Festivalbericht: Primavera Sound, Parc del Fòrum, Barcelona, 30. Mai 2018:
Primavera Sound Festival in Barcelona! Das bedeutet (mindestens) vier Tage totaler audiovisueller Reizüberflutung, umgeben von der atemberaubenden zeitgenössischen Architektur des Messegeländes Parc del Forum und zehntausenden Musikfreaks, Checkern und Hipstern aus aller Welt. Das bedeutet die Qual der Wahl, weil oft auf drei oder vier Bühnen gleichzeitig KünstlerInnen spielen, die man alle verdammt gern gesehen hätte. Es bedeutet den Luxus (oder Irrsinn?), auch mal Weltstars links liegen zu lassen, um sich stattdessen irgendeinen Geheimtipp auf einer der kleineren Bühnen zu genehmigen. Und es bedeutete für uns heuer auch etwas protzige, ähem, goldene, räusper, VIP-Armbänder um unsere Handgelenke. Bling bling!
Moment mal!, wird die sozialkritische, linksliberale Leserschaft hier gleich einwenden. VIP?! Geht’s noch? Habt ihr zu viel Geld? Und vor allem: Ist das noch Rock ’n‘ Roll? Oder doch schon eher die Kapitulation vor dem eigenen Alter? Was kommt als nächstes – Champagner und Horsd’œuvre vor dem Konzert?
Dazu kann man nur sagen: Stimmt, 400 Euro für einen Festivalpass sind echt verdammt viel Geld. Aber auch sehr gut investiertes Geld! Denn man kann sich damit viele der – zumindest aus meiner Sicht – recht mühsamen und unnötigen Nebenerscheinungen eines Festivals ersparen: zum Beispiel das endlose Anstehen an Bier- und Essensständen, die Rückenschmerzen nach Stunden ohne geeignete Sitzmöglichkeit oder die aussichtslose Suche nach den befreundeten Festivalbesuchern („Treff ma ins um hoiwe zwoa vor der Hauptbühne, i steh links bei dem komischen Scheinwerfer oder wos des is“ – „Do is koa Scheinwerfer“) …
Nein, die Vorteile der güldenen Bling-Bling-Bänder sind nicht vom Handgelenk zu weisen: Dazu zählen u. a. ein eigener Einlass, eine Art „Priority Boarding“, am Festivalgelände und bei den zwei größten Bühnen, so dass man ganz vorne rein kann (zugegeben, das habe ich zu meiner Schande viel zu wenig ausgenützt – aber meine Lieblingskünstler auf dem Festival haben großteils nicht dort gespielt), eigene „Pro“-Bereiche, an denen stets ausreichend gemütlicher Sitzplätze zur Verfügung standen (bei mir zwickt es spätestens nach drei Konzerten ohne Sitzpause leider in Rücken und Knie – jaja, ich bin ein alter Sack!) und eigene Getränkestände ohne Schlangen, dafür aber mit absolut fairen Preisen (das Bier um ehrliche 2,50, Wasser noch deutlich günstiger). Und zugleich gab es immer einen sicheren Treffpunkt, wenn wir fünf IndividualistInnen uns mal wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut hatten.
Klingt nach Gated Community? Ja, aber in dem Fall hatte ich ehrlich gesagt nichts dagegen …
So, jetzt aber endlich zur Musik: Nachdem wir am Dienstagabend (dem Anreisetag für die meisten von uns) eine Clubshow mit den Postrockern The Sea & Cake ausgelassen hatten (Burger statt Kuchen war auch nicht schlecht), kamen die ersten Takte Musik, die wir am Festival hörten, von der katalanischen Formation Holy Bouncer: Die sind mir trotz ihres durchaus ansprechenden und gefälligen Retro-Psychedelic-(Soft)Rocks aber deutlich weniger im Gedächtnis geblieben als das direkt darauffolgende Konzert …
Die Soundqualität sollte sich auf diesem Festival leider bei einer Reihe von Künstlern als Problem herausstellen (während sie bei anderen absolut göttlich war, dazu später mehr) – aber was bei Starcrawler passierte (oder eben nicht passierte), stellte alles andere in den Schatten.
