Wie viel Musik passt in drei Tage?

Diese Frage stellt sich natürlich bei jedem größeren Musikfestival. Doch beim heurigen Primavera Sound Festival in Barcelona war sie besonders virulent. Schließlich will man als Musikfreund, der an die 200 Euro für einen vollen Festivalpass abgelegt hat, möglichst viele unvergessliche Konzerterlebnisse in die wenigen verfügbaren Stunden packen.

Dies erfordert umso größeren Einsatz, als es dem Festivalbesucher beim Primavera unmöglich ist, nach dem Motto Klasse statt Masse vorzugehen (d. h. man konzentriert sich in Ruhe auf einige Highlights), denn es bietet Jahr für Jahr Klasse in Masse. Und gerade heuer war das Line-up fast schon obszön gut – auch nachdem einige wunderbare Künstler (Sixto Rodriguez, Fiona Apple, Foxygen, Band of Horses) kurzfristig absagen mussten. Primavera, das bedeutet für den unersättlichen Musikfan also auch: Jammern auf allerhöchstem Niveau.

PRIMAVERA, TAG EINS (Do., 23. Mai): Sympathisch bis erhaben
Geschafft! Die Schlange vor dem Eingang (so lang wie die Chinesische Mauer, nur mit deutlich mehr Windungen) ist bewältigt, das Festivalband baumelt ums Handgelenk – und wider Erwarten schaffen wir es sogar noch rechtzeitig zu Tame Impala, die sich soeben anschicken, die riesenhafte Heineken-Bühne neben dem Riesenrad mit ihrem hypnotisierenden Rock zu beschallen. Begleitet wird der sympathisch-bodenständige Auftritt der Australier von passenden, bunt blitzenden Visuals. Die Zukunft des Rock kann ich hier zwar nicht heraushören, dafür aber einen grandiosen Teil seiner Vergangenheit, namentlich 60s-Psychedelia und stampfenden Hardrock. Und ich bleibe dabei: Sänger Kevin Parker klingt phasenweise verdammt nach John Lennon. Alles in allem ein feiner Festivaleinstieg.

Gleich weiter zu Dinosaur Jr.: Die Alternative-/Grunge-Urväter gefallen mir diesmal (auf der gewaltigen Primavera-Bühne) wesentlich besser als beim Southside-Festival 2005: (…)

J. Mascis‘ nölende Stimme ist zwar noch immer nicht wirklich aufregend, aber der Mann singt bekanntlich eh durch seine Gitarre. Neben seinen kristallklaren Soli und einer heftigen Coverversion von „Just Like Heaven“ (The Cure) überzeugten auch die melodieseligen Powerpop-Beiträge von Lou Barlow (etwa „Rude“). Fast wirkte es so, als sei zwischen den beiden ewigen Streithähnen so etwas wie Harmonie ausgebrochen. Etwas weniger subtil geriet die Schlussnummer, die gemeinsam mit Damian Abraham von der kanadischen Hardcore-Punkband Fucked Up performt wurde.

Einen der sympathischsten Auftritte des gesamten Festivals lieferte kurz darauf Killer Mike: Der gewichtige US-Rapper begeisterte das Publikum vor der angenehm überschaubaren Pitchfork-Bühne mit geschmeidigen Rhyme-Skills, mitreißender Energie, einem äußerst kritischen Blick auf die Politik seines Heimatlandes und mehr oder minder charmanten Liebesbezeugungen an seine am Bühnenrand sitzende „fat-bottomed lady“. Ein tolles Hip-Hop-Konzert auf einem Festival, bei dem Hip-Hop insgesamt eine untergeordnete Rolle spielte – vielleicht der allgemeinen Malaise des Genres geschuldet? Killer Mike zeigte hier jedenfalls schöne Auswege auf. Und einen (zugegeben leicht sexistischen) Ehetipp hatte er auch noch parat: Wenn’s mal nicht so läuft, solle man einfach nach Amsterdam fahren, so viel Gras wie möglich rauchen und sich gemeinsam mit der Gattin eine girl-on-girl-Show geben. Ob’s hilft?

