ERSTER!
Das wollte ich an dieser Stelle eigentlich, wie beim Wettrennen in Kinderzeiten, hämisch ausrufen. Denn wundersamerweise ist es mir diesmal gelungen, die Jahrescharts früher in trockene Tücher zu bringen als meine geschätzten Blog-Mitautoren.
Doch dann fiel mein Blick auf die Datumsanzeige im rechten Eck meines Notebooks: Um Himmels willen, 21. Juli 2018!
Und wir reden hier ja nicht etwa von den Halbjahrescharts 2018 – für die wir ebenfalls schon reichlich spät dran wären -, sondern von den Jahrescharts 2017 …
„Die spätesten Jahrescharts der Welt“: Das ist hier aufm Blog schon fast so etwas wie ein Claim – und ja, es ist ein verdammt schlechter Claim, den man heuer noch dazu mit dem Untertitel „Noch nie waren sie so spät wie jetzt“ versehen müsste. Denn tatsächlich haben wir einen neuen Negativrekord aufgestellt.
Doch bevor ich mich in selbstmitleidigen (wenn auch auf Tatsachen basierenden) Ausschweifungen darüber ergehe, dass ich „einfach viel zu selten zum Musikhören komme und wenn dann nur unter Zeitdruck und das geht ja schon mal gar nicht und sowieso und überhaupt“, führe ich lieber ein paar gute Gründe an, warum es heuer noch länger gedauert hat als in den Jahren zuvor. Denn die gibt es!
Zum einen war es diesmal wirklich ein besonders langwieriger und zäher Ausleseprozess, bis am Ende wieder 100 Lieder im „Fixstarter“-Töpfchen und gut 500 andere im „Leider nein“-Kröpfchen gelandet sind. Denn auch wenn Pauschalurteile über die unendlichen Weiten des Pop (ein Begriff, dessen Definition letztlich in seiner Undefinierbarkeit liegt) unzulässig sind, habe ich zumindest für den kleinen Ausschnitt der aktuellen alternativen Popkultur, mit dem ich mich auseinandersetze, folgenden Eindruck gewonnen:
Vieles ist sehr gut, sehr vieles gut, noch viel mehr zumindest toll produziert, Kulturpessimismus völlig fehl am Platz. Absolute Standout-Tracks – im Sinne von modernen Instant-Klassikern – waren in diesem Jahrgang aber eher rar gesät. Während ich somit für die Chartsplätze von ca. 30 bis 80 diesmal locker 100 oder 150 Anwärter gehabt hätte (deutlich mehr als in früheren Jahren), hab ich mich bei den Top 20 so schwer getan wie nie.
Der zweite triftige Grund für die Verspätung der Verspätung der Verspätung war unser Besuch beim Primavera-Festival in Barcelona Ende Mai bis Anfang Juni diesen Jahres (und ja, irgendwann kommen meine Berichte von den restlichen Festivaltagen auch noch, großes Indianerehrenwort – allerspätestens 2023!).
Denn wie jedes Jahr spielte bei diesem betörenden Monster von einem Festival ein erklecklicher Teil meiner potentiellen Jahrescharts-BewerberInnen auf – und die Livekonzerte boten eine letzte willkommene Entscheidungshilfe. Das galt naturgemäß besonders für Wackelkandidaten: Während etwa die Pseudohipster von Starcrawler und leider auch der sympathische Rostam nach unterirdischen Livedarbietungen endgültig aus dem Jahrescharts-Kader flogen, schafften es z. B. die wunderbaren Damen von Ibeyi noch hinein, ebenso Cari Cari mit ihrem reduzierten, The-Kills-artigen Sound, den ich bizarrerweise erst in Barcelona bewusst wahrgenommen habe – obwohl es sich hier um eine österreichische Band handelt …
Doch auch in deutlich luftigeren Chartshöhen gab es durch das Primavera noch entscheidende Veränderungen: So musste ich Cigarettes After Sex nach einem sound- und stimmungstechnisch schwer enttäuschenden, letztlich fürchterlich faden Konzert trotz ihrer traumhaften Songs fast zwangsläufig noch ein paar Plätze hinabstufen (was ihnen herzlich wurscht sein wird). Umgekehrt sind z. B. Slowdive, die Sparks oder Charlotte Gainsbourg nach magischen, elektrisierenden Auftritten noch ein paar Sprossen die Chartsleiter hinaufgewandert. Entscheidend is aufm Platz!