Kollege Steff hatte schon im Vorfeld prophezeit, dass es sich hier um eine austauschbare Band handeln dürfte, „die in zwei Jahren sowieso keiner mehr kennt“ und die ihren guten Slot (später Nachmittag am ersten richtigen Festivaltag) nur durch irgendwelche undurchschaubaren Plattenfirmen- und Promoter-Deals bekommen habe. Da hat er wohl recht (auch wenn die Gruppe aus L.A. von Ryan Adams produziert wurde und Größen von Shirley Manson bis Elton John sich als Fans des angeblichen „next big thing“ geoutet haben). Aber mit „I Love L.A.“ haben Starcrawler immerhin einen rotzigen, fetzigen Indie-Rock-Hit im Repertoire, den ich gerne gehört hätte.
Doch daraus wurde leider nichts. Denn in den ersten 15 bis 20 Minuten war von der exaltierten Sängerin Arrow de Wilde nämlich leider nichts zu hören. Und zwar buchstäblich: NICHTS. Die bedauernswerte Dame war nicht etwa zu leise gemischt, sondern sie war überhaupt nicht gemischt. Umso lauter gemischt waren dafür leider die schaurig-schiefen Background-Vocals des Bassisten (oder wer immer das war), der somit die einzigen erkennbaren Gesangsparts lieferte. Na gut, einen Meter vor der Bühne hätte man vielleicht irgendeinen Laut von Mrs. de Wilde vernehmen können, aber ansonsten: Silent Karaoke.
Was schon beim Auftritt einer Schülerband unangenehm wäre, schien hier – auf einer riesigen Bühne und vor einer doch erklecklichen Zuhörer(?)zahl – niemand von der Band oder den Soundmenschen zu bemerken. Nicht einmal mehrere Fans, die sich demonstrativ zu den Mischern am Soundpult umdrehten und ihnen den Mittelfinger zeigten (!), konnten daran zunächst etwas ändern. Und all das bei einer Band, die einzig und allein von ihrer Sängerin vor dem totalen Mittelmaß bewahrt werden könnte!
Der anfangs fehlende – und auch danach kaum wahrnehmbare – Gesang wirkte umso bizarrer, als die spindeldürre Arrow zugleich eine expressive Zombie-Vogelscheuchen-Show abzog, sich auf der Bühne herumwälzte, sich mit Kunstblut beschmierte und noch einige andere Moves vollführte, die wohl Gefährlichkeit (oder so) signalisieren sollten. In Summe ein sehr, sehr befremdlicher Auftakt!
Danach folgte zum Glück rasch der erste große Festivalhöhepunkt: Spiritualized live und exklusiv mit Orchester und Chor, noch dazu im „Auditori Rockdelux“, einem grandiosen Konzertsaal, der den Besuch allein schon gerechtfertigt hätte.
Um dort hineinzukommen, brauchte man zunächst jedoch Extrakarten, die zwar äußerst billig (2 Euro), dafür aber natürlich streng begrenzt waren. Und wir hatten absolut unterschätzt, welche Zugkraft die englische Spacerock/Psychedlic-Kultband – die im Grunde nur aus ihrem Mastermind Jason Pierce vulgo J. Spaceman besteht – auch heute noch oder erst recht wieder besitzt. Und so stellte sich heraus, dass die laaaaange, aus vielen, vielen Windungen bestehende Menschenschlange nicht etwa jene für die Festivalbänder war (und schon gar nicht jene für die VIP-Bänder), sondern eben die für Spiritualized. Mindestens eine Stunde in der prallen Sonne – und diverse bange Momente (würde der Ticketschalter direkt vor unserer Nase zugeknallt werden?) – galt es zu überstehen, bis wir die begehrten Karten endlich in Händen hielten. Manch ein Hardcore-Fan dürfte hingegen zu spät gekommen sein.
Der Aufwand – inklusive erneutem Anstehen vor dem und hektischem Platzbesetzen im Auditori – hat sich aber mehr als ausgezahlt. In seinen besten Momenten (und davon gab es viele) war dieses Konzert nämlich mehr als ein Konzert: ein absolut überwältigendes Gesamterlebnis.
