotisch. Hypnotisch. Halluzinogen. Psychedelisch. Wie auch immer man diese ganz spezielle Eigenschaft von Musik nennen möchte – die darin besteht, dass man bis über beide Ohren in sie eintauchen, die Außenwelt ausblenden und ein subjektives Zeiterlebnis genießen kann, das mit der real vergangenen Zeit nicht übereinstimmt -, sie zählt zweifelsohne zu den wichtigsten Qualitäten im Pop. Realitätsflucht im positivsten Sinn.

Genau diese Erfahrung ermöglicht „The Soft Bounce“, das formidable Debütalbum des englischen Psychedelic-Electronica-Duos Beyond The Wizard’s Sleeve. Dieses Gespann besteht aus Erol Alkan, seines Zeichens Londoner Star-DJ, -Produzent und -Remixer türkisch-zypriotischer Herkunft, und dem Musiker und Produzenten Richard Norris, den man (ich nicht) zum Beispiel von der House/Dance-Formation The Grid kennen könnte.

„Wizard’s Sleeve“ ist, so behauptet zumindest das Urban Dictionary, ein vulgärer Slangausdruck für Vagina, zugleich verweist der Bandname aber natürlich auf die magische, überirdische Dimension dieser Musik. „Beyond The Wizard’s Sleeve“ machen klassische psychedelische Musik, aber mit den Mitteln moderner, ausgefuchster, „fetter“ Produktionstechnik. Britische 60s-Psychedelia trifft hier auf Acid House und Balearic Beat. Verhallte Vocals (von durchwegs großartigen GastsängerInnen), verwaschene Gitarren und wahlweise wabernde, schwebende oder zirkulierende Synthieflächen – alles fließt zu einem bunt schillernden Strom zusammen.

Laut Liner Notes versteht sich „The Soft Bounce“ als „trip album in the widest sense“: Das Wort Trip wird hier also vielfältig gedeutet – als Reise (etwa ans Meer), als Drogentrip ins Unbekannte, aber auch in der Bedeutung von „to trip“, also im Sinne von stolpern und plötzlich umfallen. Zugleich funktioniert das Album, wenig überraschend, wie ein genau durchdachtes DJ-Set oder Mixtape, mit elegant fließenden Übergängen und raffinierten Spannungsbögen. „It contains pleasure and pain, doubt and transcendence, and it ends somewhere that is different from where you started„, verspricht das Booklet. Und womit? Mit Recht.

Das Spektrum reicht vom gleichermaßen pumpenden wie sphärischen Auftakt mit „Delicious Light“ – getragen von den einlullenden Dreampop-Vocals der irischen Musikerin Hannah Peel – über den düsteren Psychedelic Rock von „Iron Age“ (hier singt Blaine Harrison von den hochsympathischen Mystery Jets) bis hin zum Titelsong mit seinen hypnotisierenden Drumpatterns und abermals wunderbar gehauchten Vocals von Hannah Peel.

Im programmatischen Schlusstrack „Third Mynd“ wird das Erlebnis des Trips (Stichwort: Synästhesie, also Klänge, die man plötzlich auch sehen kann etc.) sehr schön, wenn auch nicht ganz klischeefrei in Worte gefasst. Kreise, Spiralen, Springbrunnen aus Farbe, pure Schönheit und bodenlose Abgründe, alles ist da …

„It was ecstasy / and it was horrible“ (…) „Suddenly I was aware that the colours were the music“ (…) „This is how one ought to see“.

Die (teils modulierte) Sprechstimme gehört hier übrigens niemand Geringerem als dem Musikjournalisten und Autor Jon Savage, der mit „England’s Dreaming“ das, so sagt man, definitive Buch zu den Sex Pistols und dem britischen Punk im Allgemeinen geschrieben hat. Gleichzeitig ist der Mann aber ein Fan berauschender und berauschter Psychedelia – und zeigt so, dass sich die musikhistorischen Gräben zwischen Psychedelic Rock (den aufrechte Punks eigentlich als bedröhntes, Patschuli-geschwängertes Hippie-Gedöns ablehnen müssten) und Punk (den aufrechte Hippies eigentlich als zynische, nihilistisch-brutale Unmusik verachten müssten) spielend überwinden lassen. Zumindest dann, wenn man sich nicht von Genreschubladen und -Feindschaften, sondern einzig von der Liebe zu schöner, bewegender, befreiender Musik leiten lässt.