Das schönste Konzert des Festivals? Die erhabenen Grizzly Bear sind nicht nur auf Platte eine der Bands der Stunde, sondern, wie man an diesem Abend feststellen konnte, auch und gerade live: Mit großem, ja fast heiligem Ernst baute die Band aus Brooklyn die Song-Kunstwerke von „Shields“ und „Veckatimest“ vor den Augen und Ohren des Publikums auf, minutiös in den Arrangements, majestätisch und erstaunlich wuchtig in der Gesamtwirkung. Jedem Ton wurde größte Aufmerksamkeit zuteil, wobei diese Detailversessenheit nicht nur bei den atemberaubenden Vokalharmonien jede Berechtigung hat. Lustig, dass gerade Frontmann Ed Droste, der ein Perfektionist vor dem Herrn sein muss, anfangs Probleme mit seinem Gesangsmikro hatte (auf der Primavera-Bühne gab es generell kleinere Soundschwierigkeiten). Alles, was danach kam, war jedoch nahe an absoluter Perfektion: Momente purer musikalischer Schönheit von einer der derzeit besten Bands der Welt, begleitet von einem nicht minder traumhaften visuellen Effekt: Seltsame gelbe Lampions, die entfernt an schimmernde Quallen erinnerten, schwebten ganz langsam die Rückwand der Bühne empor.  Magie!

Eine Lichtshow der ganz anderen Art boten im Anschluss Simian Mobile Disco auf der (auch nicht gerade kleinen) Ray-Ban-Stage: Das Elektronik-Duo aus London ließ eine megabreite Soundwalze von der Leine und feuerte dazu stroboskoptechnisch aus allen Rohren. Offenkundiges Ziel: totale Überwältigung. Die beiden sympathisch-verpeilten Engländer, die uns kurz nach dem Konzert fragten, wann denn wohl das Konzert von Simian Mobile Disco beginnen würde, ärgerten sich zurecht.

Vielleicht lag es ja daran, dass sich um drei Uhr morgens (nach fünf Konzerten ohne nennenswerte Sitzpausen) Rückenschmerzen und andere Verschleißerscheinungen einstellten? Oder am kalten Wind, der einem vom Meer her ungebremst ins Genick fuhr? Auf jeden Fall gingen mir die gefeierten Genies von Animal Collective schon nach fünf Minuten gehörig auf die Nerven: Musik mit ADHS-Syndrom (no offense); Musik, bei der viel zu viel passiert; Musik, die immer alles will, die tausend Ideen hat, aber kaum eine zu Ende führt; dauernde Takt- und Harmoniewechsel, die am Ende nirgendwohin führen; lauter Puzzlesteine, die kein Puzzle ergeben. Brüche sind ja schön und gut, aber Musik, die nur noch aus Brüchen besteht, ist einfach nur anstrengend. Wer hört sich sowas freiwillig an? Muss man dafür bestimmte Mittelchen einnehmen? Oder bin ich einfach zu blöd dafür? Immerhin: Die Bühnendeko mit den leuchtenden Zähnen war sehenswert.

PRIMAVERA, TAG ZWEI (Fr., 24. Mai): Von der Macht des Lärms
Sehr freundlich von den Primavera-Machern, dass sie auch meine Nummer-eins-der-Jahrescharts-Band Django Django für ein Konzert verpflichtet haben. Gekleidet in einheitliche schwarz-weiße Hemden, zeigten die Briten, wie man Poppiges und Experimentelles, Rock und Elektronik friedlich, gleichwertig und absolut selbstverständlich zusammenführt. Dem „Synth Operator“ und Knöpfchendreher Tommy Grace, der aussieht wie ein klassischer Wissenschafts-Nerd, kam jedenfalls auch live eine wichtige Rolle zu. Hit auf Hit (was anderes haben D. D. ja gar nicht) wurde kompakt und souverän umgesetzt, von „Hail Bop“ und „Storm“ bis hin zu „Life’s a Beach“ und „WOR“. Nur den markanten Vokaleffekt im Refrain von „Default“ bekamen sie live nicht ganz so unwiderstehlich hin.

