Konzert-Kritik: Jessie Ware, Primavera Festival Barcelona, 23. Mai 2013
Letztens fuhr ich heim zu Mama, um mir ein T-Shirt flicken zu lassen. Es war nicht der einzige Grund, aber ein wichtiger, handelte es sich doch um mein Lieblings-T-Shirt. Es hatte ein Loch vom vielen Anziehen, vor allem aber vom vielen Ausziehen, denn die Stelle war knapp unterhalb des hinteren Kragens, also dort, wo man anzieht, um es auszuziehen.
Auf dem T-Shirt, das mir vor einigen Jahren meine gute Freundin Julia schenkte, meine liebe Mama reparierte und nur meine geliebte Lebensgefährtin nicht so mag und despektierlich „Aufreißer-T-Shirt“ nennt, weil ich in ihrer Gegenwart irgendwann einmal von irgendeiner auf den Text angesprochen wurde, steht geschrieben: „I listen to bands that don’t even exist yet.“
Ich dachte immer, wer sich mit diesem selbsterklärenden ultimativen Musiknerdtumspruch identifizieren kann, ist an Musiknerdtum schwer zu überbieten. Diese Überheblichkeit, diese Arroganz, diese Selbstverliebtheit – er hatte alles. Doch was ich beim Primavera Festival in Barcelona beim Konzert von Jessie Ware erlebte, eröffnete mir diesbezüglich eine ganz neue Dimension.
Irgendwo halblinks im Mittelfeld des Publikums vor der kleinen Pitchfork-Stage stehend freute ich mich auf die bezaubernde Stimme einer aufstrebenden britischen Neosoul-Sängerin – bekam sie nur kaum je zu hören. Gleich rechts hinter mir hatte sich nämlich offenbar der größte Fan der Dame eingefunden.
Doch es war nicht die Tatsache, dass der Brite in seinen 30ern jede Textzeile des Albums „Devotion“ auswendig kannte, nicht der Fakt, dass er sie laut mitgröhlte und in meinen Ohren selbst die lautesten Festivalboxen übertraf, was mich in Ehrfurcht erstarren ließ.
Es waren die kurzen Pausen zwischen den Zeilen, die dieser formvollendete Musiknerd nützte, um seiner Entourage mitzuteilen, welche Textzeile als Nächstes folgen würden.
„Pass auf, jetzt kommt ‚Baby in our wildest Moments‘ – ‚BABY IN OUR WILDEST MOMENTS!!!‘ – Und jetzt kommt gleich ‚We could be the greatest‘ – ‚WE COULD BE THE GREATEST'“
Dieses Alternieren von „Bitte ich weiß was“ und Mitgröhlen, diese Mischung aus Zurschaustellung des eigenen Musikwissens, des Ruinierens der Konzerterfahrung seiner unmittelbaren Umgebung und irgendwie ja wohl auch des Ruinierens der eigenen Konzerterfahrung, weil er die Stimme der Sängerin ja selbst nicht mehr hören konnte, übertraf meine kühnsten Vorstellungen von gelebtem Musiknerdtum.
Von diesem Zeitpunkt an sah ich mein Lieblings-T-Shirt mit ganz anderen Augen, wusste ich doch: Egal, was auf ihm geschrieben steht, es gibt da draußen einen, der mich um Welten übertrumpft.