Vorboten, oder: Von Stille keine Spur

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 7.1:
JULIANNA BARWICK – THE HARBINGER

Schall ist nicht nur für Musikliebhaber ein interessantes Medium. Julianna Barwick entwickelte bereits als Kind eine Faszination dafür. Zunächst sang sie acapella in Chorgruppen und experimentierte damals schon in jeder freien Minute mit ihrer Stimme. In Kirchenschiffen oder auch einem großen ausgehöhlten Baumstamm auf dem Grundstück ihrer Eltern (nach dem auch ihr drittes Album „The Magic Place“ benannt ist) begeisterten sie dann die ewig widerhallenden Klänge und Echos, die später ihre Musik kennzeichnen sollten.

Im Grunde genommen ist Barwicks Musik recht simpel und besteht zum überwiegenden Großteil aus ihrer Stimme, die sie mit ihrer Boss RC-50 Loop Station manipuliert und multipliziert, und so Schicht und Schicht übereinander legt, bis die einzelnen Teile ein anmutiges bis mysteriöses großes Ganzes ergeben. Der Ursprung dieser Klänge – ihre Stimme – ist manchmal klar hörbar, auch wenn man so gut wie nie tatsächliche Wörter erkennen kann, oft ist sie aber auch bis zur Unkenntlichkeit im eigenen Reverb und dem der anderen Soundebenen ertränkt. Und wie die meisten Chöre ist auch dieser de facto Ein-Frau-Chor nicht an eine bestimmte Jahreszeit oder dergleichen gebunden. Und trotzdem assoziiere ich speziell ihr viertes Album „Nepenthe“ mit Weihnachtsstimmung, dem ersten Schneefall und all den anderen frühwinterlichen Dingen, für die das Album eigentlich nie konzipiert war. Jedes Mal, wenn sich diese Zeit des Jahres und die dazugehörige Stimmung langsam aber sicher nähert, wird Nepenthe aufgelegt. Dass jener Track des Albums, der diese Assoziation für mich am meisten beinhaltet, ausgerechnet „The Harbinger“ – sprich „Vorbote“ oder „Vorläufer“ – heißt, ist dabei ein schöner Zufall.

Vielleicht ist es der Umstand, dass man es als säkularisierter Mensch fast nur in dieser Zeit in eine Kirche oder ähnliches schafft. Dabei muss man nicht Julianna Barwick heißen, um von den Klangeigenschaften dieser Orte fasziniert zu sein. Ich hatte diesen Frühling die Ehre, unter anderem Sangre de Muerdago und Esben and the Witch live in einer Kirche erleben zu dürfen, und diese ewig von allen Wänden zurückprallende Akustik hat auch fernab von allen religiösen Konnotationen etwas Außerweltliches und Erhabenes.

Vielleicht ist es aber auch, dass diese Musik in all ihrer Verwaschenheit sphärisch und ätherisch, aber auch auffallend besinnlich anmutet. Ein Wort, dem man fast nur in dieser Zeit begegnet, ausgesprochen von Leuten und Institutionen, die dem weitaus weniger entsprechen als die Musik Barwicks. Siehe Teil zwei dieses Posts.

 

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: (ANTI-)TRACK DER WOCHE, # 7.2:
DISTURBED – THE SOUND OF SILENCE

Neulich benötigte ich unverhofft und spontan etwas vom Elektronikfachhandel, und ich tat, wovon einem jeder vernünftige Mensch tunlichst abraten würde, und ging an einem Samstag in der Adventzeit in die Innenstadt zum Einkaufen. Was einen dort erwartete war… zu erwarten: Zähflüssige Menschenströme machen ein geradliniges, zielgerichtetes Vorankommen unmöglich und der gesamte Frequenzbereich des wahrnehmbaren Schallspektrums ist geschwängert von einer Mischung aus hektischem Menschenlärm und den ewig gleichen Weihnachtsliedern. Und auch als Gegner längst ausgelutschter Klischeethemen und zu hohlen Phrasen verkommenen Kritikpunkten kommt man in so einem Moment nicht um den Gedanken herum, wie krass sich diese stressreiche Zeit von der ewig gepredigten Besinnlichkeit des „wahren Geistes der Weihnacht“ unterscheidet. Ein ständiges Thema von vorweihnachtlichen Reportagen und Weihnachtsfilmen. Eine Erkenntnis, so alt wie der Konsumismus und das kommerzielle Ausschlachten von Festen selbst.

Doch mitten im vorweihnachtlichen Gedränge fiel mir neben jenen unvermeidlichen Gedanken auch auf, dass mir dieses Jahr diese Dissonanz zwischen Besonnenheit und Chaos – zwischen Soll-Zustand Bescheidenheit und Ist-Zustand Maßlosigkeit – bereits vor dem Advent über den Weg gelaufen ist. In jenen Momenten des Alltags, in denen man nicht Herr_in seiner eigenen Musikauswahl ist und stattdessen mit den großen Radiosendern konfrontiert ist, kam man in den letzten Monaten nicht am Disturbed-Cover des Klassikers „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel vorbei. Und bereits der Titel und einige Textzeilen des ursprünglichen Liedes deuten an, dass es nicht bloß zurückhaltend wirkt, weil man früher noch nicht wusste, wie man in Studios Bombast und Loudness kreiert, sondern beabsichtigt ist und das Understatement Teil des Zaubers ist, der den Song so groß macht. Disturbed haben mit ihrem Cover die Antithese dieses Ansatzes hinbekommen, und gerade im späteren Songverlauf wirken die gesungenen Zeilen inmitten all der Opulenz, dem Kitsch und der Theatralik fast wie eine Karikatur.

Aber klar, mit Subtilität kommt man gegen die Chart-Konkurrenz nicht an. Es ist wohl dem Zeitgeist geschuldet, dass die Rechnung aufgeht und die Nummer allgegenwärtig und sogar die erfolgreichste Single der Band ist. Kurioser: Unter den Fans des Songs ist offenbar auch Paul Simon höchstpersönlich. Es wäre noch interessant zu erfahren, wie die Leute, die den Disturbed-Song feiern und ihm zu der Menge an Sendezeit verholfen haben, die den buchstäblich dutzenden anderen Coverversionen dieses Songs verwehrt blieben, zur Originalversion stehen. Sind es Leute, die ansonsten prinzipiell gegen jegliche neue Musik wettern und in Coverversionen – selbst wenn sie wie die Hintergrundbeschallung effekthaschender Hollywood-Filmtrailer klingen – eine Geste zurück zu alten musikalischen Glanztaten sehen? Oder langweilt solche Leute das Original sogar mit zu wenig Sound in zu viel Silence?

Der letzte Witz an der ganzen Sache, die mir diese Gedankenverkettung rund um Ruhe, Lärm und Widersprüchlichkeiten einbrockte: Das Teil aus dem Elektrogeschäft brachte nicht den erhofften Erfolg, alles war umsonst. Das einzig wahre Mitbringsel aus diesem samstäglichen Ausflug ist somit dieser Verriss.

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