In der Popkultur gibt es derzeit keine großen neuen Bewegungen mehr, weil sie viel zu sehr um ihre eigene Vergangenheit kreist. Zu diesem Schluss kommt zumindest Musikexperte Simon Reynolds in seinem vieldiskutierten Buch „Retromania“. Reunions, Reissues, Revivals, Remakes – die Nostalgie scheint überhand zu nehmen. Auch das Line-up des diesjährigen Primavera-Festivals lieferte zumindest teilweise Belege für Reynolds Thesen: Dinosaur Jr., Bob Mould (von Hüsker Dü), My Bloody Valentine, The Jesus & Mary Chain – die Legenden des alternativen Rock stiegen sich teilweise fast auf die Füße.

Doch die Alternative-Heldinnen The Breeders gingen noch einen Schritt weiter: Sie führten ihr legendäres 93er-Album „Last Splash“ komplett auf, Song für Song, inklusive rein instrumentalen Zwischentiteln wie „Flipside“ oder „S.O.S.“. Das hatte unter anderem zur Folge, dass der Überhit „Cannonball“, den ich gerne einmal live gehört hätte, schon als zweite Nummer gespielt wurde – wie auf dem Album eben. Und so kam ich, von der Heineken- zur Primavera-Bühne eilend, leider nur aus der Ferne in den Genuss. Generell hinterließ das Konzert einen ambivalenten Eindruck: Ist es die endgültige Musealisierung der Rockmusik, wenn ein Album „aufgeführt“ wird wie ein Werk der klassischen Musik? Ist es das Eingeständnis einer einst sehr wichtigen Band, nichts Gleichwertiges mehr nachlegen zu können? Oder ist es, im Gegenteil, die notwendige Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit? Die Deal-Schwestern und Band wirkten jedenfalls – einigen Tonproblemen zum Trotz – gutgelaunt und spielfreudig und machten so durchaus Lust darauf, sich den Meilenstein „Last Splash“ einmal genauer anzuhören.

Eine Band in den traditionellen Gewändern der Tuareg sieht man auf einem westlichen Popfestival eher selten. Und doch handelt es sich bei Tinariwen keineswegs um Exoten: Das erfahrene Musikkollektiv aus dem nördlichen Mali (Azawad) hat mit seinem magischen Wüstenblues längst die internationalen Festivalbühnen und Kritikerherzen erobert – und viele prominente Fans, von Robert Plant bis Chris Martin, von Thom Yorke bis hin zu TV On The Radio, mit denen sie auf ihrem 2011er-Meisterwerk „Tassili“ (unbedingt anhören!) sogar zusammengearbeitet haben.

Dennoch ist bei Tinariwen noch immer vieles ganz anders als bei europäischen oder amerikanischen Bands: Dazu zählen nicht nur ihre hypnotischen, arabisch anmutenden Vokalharmonien und Rhythmen, sondern auch der wohltuende Verzicht auf westliche Rockposen. Die Ansagen von Frontmann Ibrahim Ag Alhabib, der erst nach einigen Liedern die Ray-Ban-Bühne betrat, waren höchstens in der ersten zwei, drei Reihen zu vernehmen, auf englischsprachiges Anbiedern („Hello Barcelona!“) wartete man vergebens. Dafür gab es jede Menge linkisches und daher besonders sympathisches Händeklatschen, Lächeln und Tänzeln – und Szenenapplaus, wenn einer der exzellenten Gitarristen in seiner eleganten Tracht zu einem Kasatschok-artigen Tanz ansetzte.

Brachial und filigran zugleich, geht das? Ja, wenn man James Blake heißt. Beim blassen Elektro-Singer-Songwriter/Post-Dubstep-Wunderknaben (ächz!) von der Insel trafen zarter bis larmoyanter Kopfstimmengesang und perlende Pianoklänge auf tief in die Magengrube bohrende, alle inneren Organe ungesund durchrüttelnde Bässe im grenzwertigen Lautstärkebereich. Guter Mann!

Apropos Lautstärke: Was nun auf der Ray-Ban-Bühne folgte, war womöglich das radikalste Konzert des gesamten Festivals: Michael Gira und seine Swans setzten auf die pure Macht des Lärms, auf die kathartische, exorzistische Wirkung gnadenloser Drones, auf die Sogwirkung endloser Wiederholungen. Leider konnte ich den heiligen Lärm nur drei Stücke lang genießen, diese drei Stücke (der Begriff „Lieder“ ist hier wohl kaum angebracht) dauerten aber zusammen satte 40 Minuten.

