Konzertbericht: Mike Watt & The Missingmen / Guess What / L’Oeillere, PMK Innsbruck, 1. April 2014
In „We jam econo“, einer spannenden und berührenden Doku über die einflussreiche kalifornische (Post)Punk-/Hardcore-/Experimental-/Politband Minutemen, die im Vorfeld dieses Innsbrucker Konzertabends zu sehen war, gibt es einen besonders schönen Moment: Mike Watt, Bassist und einer der beiden gleichberechtigten Songschreiber der Minutemen, erinnert sich an die Aufnahmen zum 1983er-Album „What Makes a Man Start Fires?“ und speziell an den Song „The Anchor“.
Denn: „It’s our first song where we go over two minutes, it’s two minutes and five seconds or so“. Um sich zu vergewissern, blättert Watt kurz im Booklet nach und stellt dann überrascht fest: „No, it’s two thirty. Phew! That’s our opus …“
Ein vielsagendes Statement: Denn obwohl der Bandname „Minutemen“ nichts mit der Länge der Songs zu tun hat (er ist vielmehr eine Anspielung auf die gleichnamige Miliz aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und ein Seitenhieb auf eine rechtsextreme, reaktionäre Gruppe der 60er Jahre, die sich ebenfalls so nannte), passt er auch in dieser Hinsicht: Denn die Songs der Minutemen waren nicht nur explosiv, zornig und rasant, sondern vor allem wahnsinnig kurz. „What Makes a Man Start Fires?“ enthält 18 Songs – und dauert nicht einmal 27 Minuten. Auf „The Punchline“ von 1981 dauert der längste Song 1:18 Minuten, der kürzeste ist schon nach dreißig Sekunden vorbei!
Wie damals aufgenommen wurde, beschreibt Spot, einer der Produzenten der Minutemen, in der Doku: „Let’s forget about this multitrack stuff, let’s just set it up and do it live to two-track. You know, one take, bam!, it’s done. You‘re mixing it while you’re playing it – and that’s what we did“.
So kurz und ereignisreich wie ihre Songs war auch die Karriere der Formation aus San Pedro: Doch zwischen 1980 und 1985 hinterließen die Minutemen nicht nur viel Musik, sondern auch bleibenden Eindruck. Das machen prominente Weggefährten aus den 80ern in der Doku deutlich: Von Lee Ranaldo (Sonic Youth) über Henry Rollins bis hin zu J.Mascis (Dinosaur Jr.), von Jello Biafra (Dead Kennedys) bis Flea von den Chili Peppers äußern sich viele zentrale Figuren der amerikanischen Punk- und Alternative-Bewegung höchst positiv über die Minutemen.
Was das Trio – das außerhalb der Szene nie größeren kommerziellen Erfolg hatte – so besonders machte, war wohl nicht nur die Kürze der Songs (die war ja ein generelles Markenzeichen des US-Hardcore), sondern auch die stilistische Vielfalt. Der eigenständige „Avant-Garage“-Sound der Minutemen speiste sich nämlich aus verschiedensten Quellen.
Dazu zählte etwa der minimalistische, brutale Sound britischer Postpunk-Bands wie Pop Group, Wire oder Gang of Four (der damals in Amerika einflussreicher war als auf der Insel selbst); ebenso der radikale Avantgarde-Blues von Captain Beefheart (den Watt als „Protopunk“ betrachtet); aber auch jene Musik, mit der die Minutemen-Mitglieder aufgewachsen waren: Country, Funk, klassischer Rock von CCR über Cream bis Blue Öyster Cult. Diese grundsätzliche Offenheit war in der strengen US-Hardcore-Szene der 80er durchaus ungewöhnlich.
Als Meisterwerk der Minutemen – und als eines der besten amerikanischen Rockalben der 80er Jahre – gilt das Doppelalbum „Double Nickels On The Dime“ von 1984 (von dem auch das obige „Corona“ stammt). Aus den insgesamt 45 Liedern (!) soll die angesprochene stilistische Vielfalt besonders gut herauszuhören sein (ich selber kann das nicht beurteilen, werde mir das Album aber schleunigst ordern …).
Die Minutemen waren bekannt für ihren stacheligen, schrillen, kantigen Gitarrensound – und der war eine bewusste politische Entscheidung der Band, wie einer der Zeitzeugen in der Doku meint: „It was a political decision for them to separate bass and treble in a very, very distinctive way – as sovereign states. Political sovereignty“.
Auch die Minutemen sind also ein Beispiel dafür, wie Musiker auch auf der reinen Soundebene politische Statements treffen können (übrigens eine zentrale These in meiner Diplomarbeit über politische Musik aus dem Jahr 2008).