Davon abgesehen nur noch ein paar allgemeine Aspekte, die mir beim Wühlen durch die zahllosen Schichten und Verwerfungen des Pop-Jahrgangs 2017 aufgefallen sind:
– Frauen geben den Ton an. Die kreativste, originellste, zwingendste und dringlichste Musik kam 2017 erneut sehr, sehr oft von Künstlerinnen unterschiedlichster geographischer und stilistischer Herkunft. Darunter waren (ein Blick auf die Top5 reicht) zahlreiche mir bisher unbekannte Namen wie die deutsch-amerikanische Alleskönnerin Sophia Kennedy, die kompromisslosen englischen Country-Punks von Goat Girl, Österreichs höchsteigene Autotune-Queen Mavi Phoenix oder etwa Noga Erez aus Israel, Mo Kenney aus Kanada, Kelly Lee Owens aus Wales oder Susanne Sundfør aus Norwegen.
Aber auch international schon lange etablierte Künstlerinnen wie z. B. die US-Amerikanerinnen Aimee Mann, Amanda Palmer oder Alela Diane sorgten verlässlich für großartige neue Musik. Und dabei haben die allerorts gefeierten Songs von Jahresregentinnen wie Lorde oder St. Vincent bei mir gar nicht den Weg in die Charts gefunden …
– Durchgehend überzeugende Alben waren selten. Über die volle Albumlänge hinweg die Spannung aufrechtzuerhalten, ist für Musiker sicher von jeher wahnsinnig schwierig (zumal die Aufmerksamkeitsspanne des durchschnittlichen Hörers durch die Viele-viele-bunte-Smarties-Welt von YouTube und Spotify nicht eben zugenommen haben dürfte). 2017 ist dieses Kunststück aus meiner Sicht u. a. der schon erwähnten Sophia Kennedy, Stephin Merritts nicht minder genialen Magnetic Fields (sogar über fünf Alben hinweg!), den begnadeten Jammerern von Flotation Toy Warning, Ariel Pink oder den Mountain Goats sehr gut gelungen.
Bei vielen anderen, an sich tollen Künstlern und Bands haben sich auf Albumlänge hingegen doch oft erhebliche Längen eingeschlichen. Mir persönlich ist es 2017 etwa mit Feist, den Fleet Foxes, alt-J oder sogar den von mir hochgeschätzten Grizzly Bear (deren jüngstes Album natürlich trotzdem viel Qualität hat) so ergangen. Wobei: War das jemals grundlegend anders? Waren die meisten Alben nicht immer schon zu lang? Und sind Singles/Einzelsongs nicht das wahre Medium des Pop, heute mehr denn je?
– Hip-Hop ist 2017 eher an mir vorbeigegangen. Ausgerechnet in jenem Jahr, in dem Hip-Hop in den US-Charts erstmals Rock als meistgehörtes Genre abgelöst hat (als einflussreichste Jugendkultur hat er das ohnehin schon lange getan), konnte mich nur relativ wenig aus dieser Ecke des Universums wirklich überzeugen. Ob Vince Staples, Cardi B oder z. B. auch die jüngste Run The Jewels: Klingt alles fett, hat fast immer einen eindrucksvollen (oder etwa im Fall von Yung Hurns Cloud-Rap zumindest ungewöhnlichen) Flow – doch die wirklich zwingenden Samples, Beats, Hooks und Refrains, die Hip-Hop für mich spannend machen, konnte ich nur selten entdecken. Aber vermutlich habe ich die richtigen Pretiosen einfach nur überhört: Ich hoffe, die Kollegen Steff und Johannes können da in ihren Jahrescharts aushelfen!