Generell scherte sich der grimmige Zeremonienmeister Gira (er führte seine Band, darunter zeitweise zwei Schlagzeuger, fast wie ein Dirigent) wenig um die Konventionen knackiger Festivalsets: Der Swans-Rausch begann zehn Minuten vor dem großen Konzert von Blur – doch als die letzten Takte von „Song 2“ verklungen waren, spielten und wüteten die Swans immer noch. Fazit: 1.) In puncto Kompromisslosigkeit macht dem ergrauten Lärmgott Gira kaum ein Junger etwas vor.  2.) Die Swans sollte man sich bei nächster Gelegenheit unbedingt in voller Länge genehmigen!

Zeitliche Kollisionen sind auf großen Festivals unvermeidlich, doch keine war bitterer als die der Swans mit Blur: Auch eine Online-Petition von Fans half da nichts – man musste sich für eines der beiden Konzerte oder, wie ich, für das Halbe-Halbe-Programm entscheiden. Also ließ ich die bleiernen Schwäne schweren Herzens fliegen und kämpfte mich durch unüberschaubare Menschenmassen so weit vor, bis ich Damon Albarn und Co. mit freiem Auge erkennen konnte, zumindest in Staubkorngröße.

Da lief mit „Coffee & TV“ gerade der achte Song – und während in der ersten Hälfte offenbar auch ein paar Raritäten zu hören waren („Popscene“, „Trimm Trabb“), setzte es ab jetzt nur noch Hits, Hits, Hits: „Tender“, „Country House“, „End of a Century“, auch einige meiner persönlichen Favoriten wie „Parklife“, „For Tomorrow“, „The Universal“ oder die feine neue Single „Under The Westway“. Ein perfektes Best-of-Programm, von Blur und einigen Gospelsängern gutgelaunt und souverän vorgetragen. Ob von den Britpop-Kaisern für die Zukunft noch etwas Relevantes zu erwarten ist, steht natürlich auf einem anderen Blatt …

Am wohl schwierigsten Festivalspot von allen, eingeklemmt zwischen Blur und den Swans, mussten sich die bedauernswerten Sex Jams aus Wien, die einzige österreichische Band am Primavera, auf der vergleichsweise winzigen Adidas Originals Stage mit einer Handvoll Zuschauern begnügen. Dass ich ihnen im Vorbeigehen (von einer Bühne zur nächsten) ein paar positive Vibes rübergeschickt habe, wird ihnen eher am Arsch vorbeigegangen sein.

The Great Synthie Pop Swindle? Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer vulgo The Knife treiben das befremdlich-verfremdende Spiel mit der eigenen Identität (das sie etwa auch auf Pressefotos oder bei Interviews zelebrieren) im Rahmen ihrer aktuellen Tournee auf die Spitze. Das schwedische Geschwisterpaar mischt sich unter ein eigens verpflichtetes Tanzensemble, lässt verschiedene Frauen (playback?) singen und spielt seinen düster-experimentellen Elektro-/Dark Ambient-Sound großteils vom Band ein, bis sich keiner mehr auskennt: Wer ist wer? Wird da noch live gespielt? Sind The Knife überhaupt noch auf der Bühne? Oder sehen sie sich vielleicht gerade selbst ein Konzert an?

Das Verwirrspiel ist natürlich volle Absicht (nicht umsonst heißt das zugehörige, von der Kritik gefeierte, angeblich verdammt anspruchsvolle und experimentelle Album „Shaking The Habitual“). Vermutlich geht es The Knife darum, die Gewohnheiten des Publikums im Allgemeinen und seine Erwartungen an die Kunstform Konzert im Besonderen in Frage zu stellen: Wenn man einfach die Anlage aufdreht und dazu eine aufwändige Tanz- und Lichtshow abfährt – ist das dann noch ein Konzert? Inwieweit kann elektronische Musik überhaupt „live“ sein? Das sind Diskussionen, die The Knife möglicherweise anregen wollen. Mit der Betonung auf möglicherweise. Denn im Grunde lassen sie einen eher ratlos und konsterniert zurück.