Wobei die Minutemen auch in ihren Texten eminent politisch und (US-)systemkritisch waren. Dafür bürgte neben Mike Watt (der als stilprägender Bassist gilt und dem Bassspiel im Punk neue Wege aufgezeigt hat) auch der zweite Songwriter, Gitarrist und Hauptsänger der Minutemen, D. Boon.
Seine faszinierende Persönlichkeit nimmt in der Doku besonders viel Platz ein: Boon war ein Schwergewicht vom Aussehen eines großen, dicken Kindes, der sich auf der Bühne aber umso energiegeladener bewegte. Er war ein hochbegabter, innovativer Gitarrist mit ausgeprägtem linkem (Arbeiterklasse-)Bewusstsein und einer Vorliebe für unglaublich hässliche Schuhe. Vor allem aber war er (trotz teils heftiger Streitereien) Mike Watts bester Freund seit Jugendtagen (angeblich fiel Boon im Park von einem Baum und landete direkt neben Watt).
Ihr letztes Konzert bestritten die Minutemen im Dezember 1985 im Vorprogramm einer aufstrebenden Collegerock-/Alternative-Band namens R.E.M. (wobei sich Michael Stipe & Co. sehr für ihre unbekannteren Kollegen einsetzten). Am 22. Dezember verunglückte D. Boon bei einem Autounfall tödlich (er gehört damit übrigens ebenfalls dem traurigen „27 Club“ an). Doch die tiefe Freundschaft zwischen ihm und Watt wirkte weiter. So hat Watt zum Beispiel sämtliche Veröffentlichungen seiner 1986 gegründeten, ebenfalls sehr einflussreichen Band fIREHOSE und all seine Soloalben dem verstorbenen Freund gewidmet.
Und auch beim Konzert von Mike Watt & The Missingmen im PMK Innsbruck (um endlich darauf zu sprechen zu kommen) war D. Boon präsent: Watt trug auf seinem Bass ein Bild des Freundes. Und das Publikum sang vor Konzertbeginn sogar ein Geburtstagsständchen für den Musiker, der an genau diesem Tag (dem 1. April!) 56 Jahre alt geworden wäre.
Nach einer ganzen Reihe von Kollaborationen (z. B. mit Sonic Youth, J. Mascis oder Porno for Pyros) und seiner Tätigkeit als Bassist für Iggy & The Stooges (!) ist Mike Watt derzeit wieder mit den 2006 formierten „Missingmen“ unterwegs (neben Watt der brillante Gitarrist Tom Watson und Drummer Raul Morales).
Und die hatten in Innsbruck einiges vor: „We’re gonna do something fucked-up“, kündigte Watt zu Beginn an, „45 minutes – 30 pieces“. Gemeint sind damit die 30 Nummern seines jüngsten Soloalbums „hyphenated-man“, das nicht nur in puncto Songlänge (=Songkürze) an die Minutemen-Klassiker erinnern soll.
Umgesetzt wurde die „punk opera“, wie Watt das Werk selbst nennt, allerdings wie EIN einziger langer Song – schnell, kompromisslos und ohne Platz für Applaus zwischen den einzelnen Passagen. Ein durchaus anstrengendes Hörerlebnis, mit tausend Brüchen und fordernden Laut-Leise-Kontrasten. Einiges blieb dabei allzu skizzenhaft und zerfahren, oft hätte man sich gewünscht, dass tolle Songideen nicht nur angedeutet, sondern auch ganz ausformuliert werden.
Aber na gut: Erstens ist das eben Avantgarde-Punkrock (die Songs von „hyphenated-man“ sind vom berühmten Hieronymus-Bosch-Triptychon „Der Garten der Lüste“ mit seinen unzähligen bizarren Figuren inspiriert und tragen daher auch Titel wie „Stuffed-In-The-Drum-Man“, „Mouse-Headed-Man“, „Boot-Wearing-Fish-Man“ oder „Man-Shitting-Man“); und zweitens verkörperten Watt und die Missingmen auf der Bühne viel Wichtigeres: Leidenschaft, Menschlichkeit, Herzblut, inniges Zusammenspiel, Freundschaft eben.
Allein zu sehen, wie sich Watt, dem man seine Jahre und Jahrzehnte on the road durchaus ansieht, trotz Erkältung völlig verausgabte, wie er hustete, Schleim spuckte, nach Luft rang und trotzdem weitermachte, war das Eintrittsgeld wert.