Apropos: Der schönste Song auf „The Soft Bounce“ ist aus meiner Sicht „Door To Tomorrow“, wunderbar gesungen von Euros Child, ehemals Sänger der walisischen Psychedelic-Folk-Formation Gorky’s Zygotic Mynci.

Das „Door To Tomorrow“ erweist sich dabei eher als eine Tor in die Vergangenheit, konkret in die goldene Ära der Psychedelik, also die mittleren bis späten 60er Jahre. Die im Text besungene Emily ist ein direkter Querverweis auf „See Emily Play“ (1967), einen der schönsten, betörendsten und geheimnisvollsten Songs von Pink Floyd – ein Kleinod aus jenen rundum empfehlenswerten Anfangstagen, als dort noch der große Wahnsinnige Syd Barrett am Steuer war, also aus der Ära vor der Gigantomanie und bleischweren Ernsthaftigkeit. Kaum ein Song bewegt sich so traumwandlerisch zwischen der unbeschwert-naiven und der abseitigen, unheimlichen Dimension des Psychedelischen wie dieser. Was natürlich auch den Herren Alkan und Norris nicht entgangen ist.

Auch auf „Emily Small“ (ebenfalls 1967 erschienen) von der heute weitgehend vergessenen Spät-Sixties-/Psychedelic-Band The Piccadilly Line weisen die musikhistorisch bestens bewanderten Elektroniker hier hin. (Danke, Liner Notes!)

Fazit: Der Trip von und mit „Beyond The Wizard’s Sleeve“ führt durch (drogen-)nebelverhangene, bisweilen dunkel-romantische Gefilde, es bleibt aber durchwegs ein sanfter, sonniger Ausflug. Für schlechte Trips oder gar Horrortrips gibt es andere Adressen. Wer sich aber dem eisigen, dunklen Winter durch ein wenig psychedelische Realitätsflucht entziehen will, ist hier genau richtig!

PS: „Door To Tomorrow“ wird sich definitiv auch in meinen Jahrescharts für 2016 wiederfinden. Aber das ist eine andere, unendliche Geschichte …

Vorboten, oder: Von Stille keine Spur

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 7.1:
JULIANNA BARWICK – THE HARBINGER

Schall ist nicht nur für Musikliebhaber ein interessantes Medium. Julianna Barwick entwickelte bereits als Kind eine Faszination dafür. Zunächst sang sie acapella in Chorgruppen und experimentierte damals schon in jeder freien Minute mit ihrer Stimme. In Kirchenschiffen oder auch einem großen ausgehöhlten Baumstamm auf dem Grundstück ihrer Eltern (nach dem auch ihr drittes Album „The Magic Place“ benannt ist) begeisterten sie dann die ewig widerhallenden Klänge und Echos, die später ihre Musik kennzeichnen sollten.

Im Grunde genommen ist Barwicks Musik recht simpel und besteht zum überwiegenden Großteil aus ihrer Stimme, die sie mit ihrer Boss RC-50 Loop Station manipuliert und multipliziert, und so Schicht und Schicht übereinander legt, bis die einzelnen Teile ein anmutiges bis mysteriöses großes Ganzes ergeben. Der Ursprung dieser Klänge – ihre Stimme – ist manchmal klar hörbar, auch wenn man so gut wie nie tatsächliche Wörter erkennen kann, oft ist sie aber auch bis zur Unkenntlichkeit im eigenen Reverb und dem der anderen Soundebenen ertränkt. Und wie die meisten Chöre ist auch dieser de facto Ein-Frau-Chor nicht an eine bestimmte Jahreszeit oder dergleichen gebunden. Und trotzdem assoziiere ich speziell ihr viertes Album „Nepenthe“ mit Weihnachtsstimmung, dem ersten Schneefall und all den anderen frühwinterlichen Dingen, für die das Album eigentlich nie konzipiert war. Jedes Mal, wenn sich diese Zeit des Jahres und die dazugehörige Stimmung langsam aber sicher nähert, wird Nepenthe aufgelegt. Dass jener Track des Albums, der diese Assoziation für mich am meisten beinhaltet, ausgerechnet „The Harbinger“ – sprich „Vorbote“ oder „Vorläufer“ – heißt, ist dabei ein schöner Zufall.

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Tollwut? Wut ist toll!