PRIMAVERA, TAG DREI (Sa., 25. Mai): Das Glück der kleinen Dinge
Wenn Freitag der Tag der großen persönlichen Erwartungen war (die erfreulicherweise auch erfüllt wurden), dann war Samstag so etwas wie der Tag der angenehmen Überraschungen. Wobei „Tag“ natürlich relativ ist: Im Süden beginnt bekanntlich alles später – und das Primavera-Festival bildet da keine Ausnahme: Richtig los geht’s erst am frühen Abend, dafür dauert das Spektakel bis zur ersten U-Bahn um fünf Uhr früh. Und dass eine große Band erst morgens um drei zu spielen beginnt, ist hier ganz normal. Wahnsinn, eigentlich.

Mit einem gut gelaunten – und gute Laune verbreitenden – Auftritt eröffneten Adam Green & Binki Shapiro den letzten richtigen Festivaltag. Zu hören waren klassische, erfreulich indierockferne Duette im Stile von Lee Hazlewood und Nancy Sinatra (nur fröhlicher). Spaßvogel Green gab den lässigen Crooner, versuchte sich am Spanischen und Katalanischen, streute ein paar schöne Solonummern („Friends Of Mine“, „Dance With Me“) ein – und warf sich am Ende zum Stagediven ins Publikum. Nett! Und das wunderbare „Here I Am“ (bekannt auf meinen Jahrescharts) haben sie auch gespielt.

Und wieder die Macht des Lärms, diesmal in Form von minimalistisch-experimenteller Elektronik, die genauso nahe am Geräusch wie an Musik im engeren Sinn gebaut ist: Roll The Dice, zwei rauschebärtige Kerle in einer Art schwarzer Technikermontur mit Hosenträgern und Stiefeln, standen einander an ihren Synthie-Schaltpulten gegenüber und drehten konzentriert an vielen Knöpfchen und Reglern, wie zwei leicht wahnsinnige Wissenschaftler auf der Suche nach dem Sound der Zukunft. Hin und wieder fügten sie dem immer lauteren Dröhnen einige minimale neue Soundelemente hinzu. Keine Vocals, keine Beats, keine Ansagen, keine Blicke ins Publikum. So geht kompromisslose Eintönigkeit. Fordernd!

Wu-Tang Clan Ain’t Nuthing Ta Fuck Wit“: Die fernöstlich inspirierten Hip-Hop-Legenden boten dem feierwilligen Publikum genau das, was es wollte: eine Gute-Laune-Show in Form eines souveränen Best-of-Programms. Die Fans dankten es ihnen mit heftigem Herumgehopse, tausenden zum Wu-Tang-W gereckten Händen und frenetischem Applaus bei jedem Hit. Für einen ausgelassenen Abend reichte das locker. Künstlerische Relevanz – oder gar der Versuch, neue Wege zu gehen – war hier allerdings nicht mehr zu erkennen. Auch eine Kürzest-Einführung in die Elemente der Hip-Hop-Kultur (wow, es gibt MCs, DJs, Breakdancer und Graffiti-Artists!?), ein kleiner Showcase mit Turntable-Artistik und eine pflichtschuldige Reminiszenz an den verstorbenen ODB ließen darauf schließen, dass der verbliebene Clan vor allem auf künstlerische Nachlassverwaltung aus ist. Das allerdings aus hohem Niveau.

Wenige Konzerte auf dem Primavera haben mich so berührt wie jenes der Meat Puppets – und dabei kenne ich die legendäre Alternative-Formation rund um Kurt und Cris Kirkwood eigentlich kaum. Doch wenn eine enorm einflussreiche Band (Stichwort: Nirvana), die den kommerziellen Durchbruch nie wirklich geschafft hat, auf einer relativ kleinen Bühne vor relativ wenigen Zuschauern auftritt, finde ich das per se schon irgendwie bewegend.