– Aus Österreich kam auch 2017 viel großartige Musik – abseits von Wanda und Bilderbuch. Ultramoderne R&B/Hip-Hop/Urban-Klänge von Mavi Phoenix, Dreampop und Surfrock von Crush oder DIVES, cleverer Mundart-Rap von Kreiml & Samurai oder die NDW-Wiedergänger FLUT, die mit ihren zackigen Synthie-Ohrwürmern in den 80ern womöglich ganz groß herausgekommen wären: Die Bandbreite spannender zeitgenössischer Musik aus Österreich ist und bleibt erfreulich groß. Dass Wanda mittlerweile nur noch auf Ö3 laufen und plötzlich auch meinen Bürokollegen ein Begriff sind oder Bilderbuch auch schon mal spannender geklungen haben, ist da leicht zu verschmerzen.
Und was mich – jenseits jedes kleinkarierten Lokalpatriotismus – besonders freut: Auch zwei höchst gegensätzliche Tiroler Bands bereichern diesmal die Jahrescharts: MOLLY gleich zweimal mit ihrem süchtig machenden, meisterlich arrangierten Shoegaze, und Von Seiten der Gemeinde mit feinen Samples aus den tiefsten Tiefen der Lokalberichterstattung.
So, bevor es nun endlich ans Eingemachte in Form der Rangliste geht, noch ein kleines Geständnis: Ein, zwei Mal habe ich beim Datum der Songs wieder geschwindelt – diesmal sogar bei der Nummer zwei der Charts. Schließlich ist Goat Girls bitterböser Zweiminüter „Scum“ schon 2016 als Single erschienen. Aber ihn damals schon vor die Lauscher zu bekommen, war für mich schlicht unmöglich. Und vor allem passt diese zornige Abrechnung mit Renationalisierung, Abschottung, Brexit, allgemeiner Engstirnigkeit und aggressiver Dummheit leider nur allzu gut ins Jahr 2017. Oder auch 2018.
How can an entire country be so fucking thick? Hold tight to your pale ales / Bite off your nationalist nails / We’re coming for you, please do fear / You scum aren’t welcome here …
Und: Im Grunde ist es ja völlig zweitrangig, wann genau ein bestimmter Song oder Track nun erschienen ist, solange er nur etwas in uns auslöst. In diesem Sinne ist es, so glaube ich, doch wieder eine hörenswerte Songsammlung geworden. Jetzt bleibt mir nur noch zu hoffen, dass sich viele von euch die Spotify-Playlist (ganz unten zu finden!) oder zumindest Ausschnitte davon anhören und ein paar schöne Entdeckungen machen werden. Über Feedback freue ich mich wie immer sehr!
JAHRESCHARTS 2017 – MICHAEL DOMANIG
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- Sophia Kennedy – Something Is Coming My Way
- Goat Girl – Scum
- Cosmo Sheldrake – Come Along
- Goat Girl – Cracker Drool
- Mavi Phoenix – Aventura
- MOLLY – Glimpse
- FLUT – Sterne
- Cigarettes After Sex – Apocalypse
- Benjamin Clementine – God Save the Jungle
- Ariel Pink – Bubblegum Dreams
- The Sadies – The Elements Song
- The Magnetic Fields – ’75: My Mama Ain’t
- Sophia Kennedy – William by the Windowsill
- Das Lunsentrio – Das letzte Edelweiß
- Benjamin Clementine – Jupiter
- The New Pornographers – High Ticket Attractions
- The Magnetic Fields – ’69: Judy Garland
- Jordan Klassen – Dominika
- Kendrick Lamar – DNA.