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 6:
FUTURE OF THE LEFT – IN A FORMER LIFE (2016)

Was ist die richtige musikalische Therapie für Post-Trump-Wahldepression und Prähoferitis? Wie hat Musik in einer Zeit zu klingen, in der AfD, Le Pen, Putin oder Erdogan die Schlagzeilen – und leider nicht nur diese – beherrschen?

Nun, sie sollte hart und schnell sein, aggressiv und zornig, räudig und krass. Oder, um es kürzer zu sagen: Sie sollte klingen wie Future of the Left.

Die wütenden Waliser – Nachfolgeband der nicht minder schlecht gelaunten Mclusky – zählen seit Jahren zu meinen absoluten Favoriten im weiten (Schlacht-)Feld zwischen Hardcore, Noise Rock und kantigem LoFi. Das hier ist die beste Musik, um Kristallvasen zu Bruch zu schlagen, das Smartphone gegen die Wand zu schleudern und mal so richtig zu randalieren (zumindest gedanklich).

Front-Psychotiker Andy „Falco“ Falkous („Sänger“ ist für den Herrn ein unzureichender Begriff) kann nicht nur schimpfen wie ein walisischer Rohrspatz, nicht nur ätzen wie Schwefelsäure, nein, er schüttelt so nebenbei auch die besten Songtitel der Welt auf dem Ärmel.

Bei Mclusky hießen die Songs beispielsweise „The Difference Between You and Me Is That I’m Not on Fire“, „Lightsabre Cocksucking Blues“, „To Hell With Good Intentions“ oder „Alan Is a Cowboy Killer“ – und waren meistens genau so gut wie ihre Titel.

Future of the Left legten mehr als würdig nach – mit Rabiatperlen wie „Throwing Bricks at Trains“, „The Hope That House Built“ (sic!), „You Need Satan More Than He Needs You“, „Sheena Is A T-Shirt Salesman“ oder „The Real Meaning of Christmas“.

„The Peace & Truce of Future of the Left“ heißt nun der jüngste, einmal mehr hochgradig sarkastisch betitelte Albumstreich. Auch die Tracks tragen natürlich wieder schöne, T-Shirt taugliche Namen, darunter „The Limits of Battleships“ oder der Zungenbrecher „If AT&T Drank Tea What Would BP Do“.

Dazu spuckt Falco wieder Gift und Galle, wie man es wohl nur auf den Straßen und in den Spelunken von Cardiff lernt – man lausche nur brachialen Krachern wie „Back When I Was Brilliant“ (mit tonnenschweren When-The-Levee-Breaks-Gedächtnisdrums und einem zwingenden Chorus im Finale) oder dem brutal-abgehackten „Reference Point Zero“.

Besonders bizarr geht es aber in „In A Former Life“ zur Sache, das allem Anschein nach von einem Typen handelt, der wechselweise als Pekinese von Prinz Paul, als Gigolo von Queen Anne, als dauerschwangerer Mann oder als Benzintank von Ron Pearlman wiedergeboren wird … „In a former life / everyone was a performer“, heißt es im Refrain. Und damit sind wir auf einmal wieder direkt bei Donald Trump. Oder doch nicht?

Denn wovon der Song tatsächlich handelt, bleibt offen. Hier geht Aristoteles ins Kino, Marie Curie kauft probiotisches Joghurt – und die Fruchtwechselwirtschaft scheint endgültig gescheitert. Mit einem Wort: Hä??

Worum es inhaltlich nun wirklich geht, ist aber ohnehin zweitrangig. Die pure Wucht, der sprühende Sarkasmus, die befreiende Energie des Punk und die Kompromisslosigkeit des Noise Rock sprechen für sich, fressen sich durch die Gitterstäbe und machen den Weg frei für neue Gedanken. Katharsis!

Mit anderen Worten: Diese Musik springt einen an wie ein tollwütiger Hund – von dem man nur allzu gerne gebissen werden möchte. Und wenn ihr es immer noch nicht glaubt, dann probiert mal das hier (natürlich in voller Lautstärke). Ihr werdet euch danach besser fühlen, versprochen!

Göttliche Komödie

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 4:
THE DIVINE COMEDY – CATHERINE THE GREAT (2016)

Eine Band, die sich nach Dantes „Göttlicher Komödie“ benannt hat – immerhin eines der bedeutendsten literarischen Werke der Weltgeschichte – widmet sich Katharina der Großen (1729-1796), immerhin eine der bekanntesten Machthaberinnen der Weltgeschichte? Das Ergebnis könnte prätentiös, aufgeblasen, ganz und gar schrecklich klingen – in Wahrheit klingt es aber unwiderstehlich leichtfüßig und höchst unterhaltsam.

