Betörend und verstörend: Die Schönheit der Verfremdung

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 9:
AGNES OBEL – FAMILIAR (2016)

Das Instrument der Verfremdung ist in der Kunst ein gern gewähltes Mittel: von Bert Brecht, der damit Illusionen auf der Bühne zerstören wollte (V-Effekt), bis zur digitalen Bildbearbeitung von heute, die, ganz im Gegenteil, fast perfekte Illusionen ermöglicht.

Und auch in der populären Musik sind Verfremdungseffekte allgegenwärtig, ob sie nun per Effektpedal, Computerprogramm oder auf anderem Wege erzielt werden. Als besonders ergiebig und wirkungsvoll erweist sich dabei seit jeher das Bearbeiten und Verfremden der menschlichen Stimme: Zwischen billigen Autotune-Effekten („Beliiieve“ von Cher) und ausgefuchsten (Live-)Loop-Experimenten, bei denen Künstler ihre Stimmen tausendfach vervielfältigen, verzerren und modulieren, tut sich hier ein unendlich weites Feld auf.

Besonders schön, geradezu gespenstisch schön, gelingt die stimmliche Verfremdung in unserem Track der Woche – der ausgerechnet den Titel „Familiar“ trägt. Er stammt von Agnes Obel, einer großartigen dänischen Musikerin, die derzeit, wie die halbe musizierende Menschheit, von Berlin aus tätig ist. Ihr drittes Album heißt „Citizen of Glass“ (2016) – und begeistert mit einer tatsächlich fast gläsernen Klarheit und Eleganz.

Eine in mehrfacher Hinsicht traumhafte, aus der Zeit gefallene, fast sakrale Aura umgibt Songs wie „Trojan Horses“, „Stretch Your Eyes“ oder „Golden Green“. Obels Stimme klingt dabei wunderbar sphärisch, ätherisch und melancholisch, nach dunklem Dreampop – aber es ist ein Dreampop ganz ohne Gitarrenwände, weißes Rauschen oder unterkühlte Elektronik.

Stattdessen greift die Pianistin zu allerlei eher selten gehörten Tasteninstrumenten wie Mellotron, Spinett oder Celesta, lässt Cello und Violine unterschwellige Dramatik verbreiten oder setzt mit dem Trautonium, einem wenig bekannten Synthesizer-Vorläufer aus den 1930er Jahren, dezent retrofuturistische Akzente. Obels größter Trumpf sind aber stets die delikaten, versponnen-folkigen Vokalharmonien.

Für den geisterhaft schönen Refrain der ersten Single „Familiar“ hat Obel allem Anschein nach einen Gastsänger engagiert. Aber wer ist das bloß? Und: Wieso steht der geheimnisvolle Herr nicht in den Albumcredits? Nun, ganz einfach: Es handelt sich um Agnes Obel selbst. Sie tritt hier in einen Dialog mit ihrer eigenen Stimme, die aber so verfremdet wurde, dass sie wie eine Männerstimme klingt. Sie singt also quasi ein Duett mit sich selbst als Mann. Klingt verstörend? Ja, vor allem aber betörend.

„Our love is a ghost that the others can’t see“, heißt es hier – wobei Form und Inhalt nicht besser zusammenpassen könnten.

Dass der Großmeister der filmischen Verfremdung, David Lynch (der als Musiker übrigens auch ganz stark auf bizarr verfremdete Stimmen setzt), ein erklärter Fan von Agnes Obel ist, dürfte angesichts dieser Mischung kaum überraschen. Sollte aber als weiterer Ansporn dienen, in diese seltsame, fremde Welt einzutauchen.

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