Musik zum Fürchten – Verstörendes für verstörende Zeiten

Düstere Nachrichten in Dauerschleife, Lockdown, soziale Abkapselung – und das Wetter ist gerade auch noch richtig scheiße. Wann, wenn nicht jetzt wäre also der richtige Zeitpunkt, an der eigenen Paranoia zu arbeiten, am besten mit ein wenig verstörender Musik?

Wie bei Filmen, Literatur und bildender Kunst stellt sich, das ist zumindest meine persönliche Einschätzung, auch in der Musik eine unheimliche, verstörende Wirkung tendenziell dann ein, wenn die Effekte dezent gesetzt werden, wenn die KünstlerInnen auf Atmosphäre bauen statt auf den akustischen Holzhammer, wenn sie geschickt mit den in uns allen angelegten Ängsten spielen.

In vielen Genres – von handelsüblichem Black Metal bis zum Horrorcore aus der Hip-Hop-Ecke – wird nicht nur bei der Schminke oft zu dick aufgetragen, sondern auch beim Sound, in einer Art Überwältigungsstrategie des Immer-härter-krasser-dunkler. Und auch bei den aktuell schwer angesagten schamanistischen Dark-(Neo-)Folk-Bands von Wardruna bis Heilung (die menschliche Knochen als Rhythmusinstrumente einsetzen und ihre Trommeln auch mal mit etwas Eigenblut weihen) ist es ein schmaler Grat zwischen erhabener Naturmystik und pathetischem Mummenschanz mit Fell und Hirschgeweih.

Wenn es um eine verstörende Atmosphäre geht, ist weniger oft mehr, sind die Andeutung und das Kopfkino oft weitaus wirkungsvoller als das allzu plakative Zeigen und Zurschaustellen. Hier nur einige sehr subjektiv gewählte Beispiele:

Paul Giovanni and Magnet – Maypole
Dass „Wickerman“ (der von 1973, bitte kein Wort über das unsägliche Remake mit Nicholas Cage) zu meinen absoluten Lieblingsfilmen EVER zählt, liegt zu einem nicht geringen Teil an den hypnotischen, sanft unheimlichen und gleichzeitig erhebend schönen Folksongs im Soundtrack. Neben „Maypole“ (mit dem heidnisch-frivolen Maitanz im Film, der den puritanischen Polizeiermittler genauso verstört wie das Publikum) lösen etwa auch „Corn Rigs“, „Gently Johnny“, „The Landlord’s Daughter“ oder „Willow’s Song“ verlässlich den selben wohligen (?) Schauer bei mir aus.

Throbbing Gristle – Hamburger Lady (live)
Das ist der erste und bislang einzige, nun ja, Song, den ich von den berüchtigten britischen Industrial/Noise-TerroristInnen kenne – aber er gibt, gerade in der Liveversion, sicher einen guten Einblick in die nachhaltig verstörende, abseitige Welt der Avantgardeformation rund um die gender-fluide, im Vorjahr verstorbene Genesis P-Orridge. Auch ohne Wissen um das Schicksal, das dem furchterregenden Text zugrunde liegen soll, ist das Ganze eine intensive Erfahrung, wenn man sich, am besten in ohrenbetäubender Lautstärke, darauf einlässt. Wie heftig das 1978 auf eine noch deutlich weniger abgestumpfte und übersättigte Hörerschaft gewirkt haben muss, lässt sich nur erahnen. Schon allein der bizarr neben der Spur liegende Jagdhorn-Ton gräbt sich jedenfalls tief ein.
Dass hier am Ende des Songs ganz leger die Band vorgestellt und mit dem Publikum geschäkert wird, macht den Gesamteindruck nur noch bizarrer …

Amnesia Scanner – AS Acá (feat. Lalita)
Ebenfalls erst heute zum ersten Mal gehört und gesehen: Das aus Finnland stammende Elektro-Duo Amnesia Scanner macht hier mit der Sängerin Lalita gemeinsame verstörende Sache, musikalisch wie auch visuell. Das klingt ein wenig nach Björk auf einem schlechten LSD-Trip oder, wie es in den Kommentaren treffend heißt: „This would be the track Shakira would record if she was possessed by a ghost from colonial times.“ Wüst verfremdeter, leiernder Avantgarde-Noise-Latin-Pop/R&B. Oder so.

Ähnlich fordernd-bizarr (und ja, durchaus ein wenig anstrengend) sind Amnesia Scanner übrigens auch bei Tracks wie „AS Tearless“ und „AS Going“ unterwegs, beide ebenfalls mit alptrauminduzierenden Videos ausgestattet. Dass Amnesia Scanner jedem (!) ihrer Tracks ihre Initialen voranstellen, verstärkt das irritierende Gesamtbild noch weiter.

John Morris – Carnival (The Elephant Man Theme)
Apropos Alpträume: In einem Beitrag über den verstörenden Einsatz von Musik darf natürlich auch David Lynch nicht fehlen. Kaum ein anderer bekannter Regisseur (von Ennio Morricone vielleicht abgesehen) versteht es, Musik effektvoller – und das heißt bei Lynch meist: unheilvoller – einzusetzen. Das reicht von der mysteriösen „Lady in the radiator“ in Lynchs Langfilm-Debüt „Eraserhead“ (den von ihr geisterhaft gesungenen Zeilen „In heaven / Everything is fine“ will man nicht so recht glauben) über abgründigen Kitsch in „Blue Velvet“ (der Titelsong oder auch „Candy Coloured Clown“) und natürlich die meisterlich-ätherischen (Alp-?)Traumgesänge von Julee Cruise in „Twin Peaks“ (Angelo Badalamenti!) bis hin zur spanischen Ballade „Llorando“ in „Mullholland Drive“, die vom erschütternd Tragischen ins Bedrohliche umkippt – im wahrsten Sinne des Wortes.