Musikalisch wirkten Pierces kosmische Kompositionen in dieser besonderen Darreichungsform wie eine Mischung aus bedröhntem Psychedelic Rock und schwerelosem Gospel – es steckt tatsächlich ein erstaunlich großer „Spiritual“-Anteil in Spiritualized. Kurios wirkt das höchstens auf den ersten Blick, eigentlich passt es sogar sehr gut zusammen: Schließlich geht es sowohl bei psychedelischer Musik als auch bei Gospel um das Streben nach irgendeiner Art von Himmel, nach Entgrenzung und Erlösung. Es sind letztlich zwei verschiedene musikalische Wege mit dem selben Ziel.
Das Orchester und der größtenteils weibliche Chor waren dabei die idealen Wegbegleiter, sie trugen die schon im Original oft choral und orchestral angelegten Arrangements stellenweise perfekt. Chor und Orchester mögen in der Popmusik häufig nur Effekthascherei und schmückendes Beiwerk sein, der Versuch, in elitäre „Hochkultur“-Kreise vorzustoßen – hier war das eine vollkommen schlüssige, eindrucksvolle Umsetzung. Nicht umsonst platzierte sich Pearce bescheiden am rechten Bühnenrand und überließ dem Orchester den Platz im Zentrum.
Am besten gefiel mir persönlich freilich das rein instrumentale Doppelpack aus „Born, Never Asked“ (im Original offenbar von der berühmten Laurie Anderson) und „Electric Mainline“ – eine einzige berauschende, euphorisierende Lärmlawine. Weitere Höhepunkte waren der gigantische Gospel „Shine A Light“, „I Think I’m In Love“, das fast schon (zu?) ausgelassene „Soul On Fire“ und natürlich das wohl bekannteste Stück, „Ladies and Gentleman, We Are Floating in Space“, der Titelsong des legendären 1997er-Albums. Wobei sich Pearce und der Chor ausgerechnet hier anfangs eher im Weg zu stehen schienen. Es wurde dann aber doch noch eine großartige Nummer – samt wunderschön eingewobenen Zeilen aus „Can’t Help Falling in Love!“
Dazu gab es eine atemberaubende, offenbar auf totale Überwältigung abzielende visuelle Show, wie zumindest ich sie noch nie erlebt habe – ein Gesamtkunstwerk aus pulsierendem Stroboskop-Licht (das alleine schon ausgereicht hätte, mich in Trance und Epileptiker in Panik zu versetzen), atmosphärischer Bühnenbeleuchtung und suggestiven Visuals von Wolken, Sternen und Sternenwolken. Dazu kamen noch die ganz individuellen Farbfetzen, die der eigene Sehapparat als Reaktion auf das visuelle Dauerfeuer entwickelte – selbst mit geschlossenen Augen gab es kein Entkommen. In Summe war das stellenweise ein wirklich magischer Trip, frei nach dem Albumtitel von Pierces früherer Band Spacemen 3: „Taking Drugs To Make Music To Take Drugs To“. Nur, dass das hier zum Glück ganz ohne gefährliche Rauschmittel funktionierte.
Dass das überwältigende Niveau nicht durchgehend gehalten werden konnte (mir wurde es ab und zu ein wenig ZU gospelig) und bei den eher simpel gestrickten Lyrics von Pearce die Grenze zur Banalität bisweilen nicht mehr weit entfernt ist – geschenkt. Ein erhebender, prägender Abend war es allemal! (Nur schade, dass es seitens des Primavera Festivals ausgerechnet von diesem Ereignis keine offiziellen Aufnahmen zu geben scheint?!)
Für einen wunderbaren Ausklang am Festivalgelände sorgten dann die von mir sehr geschätzten Belle and Sebastian aus Schottland: Sie brachten ihren fein ziselierten, delikaten Gitarrenpop perfekt auf die große Apple-Music-Bühne – und bewiesen, dass „leichtfüßig“ rein gar nichts mit „leichtgewichtig“ zu tun hat.
Angeführt vom blendend gelaunten und disponierten Sänger Stuart Murdoch, der einen lässigen, sexy Frontmann abgab, und der nicht minder großartigen Violinistin und Sängerin Sarah Martin, setzte es einen tollen Mix aus neuen Songs (das wunderbare „We Were Beautiful“ schafft es als Späteinsteiger sicher noch in meine Jahrescharts 2017) und dem erstaunlich reichen Fundus an Bandklassikern wie „I’m A Cuckoo“, „Perfect Couples“, „The Boy With The Arab Strab“, „Judy And The Dream of Horses“ oder „Legal Man“.