The Divine Comedy sind im Grunde ja gar keine Band. Es handelt sich dabei letztlich um das Ein-Mann-Projekt des genialen Nordiren Neil Hannon, umgesetzt mit einer ganzen Armada an wechselnden MistreiterInnen. Nun hat Hannon mit „Foreverland“ nach sechs Jahren ein neues Divine-Comedy-Album vorgelegt – mit „Catherine The Great“ als erster Single.

Und man muss es sagen: Wenn man dieses Lied gehört hat, möchte man die Große Katharina sofort kennenlernen – aber natürlich nicht die echte Kaiserin, sondern nur jene aus dem Song. Denn Hannon charakterisiert diese Dame mit den vielleicht besten und witzigsten Zeilen, die ich im Popjahr 2016 (das zugegebenermaßen bisher leider ziemlich an mir vorbeigerauscht ist) gehört habe:

„She could dictate what went on anywhere“, heißt es da im Hinblick auf die Machtfülle der Monarchin, und dann, mindestens so wichtig: „She had great hair“. Generell wird hier ausgefallen gedichtet: „Brainier“ auf „Lithuania“ zu reimen, ohne dass es an allen Ecken und Enden kracht, das muss man erst einmal bringen („There were few brainier / Just ask the king of Lithuania“.)

Und wer bei folgenden Versen nicht zumindest breit grinsen muss, hat definitiv keinen Sinn für Humor:

„With her military might / She could defeat anyone that she liked / And she looked so bloody good on a horse / That they couldn’t wait / For her to invade / Catherine the Great“

Serviert wird das Ganze in einem durchaus opulenten orchestralen Arrangement, zugleich aber so fein ziseliert und unaufdringlich, dass es keineswegs überladen, sondern wunderbar luftig daherkommt. Einfacher formuliert: ein verdammter Ohrwurm!

Elegant, theatralisch, exzentrisch, ironisch, dandyesk und – sorry für das Klischee – „very british“ sind weitere Adjektive, die einem hier durch den Kopf schießen. Von herkömmlichem „Britpop“ (dem The Divine Comedy in den 90ern bisweilen zugerechnet wurden) ist das denkbar weit entfernt, ebenso von verschwitztem Rock ’n‘ Roll (womit um Gottes Willen rein gar nichts gegen verschwitzten Rock ’n‘ Roll und auch nicht gegen Britpop gesagt werden soll).

Aber das hier kommt eben aus einer ganz anderen Tradition, ist, wie im jüngsten „Musikexpress“ nachzulesen, eher französischen Chansons der 50er oder der legendären US-Songwriter-Werkstatt Rodgers und Hammerstein geschuldet. Wir reden hier also von einer Prä-Rock-n-Roll-Ära bzw. einer Tradition jenseits des Blues (womit um Gottes Willen rein gar nichts gegen den Blues gesagt werden soll, im Gegenteil).

Neil Hannon ist ein typischer Kritikerliebling. Den ganz großen kommerziellen Durchbruch hat er nie geschafft, trotz mittlerweile elf Alben und einer Vielzahl an Nebenprojekten von Filmmusik über Werbung bis Oper und diversen Kollaborationen, etwa mit dem durchaus geistesverwandten US-Kollegen Ben Folds.

Wobei: „Foreverland“ ist, soweit das heute noch irgendeine Aussagekraft besitzt, durchaus beachtlich „gechartet“: Top Ten im UK und Irland, sogar in den Schweizer und den Ö3 (!)-Charts wurden The Divine Comedy gesichtet. Für diese Welt besteht also durchaus noch Hoffnung …

Ja, die Welt ist ist bunt und vielfältig – und die von Neil Hannon ganz besonders. Sagt man jedenfalls – ich selbst bin ja absoluter Neuling im Divine-Comedy-Land. Aber das soll sich nun ändern. Denn mit jemandem, der Zeilen wie die folgenden schreibt (aus der zweiten „Foreverland“-Single „How Can You Leave Me On My Own“), sollte man sich auf alle Fälle näher auseinandersetzen:

„When you leave, I become a dickhead / A bad-smelling, couch-dwelling dickhead / I drink too many cups of tea and eat too many biscuits / I think about going out, decide not to risk it / I look at naked ladies cause I’m too weak to resist it / when you leave“.

