Meine hundert Lieblingslieder 2013 – Platz 61 bis 80

61. No Ceremony /// – Heartbreaker

Die Shoegaze-Götter My Bloody Valentine und ich werden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr. Ich finde einfach keinen Zugang zu ihrem Sound, weder live (Primavera 2013) noch auf ihrem rundum als Meisterwerk abgefeierten Comeback „MBV“ (das ich mir, leider, zugelegt habe). Dass sie eine wahnsinnig einflussreiche Band sind, ist aber natürlich nicht zu leugnen. Legionen an Bands zwischen Feedback-Rock, Dreampop und Elektronik verfolgen heute die MBV-Taktik, liebliche Melodien unter tonnenschweren, verzerrten Soundwänden zu begraben.

Eine dieser Bands heißt No Ceremony /// (ja, die schreibt man wirklich mit diesen drei komischen Stricherln), sie kommt aus Manchester und sorgt auf „Heartbreaker“ für eine herrlich unterkühlte 80er-Jahre-Elektro-Ästhetik. Die lärmige Gitarre kommt übrigens von niemand Geringerem als Joey Santiago von den Pixies (der mit seiner Hauptband 2013 übrigens ein paar solide, wenn auch ziemlich konventionelle neue Lieder vorgelegt hat).

 

62. Future Of The Left – Johnny Borrell Afterlife
So etwas kann auch nur den walisischen Noiserock-Wahnsinnigen einfallen: Ein Lied über Johnny Borrell, Sänger der kurzfristig höchst erfolgreichen, inzwischen aber fast vergessenen Britpop-Band „Razorlight“. Borrell hatte – sogar für englische Verhältnisse – eine extrem große Klappe und besonders viel Selbstvertrauen.

Hier einige Zitate: „Firstly, I’m a genius. Musically, culturally, everything“. ODER: „I’m the best songwriter of my generation. Ask me in 20 years about The Libertines.“ (na gut, da hat er vielleicht sogar recht ;-)) ODER: „Well, put it this way, compared to the Razorlight album [Bob] Dylan is making the chips. I’m drinking champagne.“

Inzwischen hat er ein – grandios geflopptes – Soloalbum vorgelegt und spielt vor wesentlich kleineren Häusern als früher. Future-Of-The-Left-Mastermind Andy Falkous rechnet aber nicht einfach mit dieser großspurigen, in gewissem Sinne tragischen Figur ab, sondern bekundet in Interviews sogar Sympathie für ein Untergehen mit fliegenden Fahnen:

„The thing with Johnny Borrell is … to hate Johnny Borrell is to hate life. (…) At least there’s some
ridiculous vision and grandiose stupidity on display with Johnny Borrell. (…) I’ll take that over your stale-bread side-partin‘ run-of-the-mill indie kind-of stars of nowadays“.

Serviert wird diese Botschaft als giftige Noiserock-Attacke mit infektiösem, hymnischem Refrain:

„Just a boy,  just a boy / with the biggest head in school / Just a boy, just a boy / with the widest wingspan.“

 

 

63. Valerie June – You Can’t Be Told

Grooviger Retrorock-/Roots-Ohrwurm, an dem zwei Spezialisten für groovige Retrorock-Ohrwürmer mitgeschrieben haben, nämlich Dan Auerbach von den Black Keys und Kevin Augunas (Edward Sharpe & The Magnetic Zeros). Aber Valerie June mit ihrer volltönenden, fast klassischen Soulstimme steht natürlich für sich selbst.

Das zugehörige Album „Pushin‘ Against a Stone“ pendelt souverän zwischen Country, Folk, Soul und Gospel (weitere Anspieltipps: „The Hour“, „Tennessee Time“). Das Video zur Single „Workin‘ Woman Blues“ wurde übrigens im urigen Mojo Music Club in Niederösterreich (!) aufgenommen – und wird somit Schremser Bier und Leibniz-Keks zu spätem Weltruhm verhelfen …

 

64. Akron/Family – Until The Morning
Eine sich majestätisch entfaltende Experimental-/Folkrock-Hymne zum Thema Einsamkeit und Suche nach einem Zuhause:

„Don’t bother looking for a chair / just throw your coat down anywhere / I’m sorry I’m so poorly dressed / I gave up hoping for a guest …“

Leidenschaftlicher Gesang, nicht minder schöne Backgroundvocals – fast so gut wie Grizzly Bear.