All das wurde von den Schotten hochsympathisch, unglaublich souverän und vor allem wunderbar locker dargeboten – auch und gerade, als zu „Sukie In The Graveyard“ begeisterte Mädels und später, gendergerecht, Typen aus dem Publikum auf die Bühne geholt wurden, um dort mit Murdoch ausgelassen das Tanzbein zu schwingen. Auch aus der Distanz des VIP-Areals betrachtet, versprühte das einfach extrem viel gute Laune – genau das Richtige zu dieser fortgeschrittenen Stunde!
Mit „The Party Line“ (aus meinen Jahrescharts 2015, falls das irgendwen interessiert) folgte als zweite Zugabe dann auch noch der optimale Rausschmeißer zum Mithüpfen und Mitsingen. Die wunderbare Leichtigkeit des Seins!
Weit weniger leicht waren unsere kollektiven Beine und Augenlider dann gegen halb drei Uhr morgens in der Sala Apolo in der Innenstadt von Barcelona, wo wir dennoch mit freudiger Erwartung auf die Clubshow „unserer“ Mavi Phoenix warteten. Mit Lokalstolz hat das wenig zu tun – der hat immer etwas Lächerliches und Problematisches an sich, erst recht bei etwas definitionsgemäß so Globalem wie der Popkultur. Aber ich freue mich doch, dass zurzeit (eigentlich schon seit einigen Jahren) so viel gute und vielfältige Musik aus Österreich kommt. Und ich war ehrlich gespannt, wie sich die junge Sängerin mit den syrischen Wurzeln bei ihrem Barcelona-Debüt schlagen würde!
Nun, nach dem ohrenbetäubenden Set der russischen Underground-Elektronikerin Kedr Livanskiy, bejubelt von einem prall gefüllten Saal, fiel zunächst einmal auf, dass der Sound bei Mavi deutlich leiser (zu leise?!) – und der Raum deutlich weniger voll war. Doch mit selbstbewusster Bühnen- und toller Stimmpräsenz machte die Künstlerin (nur begleitet von einem Typ an den Reglern) das sofort wett. Sie kredenzte ein dichtes, unterhaltsames Set ohne Durchhänger, bei dem man sich wirklich so fühlte, wie es in der 500 Seiten starken „Bibel“, die man als VIP ins Nikolaussackerl gesteckt bekam, beschrieben wurde: „like going on a safari in the universe of contemporary urban music“.
(Foto: Stefan Pletzer)
Ob brandneue Nummern wie „Bite“, „Love Longtime“ oder das heftig beklatschte „Yellow“ (bei dem mir die Vocoder-Effekte im Refrain dann doch etwas zu sehr nach dem dunklen Eurodance-Zeitalter klingen; aber gut, die Jungen stehen halt gerade voll auf Autotune) – ein potentieller Hit folgte dem nächsten. Das großartige „Janet Jackson“ widmete Mavi Phoenix dann tatsächlich Janet Jackson, der sie, wie sie erzählte, seinerzeit sogar ein E-Mail mit der Bitte um Zusammenarbeit geschrieben hatte. (Anm.: Liebe Janet, du solltest dir die Sache vielleicht doch noch einmal überlegen – in Sachen Cool- und Freshness könntest du hier inzwischen einiges lernen!). Zum Abschluss wartete dann natürlich das noch tollere „Avventura“, das weit über Österreich (und, ähem, meine Jahrescharts) hinaus zum Smashhit geworden zu sein scheint. Shove it up your … eh scho wissen.
Am Ende waren trotz der frühen Morgenstunde wieder deutlich mehr Zuhörer am Parkett als zu Beginn des Konzerts – bestes Zeugnis dafür, dass es ein gelungener Auftritt war. Wie es Mavi Phoenix tags darauf bei einem weiteren Konzert auf der ungleich größeren Pitchfork-Bühne ergangen ist, konnte ich bis jetzt leider nicht herausfinden. Ich bin mir aber sicher, dass sie auch dort einige neue Fans gewonnen hat.
(Foto: Stefan Pletzer)
Für uns ging damit ein intensiver erster Tag zu Ende. Wobei die richtig langen, anstrengenden Tage erst noch kommen sollten – mit zu erwartenden Highlights, erfreulichen Überraschungen, aber auch einigen ziemlich heftigen Enttäuschungen. Also: Stay tuned!