Archiv des Autors: Johannes Schneider

Showdown im Weirdo Canyon

Festivalreport: Roadburn 2017, 20.-23. April

Unter etwas offeneren Anhängern extremer Musik gibt es weltweit wohl kaum ein Event, das mehr zelebriert und zum Kult hocherkoren wird, als das jährlich in Tilburg stattfindende Roadburn Festival. Jeden April pilgern Leute aus aller Welt in die Niederlande, um sich eine halbe Woche lang der sorgfältig kuratierten Mischung aus allen möglichen Ecken extremer Gitarrenmusik, psychedelischen Klangwelten, (Post-)Industrial und anderen alternativen Spielarten hinzugeben. Eine Besonderheit des Festivals sind die vielen exklusiven Spezialgigs, in denen Bands beispielsweise Full Album Sets ihrer alten Klassiker zum Besten geben, ihr Material in abgewandelter Form präsentieren, oder gemeinsam mit Szenekollegen die Bühne entern. Und dieses Jahr wollten einige Kollegen und ich nicht mehr nur neiderfüllt auf überschwängliche Reports und Lineups starren, sondern selbst live dabei sein, also starteten wir einen Roadtrip gen Holland. Ein Wochenende wie dieses hat gewiss auch verdient, dass man darüber berichtet, also komme ich um einen kurzen (ich ahne, dass es dann doch etwas ausladend werden wird) Festivalreport nicht herum – wackelige Handykamerabilder inklusive.

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Frühjahrsputz in Finnland

Review: Kairon; IRSE! – Ruination

Auf der Suche nach schräger, andersartiger und Konventionen systematisch missachtender Musik landet man meist sehr schnell in Japan. Dass aus dem Land, das der Welt Dinge wie Hentai, Kanchō, Dakimakura, Yaeba-Zahnoperationen und Robotertoiletten offenbart hat, auch auffällige bis sonderliche Musiktrends stammen, ist nicht verwunderlich. Dass es mit Finnland auch in Europa einen kleinen Hotspot für etwas speziellere Klänge gibt, schon eher. Gerade jenes Land also, dessen Einwohnern man eher eine distanzierte, unterkühlte Mentalität zuschreibt. Und dennoch findet man gerade dort einen Fundus an herrlich unkonventionellen Musiknischen, Humppa mal ganz außen vor gelassen. Beispielsweise ist „Suomisaundi“ eine freiere, experimentellere Form des (für viele Menschen bereits in seiner herkömmlichen Form sehr kuriosen) Psytrance. Das Funk neu interpretierende, Synthesizer-lastige Subgenre „Skweee“ hat seinen Ursprung ebenfalls im kühlen Nordosten. Und mit „New Weird Finland“ existiert auch eine finnische Antwort auf die im Umfeld des (Freak-) Folk beheimatete kulturelle Strömung des „New Weird America“.

Das in Szenekreisen sehr geschätzte finnische Label Svart Records beherbergt viele Spielarten alternativer, experimenteller und schwerwiegender Gitarrenmusik und bietet neben internationalen Bands auch vielen dieser etwas spezielleren Gruppen aus heimischen Landen eine Heimat. Eine dieser Bands ist das aus dem eher spärlich bewohnten Westen Finnlands stammende Quartett Kairon; IRSE!. Ja, die Satzzeichen gehören so. Hinter diesem kryptischen Namen wartet ein nur schwer in Genreschubladen zu stopfender Sound auf, der verschiedene Strömungen psychedelischer, improvisatorischer, verträumter und progressiver Musik in sich vereint. Nachdem ihr erster Release, welcher vom schrillen Falsettgesang abgesehen noch aus recht gewöhnlichem Post-Rock bestand, noch unter sämtlichen Radaren durchrutschte, konnte der Nachfolger „Ujubasajuba“ 2014 bereits die Gunst einiger Blogs und Reviewplattformen erspielen und einen kleinen Internethype auslösen. Die dynamische Hochzeit von reverbgetränktem Shoegaze, stilbetontem bis kakophonischem Saxophonspiel und satten Post-Rock-Riffsalven mit dem bereits erwähnten grellen wie gewöhnungsbedürftigen Gesang, war und ist aber auch jeden Hype wert. Der Großteil von Ujubasajubas Songstrukturen beruht auf krautrockiger Repetition mit kontinuierlich aufeinander aufbauenden Elementen und die so heranwachsenden Monotoniemonolithen muten weniger wie ein verkopft in Theoriearbeit ausgetüfteltes Studioalbum und eher wie eine im positivsten Sinne aus den Fugen geratene Jamsession an, was dem eh schon beflügelten Langspieler zusätzliche Leichtfüßigkeit verleiht.