 

65. Midnight Juggernauts – Ballad Of The War Machine
Was als verhaltener, fast verschlafener Elektropop beginnt, öffnet sich zu einem der stärksten Refrains des Jahres. Das Wort „godspeed“, das die Australier hier prominent verwenden, hat übrigens nichts mit göttlichem Tempo zu tun, sondern bedeutet so viel „Gute Reise“ oder „Lebewohl“, abgeleitet vom mittelenglischen God spede („may God cause you to succeed“).

Aber auch ohne dieses Wissen ist das hier ein schöner Song. Mit skurrilem Video:

 

66. LaBrassBanda – Frankreich
Blasmusik-Techno? Klingt nach einer der fürchterlichstmöglichen Musikkombinationen, nach dem Soundtrack für die (Après-Ski-)Hölle sozusagen. Aber als Beschreibung für manche Lieder auf dem neuen LaBrassBanda-Album „Europa“ passt dieser Ausdruck einfach.

Besonders das rein instrumentale „Frankreich“ entfaltet zwischen Synthiefanfaren und nervösen Bläsern erhebliche Dynamik. Würde mich freuen, wenn die Herren aus Oberbayern verstärkt in diese (experimentellere) Richtung gehen würden – und nicht in Richtung von herkömmlichem Mundartpop wie manche Solostücke von Stefan Dettl und einige Nummern auf „Europa“.

 

67. David Lynch & Lykke Li – I’m Waiting Here
Wer den hypnotischen Dreampop von Julee Cruise aus „Twin Peaks“ oder „Blue Velvet“ oder die verstörend schönen Musikeinlagen in Filmen wie „Mullholland Drive“ kennt, der weiß schon vor dem ersten Hören, wie die Zusammenarbeit von David Lynch und der schwedischen Sängerin Lykke Li klingen muss. Ja genau: ätherisch, einlullend, mysteriös, zugleich unschuldig und verführerisch – und immer ein wenig unheimlich. Und den „Lost Highway“ gibt’s im Video:

 

68. Asia Argento & Toog – Ugly Ducklings
Apropos „ätherisch, einlullend, mysteriös (…) und immer ein wenig unheimlich“: So klingt auch Asia Argentos Zusammenarbeit mit dem französischen Elektroniker Toog – mit geheimnisvollem Sprechgesang in den Strophen und sinnlich gerauntem, gespenstisch verhallendem Refrain. Der logische nächste Schritt? Eine Zusammenarbeit von Asia Argento und David Lynch (vgl. Platz 67).

 

69. The Elwins – Stuck In The Middle
Federleichter, melodieseliger (Indie-)Gitarrenpop im Stile der Shins. Im September hätten die Elwins im Innsbrucker PMK gespielt – ein Konzert, das ich leider ebenso versäumt habe wie den Auftritt der bayerischen Experimentalpopper Aloa Input (siehe Platz 6). Fast ebenso schön: „Forgetful Assistance“, eine weitere Single vom Debütalbum der Kanadier.

 

70. Volcano Choir – Comrade
„Alaskans“, „Byegone“, „Almanac“: Auf „Repave“, dem zweiten Album von Volcano Choir, finden sich einige weitere Songs, die einen Platz an der Chartsonne verdient hätten (vgl. auch „Acetate“, Platz 32). Auch dieser hier ist sehr fein geraten: Just in dem Moment, in dem Justin Vernon allzu herzzerreißend vor sich hin falsettiert, mündet „Comrade“ in einen machtvollen, elektronisch unterfütterten Refrain. Die Experimente – Synthies und sogar ein bizarrer Autotune/Vocoder-Effekt – fügen sich bestens ins Gesamtbild ein.

Ein Kritiker spricht in Bezug auf diese Musik von „big-skied wildnerness“ – schöner kann man es wirklich nicht sagen. Und Justin Vernon selbst meinte, dass eher ein weiteres Volcano Choir-Album zu erwarten sei als eines von Bon Iver. Gut so!