Großes Kino, wie man so sagt.

Donau so grau

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 3:
LUDWIG HIRSCH – KOMM, GROSSER SCHWARZER VOGEL (1979)

Nein, leicht verdauliche Kost fürs Autofahrer-„Radio“ ist ein fast siebenminütiges Lied zum Thema Todessehnsucht natürlich nicht. Aber dass sich Ö3 seinerzeit das Verbot auferlegt hat, Ludwig Hirschs nachtschwarzes Chanson „Komm, großer schwarzer Vogel“ nach 22 Uhr zu spielen – aus Angst, dass es die Hörerschaft in den Selbstmord treiben könnte – ist schon eine besonders bizarre Fußnote der österreichischen Popgeschichte.

Die reichlich primitive Vorstellung, dass Menschen wegen eines Liedes (oder eines Films oder eines Computerspiels) Selbstmord begehen (oder Amok laufen oder einen Terroranschlag verüben) würden, mag zwar heute immer noch weit verbreitet sein. Aber dass ein staatliches Radio deswegen ein Sendeverbot verhängt, wäre heute wohl kaum noch vorstellbar.

Wobei: Kaum vorstellbar wäre andererseits auch, dass es ein Lied wie „Komm, großer schwarzer Vogel“ heute überhaupt jemals auf Ö3 schaffen würde, allein schon wegen der wenig formatradiotauglichen Länge und der alles andere als Ö3-Wecker-tauglichen Atmosphäre des Songs. Aber das ist eine andere Geschichte …

Dass sich die Radiomacher gerade wegen dieses Liedes solche Sorgen machten, mag umso bizarrer erscheinen, als es im Werk von Ludwig Hirsch vor morbiden und makabren Songs ja nur so wimmelt. Das Besondere – und besonders Verstörende – am „Schwarzen Vogel“ dürfte wohl gewesen sein, dass dieses Lied nicht nur traurig, sondern auf seltsame Weise zugleich sehr fröhlich ist: Denn es beschreibt die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod, auf eine Welt der neuen Erkenntnisse, der grenzenlosen Freiheit und des Glücks tatsächlich in den strahlendsten Farben, ja geradezu euphorisch:

„I wer‘ singen, i wer‘ loch’n, i wer‘ „des gibt’s ned“ schrei’n / I wer‘ endlich kapieren, i wer‘ glücklich sein!“

Der Tod wird im Text ganz klar als Erlösung beschrieben, als sehnlich erwartete Befreiung vom Schmerz: Dem sinnbildlichen Schwarzen Vogel wird Zucker aufs Fensterbrett gestreut, der Ich-Erzähler bittet ihn darum, ihm mit seinem „feichtn koidn Schnobi“ die „wunde, haaße Stirn“ zu kühlen. Und am Ende, als er den Vogel erblickt, flüstert er nur noch bewundernd: „Mein Gott, wie schön du bist …“ Dazu wird auch die anfangs getragene Musik, ca. ab Minute fünf, regelrecht euphorisch, steigert sich bis zur Ekstase.

Diese Vorstellung mag vielen Menschen, die an Depressionen oder anderen schweren Krankheiten leiden, Angehörige oder Freunde verloren haben und über Selbstmord nachdenken, tatsächlich aus der Seele sprechen.

Dass Ludwig Hirsch, der an Lungenkrebs litt, 2011 selbst aus dem Leben schied, lässt sich beim Hören dieses Liedes natürlich nur schwer ausblenden – von direkten Rückschlüssen vom Leben eines Künstlers auf sein Werk und umgekehrt sollte man aber als Musikhörer aber generell Abstand nehmen. Und bei Ludwig Hirsch ganz besonders: Denn er war vor allem ein Geschichtenerzähler, der, als gelernter Schauspieler, gern in verschiedenste Charaktere schlüpfte, häufig auch als Ich-Erzähler. Mit anderen Worten: Seine Lieder waren nicht zuletzt Rollenspiele – und wohl gerade deshalb so effektiv.

Zum anderen handeln, wie gesagt, sehr viele seiner Lieder direkt oder indirekt vom Tod, sind mal melancholisch, mal schwarzhumorig, mal einfach bitterböse, oft augenzwinkernd makaber – der gebürtige Steirer war eben doch ein echter Wiener. Und stand damit in einer großen schwarzen Tradition, die von Nestroy bis zum unerreichten Georg Kreisler reicht, der 2011 übrigens nur zwei Tage vor Ludwig Hirsch verstarb.