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Vorboten, oder: Von Stille keine Spur

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 7.1:
JULIANNA BARWICK – THE HARBINGER

Schall ist nicht nur für Musikliebhaber ein interessantes Medium. Julianna Barwick entwickelte bereits als Kind eine Faszination dafür. Zunächst sang sie acapella in Chorgruppen und experimentierte damals schon in jeder freien Minute mit ihrer Stimme. In Kirchenschiffen oder auch einem großen ausgehöhlten Baumstamm auf dem Grundstück ihrer Eltern (nach dem auch ihr drittes Album „The Magic Place“ benannt ist) begeisterten sie dann die ewig widerhallenden Klänge und Echos, die später ihre Musik kennzeichnen sollten.

Im Grunde genommen ist Barwicks Musik recht simpel und besteht zum überwiegenden Großteil aus ihrer Stimme, die sie mit ihrer Boss RC-50 Loop Station manipuliert und multipliziert, und so Schicht und Schicht übereinander legt, bis die einzelnen Teile ein anmutiges bis mysteriöses großes Ganzes ergeben. Der Ursprung dieser Klänge – ihre Stimme – ist manchmal klar hörbar, auch wenn man so gut wie nie tatsächliche Wörter erkennen kann, oft ist sie aber auch bis zur Unkenntlichkeit im eigenen Reverb und dem der anderen Soundebenen ertränkt. Und wie die meisten Chöre ist auch dieser de facto Ein-Frau-Chor nicht an eine bestimmte Jahreszeit oder dergleichen gebunden. Und trotzdem assoziiere ich speziell ihr viertes Album „Nepenthe“ mit Weihnachtsstimmung, dem ersten Schneefall und all den anderen frühwinterlichen Dingen, für die das Album eigentlich nie konzipiert war. Jedes Mal, wenn sich diese Zeit des Jahres und die dazugehörige Stimmung langsam aber sicher nähert, wird Nepenthe aufgelegt. Dass jener Track des Albums, der diese Assoziation für mich am meisten beinhaltet, ausgerechnet „The Harbinger“ – sprich „Vorbote“ oder „Vorläufer“ – heißt, ist dabei ein schöner Zufall.

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Psychedelischer Retrofuturismus und seine (Anti-)Helden

Konzertbericht: 4 hours with Seven That Spells and Jastreb, Q-West Kufstein, 18. November 2016

“Beyond. We are the dogs of the western Jazz society looking for dope. Modern, aggressive psychedelic wall of sound incorporating polymetrics and occasional Viking funeral rites; hailing from the 23rd century where rock is dead, Seven That Spells returned in time where it’s still possible to change the tragic course of the boring history.”
Wer bei dieser Selbstbeschreibung nicht sofort hellhörig wird, lebt nicht in meiner Welt. Seven That Spells verstehen sich offenbar als zeitreisende Heroen und geben ihr Bestes, um auf den Bühnen und Plattentellern der Gegenwart Riffwände zu errichten, die so geschichtsträchtig und gleichzeitig so ahistorisch im Sinne von zeitlos sind, dass jene dystopische, rocklose Zukunft nie eintreten wird. Nicht alle Helden tragen Maske oder Umhang, manchmal tut es auch eine Gitarre.

Am vergangenen Freitag durfte die Menschheit wieder hautnah mitansehen, wie der Trupp seiner ehrenvollen Mission und Vision nachgeht. Der Kulturverein KlangFarben lud die  Band rund um Mastermind Niko „The Last Lord of Atlantis“ Potočnjak ins Kufsteiner Q-West ein. Zu Seven That Spells gesellt sich an diesem Abend noch deren Nebenprojekt Jastreb hinzu. Dessen Kurzbeschreibung liest sich nicht weniger wahnsinnig:
“Hailing from 13th century, these mystical troubadours failed to destroy the Earth in an apocalyptic event gone horribly awry. After this failure, making music seemed the only way to get cosmic redemption and women. By opening a diabolical rift and traveling to the future, they escaped the Catholic inquisition and are now getting ready for a second attempt at the aforementioned apocalyptic event.

Eine gespaltene Persönlichkeit in Bandform. Die eine Seite destruktiv und aus der fernen Vergangenheit stammend, die andere aus der fernen Zukunft und mit ausschließlich guten Absichten im Gepäck, so prallen sie in der Gegenwart aufeinander. Wieso sollte man sich auch mit einer zweistündigen Tour de Force durch die verdrogte Welt aus okkultem Kraut- und Space Rock zufriedengeben, wenn diese mit (fast) demselben Personal auch vier Stunden dauern kann?

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