Und wenn sie dann einen so schönen, bescheidenen und im besten Sinne bodenständigen Auftritt hinlegt, irgendwo zwischen rauen, ausufernden Gitarrenstürmen und einfachen, Country- und Folk-beeinflussten Melodien, ist das einfach herzerwärmend. Besonders schön: Das von den Beach Boys bekannt gemachte Volkslied „Sloop John B.“ in einer melancholisch-getragenen Version. Und so sorgte eine etwas angejahrte Band für ungewohnte Momente der Einkehr und Würde auf einem Festival voll von jungen, hippen, schönen, stets am heißesten Scheiß orientierten Menschen. Anheimelnd!

Auf derselben Bühne servierten Phosphorescent gleich danach ihren fein ziselierten, viel beklatschten Folkpop. Für meinen Geschmack plätscherte das Ganze aber doch etwas zu nett und ereignislos dahin (vielleicht auch wegen der eher faden Stimme von Matthew Houck).

My Bloody Valentine klangen dann genauso wie erwartet: eine mächtige Soundwand, ein rauschender Tsunami aus verwaschenen Gitarren, die süßen Melodien ganz hinten im schwammigen Mix. Doch so gern ich endlich Zugang zu dieser absoluten Kultband finden würde (auch zum neuen, einhellig gelobten Album „MBV“, das bei mir zuhause herumliegt), die große Euphorie blieb auch live aus – und nicht nur bei mir. Vielleicht, weil andere Musiker das Prinzip Lärmwand bei diesem Festival schon deutlich radikaler und überzeugender umgesetzt hatten? Etwa die Swans oder, Kollege Steff zufolge, die Noise-Elektroniker Fuck Buttons?

Zum Glück gab es da noch die Disco-Neuerfinder Hot Chip, die für einen grandiosen Ausklang des Primavera-Festivals sorgten. Vor der Bühne herrschte mächtiges Gedränge und Geschubse – eigentlich bizarr bei einem so sanften, beseelten, raffiniert arrangierten Elektropop-Sound. Aber schließlich reden wir hier immer noch von Tanzmusik, und der wunderbare Sänger Alexis Taylor ist noch dazu der coolste Nerd-Frontmann weit und breit. Außerdem setzte es Hit auf Hit: „One Life Stand“, „Over and Over“, „Ready for The Floor“ und, ganz zum Schluss, „I Feel Better“. Für uns war das auch der letzte Song des ganzen Festivals. Denn so gerne ich persönlich mir noch den deutschen Elektro- und Humor-Großmeister DJ Koze gegeben hätte – irgendwann gehen selbst dem standhaftesten Musikfan die Kräfte aus.

4 Gedanken zu „Wie viel Musik passt in drei Tage?

  1. Ninotschka

    Yeah yeah yeah! Da will man nächstes Jahr am liebsten selbst dabei sein!! 🙂 Besonders lustig fand ich den Konzertbericht über die Sex Jams (hießen die so?) u The Knife.. Erstere haben deine Vibes bestimmt unterschwellig gespürt 😉

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  2. Dave

    Ich sah Dinosaur Jr einmal im Rockhouse, Salzburg. J Mascis betrat am Beginn, gebückt und eher zerbrechlich und alt wirkend, die Bühne. In der Hand hatte er eine kleine Mocca-Tasse, die er dann neben sich abstellte, bevor das Konzert wirklich los ging. Ab dem Zeitpunkt als er sich die Gitarre umhing war er wie ausgetauscht: kreischend laute Gitarrensoli über grobe Popmusik, danach ein Schluck Mocca, dann wieder kreischend laute Musik. Ich fand’s schön.

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    1. stefanpletzer

      meine Highlights ganz klar Grizzly Bear, Fuck Buttons, James Blake und Nils Frahm. eindeutiger Wermutstropfen: so viele gute Sachen so gedrängt am Donnerstag. die letzte band an diesem Tag – Animal Collective – hatte dann bei keinem von uns mehr einen leichten Stand. ich mag sie trotzdem wahnsinnig gern, auch weil deine Beschreibung („Musik, die immer alles will, die tausend Ideen hat, aber kaum eine zu Ende führt“) so ziemlich meinem Charakter entspricht, haha!

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  3. Pingback: Saubartl mit Dackelblick | H(eard) I(t) T(hrough) The Bassline

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