 

71. Austra – Home
Nicht ganz so zwingend wie „Lose It“ aus dem Jahr 2011, aber dennoch sehr schön. „Home“ lebt von der Spannung zwischen der klassisch geschulten Stimme der Kanadierin Katie Stelmanis und dem knackigen, federnden Rhythmusfundament. Inhaltlich dreht sich der dramatische Song um das Gefühl, nachts und allein auf den Partner zu warten, der einfach nicht nach Hause kommen will – irgendwo zwischen nagender Sorge und brennender Eifersucht.

Die stilistisch nicht unähnliche Anna Calvi hat 2013 übrigens ebenfalls ein gelungenes Album herausgebracht (Anspieltipps: „Piece By Piece“, „Sing To Me“). Jammerschade, dass in den Jahrescharts nur 100 Lieder Platz finden …

 

72. ME – Hoo Ha
Google-Weltmeister werden ME mit ihrem Namen sicher nicht. Aber der Sound der Australier könnte durchaus für die großen Stadien geeignet sein, zumindest nach „Hoo Ha“ zu urteilen: Überkandidelter Breitwandsound mit pathetischen Chören, dramatischen Bläsersätzen und einem der wuchtigsten Refrain des Jahres.

Alles verdammt dick aufgetragen (als Einflüsse nennen ME unter anderem Queen, The Mars Volta, Rachmaninow oder Danny Elfman), aber trotzdem – oder gerade deshalb? – grandios. Wie Muse in gut, also minus Weinerlichkeit.

 

73. Moderat – Bad Kingdom
Sehnsuchtsvoller Softrock mit elektronischen Mitteln? Technoider Soul? Wie auch immer:  Schön, was die Berliner Elektro-Supergroup da macht. Und erfolgreich (über 1,25 Millionen Klicks, Stand März 2014). Was das Ganze gleich noch schöner macht.

 

74. Pharmakon – Crawling On Bruised Knees
Apokalyptische Avantgarde/Noise/Elektro/Industrial-Klänge von einer jungen Laptop-Künstlerin aus New York. Margaret Chardiet alias Pharmakon gibt an, mit ihrer Musik bewusst verstören, körperliches Unwohlsein erzeugen zu wollen (wie ihr das auch mit dem Cover des zugehörigen Albums gelingt, das den Schoß der Künstlerin zeigt – über und über mit Maden bedeckt).

Sie selbst nennt es „her deep-seated need/drive/urge/obession to reach other people and make them FEEL something (…) in uncomfortable/confrontational ways.“

Und tatsächlich gelingt es ihr, Hörgewohnheiten brutal zu erschüttern: „Crawling On Bruised Knees“ verbindet ein tonnenschweres Pochen oder Stampfen (als wären Godzilla und der große T-Rex auf dem Weg hierher) mit Geräuschen wie von kreisenden Hubschraubern und hexenhaftem „Gesang“ zu einem – in jeder Hinsicht – aufregenden Hörerlebnis. Fans radikaler Musik denken hier vielleicht an die Extremsängerin Diamanda Galás, ebenfalls aus New York.

Fazit: Ein schwerer Brocken, der seinem schmerzhaften Namen alle Ehre macht. Gut so: Es gibt zurzeit ohnehin zu wenig wirklich krasse, einschüchternde Musik.

 

75. Son Lux – Lost It To Trying

Orchestraler, fast barock überladener Intellektuellen-Pop, der eher aufs Hirn als auf den Hintern zielt – und trotzdem wunderbar eingängig klingt. Hier passiert extrem viel: mehrstimmiger Gesang, dazu allerlei Geklapper, Geflöte und Gepfeife (bei dem es keinen interessiert, ob dieses nun elektronisch erzeugt oder „echt“ ist). Kurz gesagt: Moderne, anspruchsvolle Musik.

Dass sich der New Yorker Ryan Lott, der hinter dem Pseudonym Son Lux steht, diesen Namen mit einem ostdeutschen Hersteller von „Leuchten und Kunststoffkomponenten“ teilen muss, stört auch nicht weiter. Schließlich passt der Slogan dieser Firma auch auf den Musiker: „Innovative Premiumprodukte mit hervorragendem Preis-Leistungs-Verhältnis.“

 

76. Yeah Yeah Yeahs – Under The Earth
So sehr man Karen O für ihre gepflegte Hysterie schätzt: Manchmal ist es einfach zu viel des Guten – zum Beispiel auf „Sacrilege“, der Leadsingle des neuen YYY-Albums „Mosquito“. Umso mehr genießt man das vergleichsweise zurückhaltende, düstere und sphärische „Under The Earth“: Popmusik fürs 21. Jahrhundert, die sich nicht zwischen Rock und Elektronik entscheiden will. Auf die Yeah Yeah Yeahs ist eben Verlass.

