Kosmischer Klanggottesdienst. Oder: Von der Geborgenheit im Lärm

Konzertbericht: Acid Mothers Temple & the Melting Paraiso U.F.O. (Support: Dirty Fences), PMK Innsbruck, 30. September 2017

Wenn am Tag danach die Ohren pfeifen, bedeutet das normalerweise nur, dass der Rezensent mal wieder zu blöd war, auf Ohropax zurückzugreifen. Doch es gibt Konzertabende, an denen man das „Pfeifen danach“ quasi als notwendige, ja unausweichliche Konsequenz in Kauf nimmt – Abende, an denen Ohropax nicht einmal dann in Frage kämen, wenn man ausnahmsweise mal daran gedacht hätte, sie einzupacken. Gestern war ein solcher Abend.

Für einen vergleichsweise bodenständigen, dafür umso energetischeren Auftakt sorgten die Dirty Fences aus New York, die geradlinigen, schnörkellosen Garagenrock mit beträchtlicher Oktanzahl nach Tirol mitgebracht hatten. Die Rasanz und Vitalität DER New Yorker Punkband, nämlich der Ramones, schimmerte hier stetig durch, nicht nur wegen eines Schlagzeugers im Tommy-Ramone-Gedächtnislook, der die Songs im Blitzkrieg-Bop-Tempo einzählte: 1, 2, 3, 4 – und dann direkt auf die Zwölf (wie unsere nördlichen Nachbarn es vielleicht beschreiben würden).

Dazu setzte es eine fette – nicht nur vom anwesenden Chef des Downtown Sound Record Stores begeistert zur Kenntnis genommene – Dosis Power Pop (generell ein sträflich unterschätztes Genre, wie ich finde) mit wunderbarem Harmoniegesang, an dem alle vier Bandmitglieder mitwirkten. Andere Passagen ließen wiederum eher an frühen (Proto-)Metal denken. Kurz gesagt: Das Rad wurde hier nicht neu erfunden, aber ganz wunderbar zum (Rock ’n‘)Rollen gebracht.

Mit Anmoderationen wie „This next song is Teen Angel from our new album Teen Angel“ und unmittelbar darauf „This next song is Goodbye Love from our new album Goodbye Love“ vermittelten die Dirty Fences ebenfalls den Eindruck, dass im Leben nicht immer alles so furchtbar kompliziert sein muss. Dazu passte auch, dass sich die restlichen Zwischenansagen der Band vor allem um den (vom Publikum nicht erfüllten) Wunsch nach Marihuana drehten. Und so herrschte am Ende trotz versagter Zugabe das, was nach einer feinen Vorband immer herrschen sollte: gute Laune nämlich.

Auf das, was nun folgen sollte, wurde man mit dem knackig-kurzen Set der Dirty Fences inhaltlich freilich denkbar schlecht vorbereitet – nämlich auf den jenseits herkömmlicher Zeit- und Raumgrenzen existierenden kosmischen Freakout mit dem japanischen Avantgarde-Psychedelic-Rock-Kollektiv Acid Mothers Temple.

Rund um den Zentralplaneten namens Acid Mothers Temple kreist eine verwirrende Vielzahl an verschiedensten Inkarnationen, Veröffentlichungen und Kollaborationen. Die greifbarste und wichtigste Manifestation sind dabei aber „Acid Mothers Temple & the Melting Paraiso U.F.O.“. Und gleich vorweg: Deren denkwürdiger Auftritt in Innsbruck gestaltete sich deutlich weniger knallig, grell und forciert-krass, als der ausufernde Bandname, das abgedrehte Artwork und durchgeknallte Albentitel wie „Does the Cosmic Shepherd Dream of Electric Tapirs?“ oder „Astrorgasm from the Inner Space“ (mich) im Vorfeld vermuten ließen. Auch um billige Schauwerte ging es hier – trotz eines Bandmitglieds im schäbigen Transvestitenlook und eindrucksvoller Kopf- und Gesichtsbehaarung bei den anderen – in keinster Weise. Vielmehr war es allem sonischen Wahnsinn zum Trotz ein würdevoller, majestätischer Auftritt, getragen von grenzenloser Hingabe und geradezu heiligem Ernst.

„Heilig“ war überhaupt ein Wort, das mir an diesem Abend ständig durch den (musikalisch) benebelten Kopf schwirrte. Denn Acid Mothers Temple tragen das „Temple“ nicht ohne Grund im Namen – das „Konzert“ war im Endeffekt eher so etwas wie ein Gottesdienst. Freilich einer, der auch für Atheisten voll zugänglich war.