Was man sich als heutiger Hörer wünschen würde: Dass Hirsch – den man zwar eher mit Leonard Cohen als mit Johnny Cash vergleichen könnte – noch lange gelebt und wie Cash seinen Rick Rubin getroffen hätte. Nicht wenige seiner Nummern, speziell aus den 80er Jahren, sind leider zeittypisch hemmungslos überproduziert. Reduziert auf spärliche Arrangements und diese unverwechselbare Sprechgesangsstimme, könnte man sie sich besonders schön und intensiv vorstellen. Aber auch so wird Ludwig Hirsch als sensibler, kritischer und nachdenklicher österreichischer Poet und Liedermacher in Erinnerung bleiben.

Seine Farbe war dabei – Klischee hin oder her – stets dunkelgrau, wie es Hirsch selbst in einem Interview aus dem Jahr 2008 auf den Punkt brachte: „eine Mischung aus dem Blau der Donau und dem schwarzen Wiener Humor.“

Hier noch eine eindrucksvolle, zurückhaltende Livedarbietung des „Schwarzen Vogels“ aus dem Jahr 1993:

Weitere Anspieltipps: Spuck den Schnuller aus, I lieg am Ruck’n, Das Geburtstagsgeschenk, Der Herr Haslinger, Hobellied, Marmor, Stein & Eisen bricht, Schutzengerl

A wie Anfang. A wie Anarchie. A wie Antichrist

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 1:
SEX PISTOLS – ANARCHY IN THE UK (1976)

Zu behaupten, die Sex Pistols hätten den Punk erfunden (was bis heute immer wieder zu lesen ist), wäre musikhistorisch ungefähr so korrekt wie die Aussage, die Beatles (oder auch Elvis Presley oder Peter Alexander oder Norbert Hofer) hätten den Rock ’n‘ Roll erfunden.

Fakt ist und bleibt jedoch: Die Sex Pistols (und The Clash und The Damned und The Adverts und wie die großen und weniger großen britischen Punkbands der ersten Welle alle heißen mögen) machten aus der Musik und Geisteshaltung von – im Regelfall drogensüchtigen oder anderweitig randständigen – New Yorker Außenseitern und dem Erbe rabiater Proto-Punk- und Pubrock-Bands, die schon seit den 60er Jahren ihr raues Unwesen trieben, eine kulturelle und gesellschaftliche Massenbewegung von nachhaltigem globalem Einfluss.

Rock wurde plötzlich wieder schnell und direkt, dreckig und provokant, aufregend und rebellisch. Und die Eltern hatten endlich wieder Angst um ihre Kinder. Das komplexe, umständliche, satte und selbstzufriedene Kunsthandwerk der Progressive-Rock- und Stadion-Saurier war auf einmal wie weggeblasen, der radikale Grundgedanke des „Anyone can do it“ mündete in zahllose Band-, Fanzine- und Labelgründungen, finanzielle und intellektuelle Hemmschwellen schwanden. Punk war also vor allem auch eine strukturelle, ökonomische Revolution.

Und selbst wenn die Sex Pistols letztlich nur ein spuckendes, rotziges, grölendes, billige Drogen schluckendes Vehikel des genialen Marketingstrategen Malcolm McLaren gewesen sein sollten: Sie zählten zur Speerspitze dieser bahnbrechenden Entwicklung. Ja, sie waren selbst wie ein früher Punksong: wild, räudig und allzu schnell vorbei.

Die epochale Debütsingle der Pistols, das hämische, unterschwellig bedrohliche „Anarchy In The UK“, erblickte, unglaublich, aber wahr, vor 40 Jahren das Licht der Welt. Und Bassist Glen Matlock feiert heute, am 27. August 2016, seinen 60. Geburtstag.

40 Jahre? 60 Jahre??
Ist der frühe Punk alt geworden? Ist er heute nur noch ein kurioses Museumsstück? Wer „Anarchy In The UK“ hört, wird rasch vom Gegenteil überzeugt: Zynische, nihilistische und zugleich unglaublich energiegeladene Zeilen wie „Don’t know what I want, but I know how to get it“ bleiben für die Ewigkeit. Und die primitive musikalische Urgewalt ebenso.

In diesem Sinne: „Rrrrright! Now!!“