Dazu kam noch ein spannendes Vorprogramm: Der belgische Musiker L’Œillère eröffnete den Abend mit abstraktem Experimental-/Avantgardepunk auf der akustischen (!) Gitarre. Er ließ die Gitarrenseiten durch Fingerrutschen quietschen und aufjaulen, arbeitete mit Zupf- und Tappingtechniken und war auch sonst hörbar bemüht, die klanglichen Möglichkeiten des Instruments auszuloten.
Nichts was ich persönlich mir eine Stunde lang konzentriert anhören könnte, aber doch interessant und von offensichtlichem Interesse an der Klangforschung getrieben. Sympathisch auch die Art der Darbietung in Form von kleinen Guerilla-artigen Gigs, zunächst im Barbereich des PMK, danach im Saal (zwischen der zweiten Vorband und den Missingmen). Als Bühne dienten ein Stuhl auf ein paar Kisten oder der Gitarrenkoffer.
Die eigentliche Entdeckung des Abends waren für mich aber „Guess What“: Was nach einer schlechten Castingband oder Boygroup klingt, sind in Wahrheit zwei spinnerte Briten, deren Alben von Juri Gagarin oder von fiktiven italienischen Giallo-Filmen handeln.
In Innsbruck steckten Keyboarder Graham Mushnik und Drummer Luke Warmcop in einem grotesken Beduinen-auf-dem-Karneval-von-Venedig-Outfit und servierten einen nicht minder schrägen Sound: eine wunderbare, rein instrumentale Mischung aus Psychedelia, „Crime Jazz“, Punk, Trash und Spaghetti-Western-Klängen, mit schneidender Monks-/Doors-Gedächtnisorgel, Schlagzeug, Kuhglocke (more cowbells!), unwirklichen Bläsereinsätzen und retrofuturistischer Proto-Elektronik (samt Mundschlauch, der direkt in den Synthesizer mündete).
Das Ergebnis war schwerstens hypnotisch und psychedelisch und zugleich, wie Kollege Dave anmerkte, nicht weit weg von dem, was man gemeinhin als „Surfrock“ oder „Exotica“ subsummiert.
Am Ende des langen, gelungenen Konzertabends (im Laufe der Zeit hatten sich doch noch einige Dutzend Zuschauer eingefunden) kam es dann noch zu einer Art Jamsession mit den Missingmen und allen Support-Musikern.
Und sogar ein uns allen gänzlich unbekannter Sänger schnappte sich (im Zuschauerraum!) plötzlich das Mikro, um ein paar Hardcore-Punk-Zeilen zu shouten. Eine fast schon anarchische Szene, in der der Grenzbereich zwischen Bühne und Publikum für ein paar Momente fast verschwunden schien – etwas, was dem aufrechten alten Politpunk Mike Watt sicher gut gefallen hat!
nicht meins!
Habe mir die Dokumentation dann nachträglich auch noch angesehen, ist wirklich sehr empfehlenswert. Man findet sie in voller länge auf YouTube:
http://www.youtube.com/watch?v=HmKGusadv08
Auch wenn die Musik oft ein wenig „sperrig“ ist, finde ich doch zunehmend mehr gefallen daran. Man sollte einfach mal ein Album durchhören, insgesamt dürfte doch für jeden was dabei sein.
Und was mir jetzt gerade auffällt: eigentlich wären die MINUTEMEN die perfekte Band für die heutige Zeit. So kurze Songs, dass man den iPod kaum vor dem Ende aus der Tasche ziehen kann um weiterzuschalten, perfekt für die kurze Aufmerksamkeitsspanne des modernen Menschen!
Ja, die Minutemen als Häppchenband wären ideal fürs Publikum von heute. Zu jedem der 40 kurzen Lieder pro CD noch ein kleines virales Video – und fertig wäre der YouTube-Hype! Naja, irgendwie doch besser, dass die schon in den 80ern gelebt haben …
Werd mir das „Double Nickels“-Album bald bestellen, ebenso „Wrong“ von NoMeansNo (geniale Hardcore-Punk/Mathrock-Band aus Kanada), das wird ein kräftiger Doppelpack.
Muss mir die Doku auch noch mal von Anfang an genehmigen, hab in Ibk. maximal zwei Drittel gesehen.
Btw, war gestern schlecht besuchtes, aber feines Konzert in Kufstein: Guano Padano, Italiener, die Spaghetti-Western-Sounds mit Surf Rock, Steel Guitar und schrägen (Elektronik)-Experimenten verbinden. Das hätte dir 100 %-ig gefallen!
http://www.youtube.com/watch?v=1tqKah6Btcc