- FLUT – Linz bei Nacht
- Cigarettes After Sex – Each Time You Fall In Love
- Robert Plant – Carry Fire
- Adrian Crowley – Unhappy Seamstress
- Ariel Pink – Dedicated to Bobby Jameson
- Aimee Mann – Goose Snow Cone
- Belle & Sebastian – We Were Beautiful
- The Magnetic Fields: ’92: Weird Diseases
- Crush – Please Me
- Kodak Black – Tunnel Vision
- Kane Strang – My Smile Is Extinct
- Slowdive – Sugar for the Pill
- Declan McKenna – Humongous
- Superorganism – Something For Your M.I.N.D.
- King Gizzard & The Lizard Wizard – Crumbling Castle
- MGMT – Little Dark Age
- Matias Aguayo & The Desdemonas – Nervous
- LeVent – Rabbits
- Noga Erez – Off the Radar
- alt-J – Pleader
- Morissey – Spent The Day in Bed
- Sparks – Missionary Position
- Mo Kenney – Unglued
- Nick Garrie – The Moon and the Village
- The Flaming Lips – There Should Be Unicorns
- LOT – Was für ein Life
- Alela Diane – Émigré
- The Magnetic Fields: ’73: It Could Have Been Paradise
- Mark Lanegan – Emperor
- Flotation Toy Warning – The Moongoose Analogue
- Amanda Palmer & Edward Ka-Spel – The Clock at the Back of the Cage
- Susanne Sundfør – The Sound of War
- The Mountain Goats – Rain in Soho
- Dan Croll – Away From Today
- John Maus – Touchdown
- Grizzly Bear – Wasted Acres
- L’Impératrice – Erreur 404
- Lali Puna – The Bucket
- The Mountain Goats – We Do It Different on the West Coast
- Sophia Kennedy – A Bug on a Rug in a Building
- Liars – No Tree No Branch
- Von Wegen Lisbeth – Wenn du tanzt
- Ariel Pink – Dreamdate Narcissist
- The Sadies – Another Season Again
- Ghostpoet – Freakshow
- Das Lunsentrio – Im Goldenen Hahn (Bumm Bumm Bumm Bumm / Bamm Bamm Bamm Bamm)
- John Maus – Teenage Witch
- Flotation Toy Warning – King of Foxgloves
- Kelly Lee Owens – Throwing Lines
- LCD Soundsystem – call the Police
- Grizzly Bear – Mourning Sound
- MOLLY – Time and Space
- DIVES – Shrimp
- The New Pornographers – Whiteout Conditions
- Las Robertas – Sun Haze
- Die Buben im Pelz feat. Voodoo Jürgens – Geisterstadt der lebenden Toten
- Toothless feat. The Staves – The Sirens
- Tamikrest – Wainan Adobat
- First Breath After Coma – Salty Eyes
- King Gizzard & The Lizard Wizard – Rattlesnake
- Fionn Regan – Babushka-Yai Ya
- Ibeyi – Away Away
- The National – The System Only Sleeps in Total Darkness
- Fleet Foxes – If You Need To, Keep Time On Me
- Kreiml & Samurai feat. Monobrother – Wiener
- Charlotte Gainsbourg – Deadly Valentine
- Wand – Bee Karma
- All Them Witches – Bulls
- Dead Cross – Seizure and Desist
- The Magnetic Fields – ’67: Come Back as a Cockroach
- Kelly Lee Owens feat. Jenny Hval – Anxi.
- The Molochs – Charlie’s Lips
- Cari Cari – Nothing’s Older Than Yesterday
- Temples – Oh the Saviour
- Thunder Jackson – Guilty Party
- Jim White – Long Long Day
- Témé Tan – Ça Va Pas La Tête?
- Django Django – Tic Tac Toe
- IDLES – Mother
- Waxahatchee – Never Been Wrong
- Von Seiten der Gemeinde – Graukas drau