 

77. Daughter – Get Lucky (Daft Punk cover)
Mit „Get Lucky“ hatte ich eine Rechnung offen – und Daughter haben sie beglichen. Das Original von Daft Punkt ft. Pharrell Williams (falls irgendwer das Glück hatte, dieser Nummer zu entgehen) war für mich persönlich der Gottseibeiuns des vergangenen Musikjahres: die penetrantesten und nervigsten vier Minuten dieser Saison.

Daughter aus London machen aus dem Megahit eine traurige, entschleunigte Minimal-Pop-Kostbarkeit – und zeigen, dass hinter den käsigen Discofunk-Klängen und dem schmierigen Aufreißer-Falsett wahre Schönheit steckt. Danke dafür!

 

78. Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi – Der Anfang ist nah
Die Rückkehr der Intelligenz in den deutschen Hip-Hop: sprachverliebt und originell statt stumpf und brachial. Zunächst einmal setzt es dadaistische Wortkaskaden mit Schlaumeier-Vokabeln, wie man sie im herkömmlichen Deutschrap eher selten hört, von „Hypotalamus“ über „Kugelblitz“ bis „Raum-Zeit-Kontinuum“. Verkopft klingt das Ganze trotzdem nicht, im Gegenteil: Die Verhältnisse werden zum Tanzen gebracht (übrigens mit Instrumenten statt mit Samples).

Sänger Robert Gwisdek (ein Sohn der Schauspielerin Corinna Harfouch) verneigt sich wohl nicht ohne Grund in Richtung Dendemann („Unsere Nichtigkeit heißt zum einen Peng und Sie zum anderen herzlich willkommen“), der ja ebenfalls für hochintelligenten deutschen Hip-Hop steht.

Besonders schön: Nach feinen Nonsense-Zeilen („Hallo Plan B, hallo Plan C, hallo Plan D, hallo Plan E, hallo ballo Zahnfee“) hebt das Lied in der letzten Strophe ins Kosmische, geheimnisvoll Schillernde ab, passend zur finalen Aussage, „dass Realität nur ein Traum is“.

Sehr toll ist übrigens auch das aufwändige Video, das OK Go nicht besser hingekriegt hätten:

 

79.          FKA twigs – Water Me

Der Gegenentwurf zum Revival des schleimigen 90er-Jahre-R’n’B: FKA twigs (bürgerlich: Tahliah Barnett), eine Britin mit jamaikanischen und spanischen Wurzeln, serviert mysteriösen, sexuell aufgeladenen Zeitlupen-Soul vor einem futuristischen Soundhintergrund. Da darf man schon mal an James Blake oder S O H N (Platz 31) denken.

Auf diese faszinierende Künstlerin wurde ich eher durch Zufall aufmerksam – bzw. durch einen geheimnisvollen YouTube-Algorithmus, der mir ständig das Video zu „Water Me“ vorgeschlagen hat. Dieses zeigt FKA twigs mit unheimlich (!) riesigen Manga- oder Puppenaugen. Doch die Musik besteht auch für sich: der Soul der Zukunft? Eine Entdeckung!

 

80. Wavves – Hippies Is Punks
Der Sound der kalifornischen Formation lässt an den Punkrock der 90er und den Grunge-Pop der frühen Nullerjahre denken, an Bands wie die frühen Green Day oder die Vines.

Auch andere junge Künstler wie Speedy Ortiz, No Age oder Courtney Barnett zeigen derzeit – auf durchaus unterschiedliche Weise –, dass das lange angekündigte Comeback des 90er-Jahre-Alternative-Rock nun wirklich begonnen hat. Wenn man mich fragt: Gibt Schlimmeres.

 

HIER GEHT’S WEITER MIT DEN JAHRESCHARTS, PLATZ 81 BIS 100!

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