Auch in der „Twin Peaks“-Fortsetzung von 2017 gibt es viel bemerkenswerte Musik, von den „Liveauftritten“ im Roadhouse bis zu jener extrem fordernden, schier endlosen Arthouse-Sequenz, in der Atombombenabwürfe und die Entstehung von „BOB“ zusammengeführt werden – und zwar zu den aufwühlenden Klängen der „Threnody for the Victims of Hiroshima“ von Avantgarde-Komponist Krzysztof Penderecki. Echte Schreckensmusik aus dem Jahr 1960!

Ich möchte hier aber ein anderes Beispiel in den Mittelpunkt rücken: die tieftraurige wie auch beklemmende Titelmelodie von John Morris zu Lynchs erschütterndem Film „The Elephant Man“. Sie deutet Jahrmarkts- und Zirkusklänge an (immerhin wurde der grotesk missgestaltete Joseph Merrick teilweise auf „Freak shows“ zur Schau gestellt), spiegelt aber auch die Melancholie, die Sehnsucht und das Feingefühl wieder, die den sensiblen und einsamen „Elefantenmenschen“ ausgezeichnet haben sollen. Ein zu Tränen rührender Film, den ich mir auch wegen der Musik unbedingt wieder anschauen möchte!

Flying Lotus – Fire Is Coming feat. David Lynch
David Lynch macht auch selbst reichlich seltsame Musik, inzwischen nachzuhören auf einer ganzen Reihe von Alben. Ich empfehle den bizarren, u. A. von Zahnhygiene (!) handelnden Bewusstseinsstrom „Strange and unproductive thinking“ (vom Album „Crazy Clown Time“) oder aber die folgende Zusammenarbeit mit dem Elektro-/Hip-Hop-Produzenten Flying Lotus: Hier wandelt Lynch mit dem für ihn typischen Humor am Rande zur Selbstparodie, wenn er (im Video) plötzlich aus einem ausgestopften Tier heraus zu sprechen beginnt und in wenigen Sätzen eine latent bedrohliche Szenerie entwirft, die fast jedem seiner Filme entsprungen sein könnte.

Gesaffelstein – Hate or Glory
Natürlich, das weiß nicht nur David Lynch, funktioniert verstörende Musik besonders gut, wenn sie mit verstörenden Musikvideos einhergeht. Ein Paradebeispiel für eine solche Symbiose liefert hier der französische Haudrauf-Elektroniker Gesaffelstein – ein hart und minimalistich pumpender Track begleitet ein alptraumhaftes König-Midas-als-Gangsta-Video.

UNKLE – Be There
Und weil wir schon bei verstörend-schockierenden Musikvideos sind: Da gibt es eine ganze Reihe, die mich in meinen prägenden Viva-zwei-Jugendjahren nachhaltig beeindruckt und verängstigt haben – vom schaurigen Gothic-Märchen zu „Pretty when you cry“ von VAST über die stilbildenden Chris-Cunningham-Videos von Aphex Twin („Come to Daddy“, „Windowlicker“) bis hin zu „Africa Shox“ von Leftfield feat. Afrika Bambaataa, das seinem Namen alle Ehre macht. Ein besonders intensives Erlebnis war das einzigartige Video zu „Rabbit In Your Headlights“ von UNKLE (feat. Thom Yorke) mit seinem poetisch-majestätisch Finale.

Aber kein Video hat mir damals mehr Angst gemacht als „Be There“, ebenfalls von UNKLE: ein klaustrophobischer Alptraum, bei dem ich eigentlich immer ausschalten wollte, den ich mir dann aber doch jedes Mal bis zum ultimativ verstörenden Finale angesehen habe. Was ich hiermit jedem Leser und jeder Leserin schwer ans Herz lege …

Die unheilschwangeren, zugleich einlullenden Lyrics steuert hier übrigens kein Geringerer als Ian Brown bei – als Sänger der höchst einflussreichen Stone Roses wie auch als Solokünstler (man höre nur „First World Problems“) eigentlich ein genialer Musiker. Eigentlich. Auf seinem jüngsten Soloalbum verstört er nämlich auf ganz andere Weise: Mit Zeilen wie „Jetplanes making chemtrails“ oder „It’s all a fix, it’s all pretend / Government is not your friend“ gibt er sich leider, leider als lupenreiner Verschwörungstheoretiker zu erkennen. Und legte dann mit „Little Seed Big Tree“ einen geradezu unfassbaren Corona-Leugner-Song nach, in dem er über „Doctor Evil and his needle“, „a forced vaccine, like a bad dream“, über Microchips, 5-G-Strahlung und Freimaurer schwadroniert, dass einem nur noch übel werden kann.

In diesem Sinne holen einen die realen Alpträume dann leider auch in der Musik manchmal ein – und da haben wir die erschütternden Missbrauchsvorwürfe gegen Marilyn Manson, der in einem Artikel über verstörende Musik(videos) früher wohl auch seinen Platz gehabt hätte, noch gar nicht erwähnt. Schwierige Zeiten, wirklich.

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