Das begann schon beim Bühnen-Habitus der beiden (gefühlten) Frontmänner Kawabata Makoto und Higashi Hiroshi, die ihre kunstvollen Beschwörungen des Lärmgotts stoisch, entrückt und ehrfurchtgebietend wie Hohepriester oder Zen-Meister zelebrierten, verborgen hinter geheimnisvoll wallendem Haupt- und Barthaar. Auch inmitten des kosmischen Klangsturms, den er selbst entfesselt hatte, selbst im dichtesten Nebel aus verfremdeten Gitarrensounds wirkte Makoto stets kühl und beherrscht. Und wenn Higashi sich über seinen Roland-Synthesizer beugte oder hin und wieder gravitätisch in sein Theremin griff (by the way, more theremin!), machte das ohnehin den Eindruck, als würde er mit geweihten liturgischen Geräten hantieren.

Und auch wenn es ein Klischee sein mag: Ich persönlich hatte das Gefühl, als würde durch die dichten, narkotisierenden Lärmschwaden stets eine Art von fernöstlicher Spiritualität durchschimmern, gewissermaßen ein Streben nach Entäußerung, Selbstaufgabe und (bewusstem) Kontrollverlust, der Wunsch nach mystischem Aufgehen in etwas Größerem, Kollektivem und Kosmischem.

Trotz alledem – und das machte diesen Auftritt so großartig – herrschte hier nie auch nur ein Hauch von esoterischer Gefälligkeit oder Räucherstäbchenalarm, das Klangbild war in keiner Sekunde zu gediegen und lieblich. Im Gegenteil: Das entfesselte, extrem druckvolle Schlagzeug und Basslinien wie aneinanderreibende Kontinentalplatten sorgten für eine gewaltige, festungsartige Basisstation, von der aus die Trips in fremde Klanguniversen umso eindrucksvoller gelangen.

In diesen Klanguniversen blitzten dann nicht nur alle denkbaren Facetten von Drone-, Noise-, Kraut- und Spacerock auf, sondern auch die Strukturen elektronischer Clubmusik, mit denen das Gesamtergebnis mindestens gleich viel zu tun hatte wie mit experimentellem Rock oder Metal. Das klang phasenweise wie live gespielter Techno oder in einer laaaangen Sequenz sogar fast Disco-artig. Fazit: Musik, auf die sich weltoffene Metalfans ebenso einigen können wie Freunde hypnotischer Noise-Elektronik à la „Fuck Buttons“. Drogenmusik, die auch ohne (weitere) Drogen bestens funktionierte. Und über allem schwebte die Grundformel für jede Art von narkotisierender Musik – die mystische Kraft der Repetition.

Doch Acid Mothers Temple tragen nicht nur das „Acid“ und das „Temple“, sondern auch die „Mutter“ zurecht im Bandnamen. Mag sein, dass „Mother(s)“ vor allem auf Frank Zappas Mothers of Invention anspielen soll – aber irgendwie hat auch diese Musik selbst etwas Mütterliches, Schützendes und Tröstendes: Trotz ihrer überwältigenden Lautstärke klingt sie nämlich nie bedrohlich oder aggressiv, sondern vermittelt, im Gegenteil, durch all den Lärm hindurch eine Form von Harmonie und Geborgenheit. Ganz im Sinne eines schönen Spruchs von Friedrich Nietzsche, den ich gestern am (stets lesenswerten) PMK-Klo entdeckte: „Für den Einsamen ist schon Lärm ein Trost“.

Vielleicht sind (und Achtung, jetzt wird es dann wirklich hippiesk!) das „Mütterliche“/“Weibliche“ und das „Kosmische“ in dieser Musik ja ein und dasselbe: Es geht letztendlich um das beruhigende (Ur-)Gefühl, sich einfach fallen lassen zu können, sich einfach davontragen zu lassen. Und dafür ist diese Musik geradezu perfekt.

Wie steht es so treffend in einem YouTube-Kommentar zu einem Acid Mothers Temple-Konzert? It was like being blown away by a sonic acid hurricane to somewhere over the rainbow.

Dass die Band einen solchen psychedelischen Taifun offenbar JEDEN ABEND entfesseln kann (der Tourplan ist extrem dicht), ist eigentlich unglaublich. So etwas geht wohl nur mit – eben! – fernöstlicher Gelassenheit.

PS: Fernöstliche Gelassenheit beweisen auch die Autoren dieses Blogs, die sich von der hektischen Musikwelt nicht stressen (und auch einmal drei, vier Monate beitragsfrei verstreichen) lassen. Aber nachdem gestern gleich drei von vier HIT-The-Bassline-Machern bei diesem erhebenden Konzertabend anwesend waren – ein fast historisches Ereignis! – steht fest: Zumindest der gute Wille ist weiterhin vorhanden. Also: Watch out for the things to come!

PPS: Danke an Konzertbesucher Dyna Mike vom formidablen Verein Klangfarben Kufstein für die stimmungsvollen Fotos vom Konzertabend!

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