Archiv für den Monat: April 2020

Am Tresen in der Telebar

Erster Quarantäne-Hörabend, 17. April 2020:

Die Quarantäne zwingt in allen Bereichen zu Experimenten – im Arbeitsleben (wenn man das Glück hat, noch ein solches zu haben), in Familie und Beziehung, beim Konsum und in der Freizeitgestaltung. Und auch unsere in unregelmäßigen Abständen stattfindenden Hörabende machten aus dem Notstand eine Tugend und wagten sich gestern erstmals auf neues Terrain.

Wie ist gemeinsames Musikhören, bei dem man sich assoziativ von einem Song zum nächsten hangelt, ausführlich darüber quatscht und Bier trinkt, möglich, wenn jeder zuhause festsitzt? Ausgehen von dieser Frage entwickelte Kollege und Bloggründer Dave die Idee einer „Telebar“ –  und setzte diese auch gleich in die Tat um. Nach einigem Herumprobieren hatte er die technische Einrichtung und Mikrofonierung so hingekriegt, dass die Übertragung von Musik in anständiger Soundqualität per Skype möglich war (in meinem Fall zumindest dann, wenn ich während der Lieder das eigene Mikro stummschaltete – was eh besser ist, damit man nicht zu viel hineinplappert). Die Einrichtung eines privaten Streaming-Servers war in der kurzen Zeit übrigens nicht mehr möglich, soll für weitere Auflagen aber noch folgen – so waren wir vorerst auf kommerzielle Anbieter angewiesen.

Zu den technischen Details kann ich als Digital-Trottel leider keinerlei Auskunft geben. Umso gespannter war ich gestern Abend, ob und wie dieser neuartige Hörabend klappen würde. Fast auf die Minute genau fünf Stunden später, somit schon zu weit fortgeschrittener Stunde, stand fest: Experiment gelungen!

Auch wenn die Reisefreiheit noch auf unabsehbare Zeit eingeschränkt bleibt und viele Konzerthighlights in näherer Umgebung nicht zu den geplanten Terminen möglich sind (z. B. The Düsseldorf Düsterboys, Burial Hex oder das Heart of Noise-Festival in Innsbruck oder das erste Art of Solo-Festival in Kufstein; „doppelseufz“, um die Donald-Duck-Hefte zu zitieren) – eine musikalische Reise ist immer möglich. Die gestrige führte quer durch verdammt viele thematische Schwerpunkte und Genres: Soul und Blues, Punk und New Wave, Stoner-, Psychedelic und Garage Rock, Hip-Hop, Pop und Funk, Synthpop, AOR, Dream und Noise Pop, Country und Billig-Elektronik.

Die Telebar eröffnete auch endlich wieder die Möglichkeit, gemütlich ein paar Bierchen zu trinken, ohne sich für den unsozialen Alkoholkonsum in den eigenen vier Wänden vor sich selbst rechtfertigen (oder darüber Sorgen machen) zu müssen. Auch das Rauchverbot lässt sich in dieser Form der Bar ganz legal umgehen.

In diesem Sinne war es nur folgerichtig, dass zu Beginn des Abends der Schwerpunkt auf Musik lag, die sich textlich und musikalisch dem weiten Feld der legalen und weniger legalen Drogen widmet:
Den Auftakt machte der Klassiker „Rum & Coca Cola“ – sowohl in der Version der First Lady of Rockabilly, Wanda Jackson (produziert von Jack White), als auch im Original des trinidadischen Calypso-Sängers Lord Invader.

Ursprünglich handelte der Song übrigens – Hörabende bilden! – von der überhandnehmenden Prostitution auf Trinidad seit der Stationierung von amerikanischen GIs. Davon blieb in den „weißgewaschenen“ Versionen (z. B. auch jener der Andrew Sisters) freilich nichts übrig.
Auf Sambarock des Trio Mocoto aus Brasilien folgte das großartige Zigaretten-Duett von Princess Chelsea aus Neuseeland (das ich letztes Jahr bei einer Ausstellung zum Thema Rauchen entdeckt habe), gefolgt von der Wienerischen Version der Band Grant (die ich kurioserweise schon kannte, bevor ich vom Original wusste).

Weiter ging es mit dem kuriosen Novelty-Song „Smoke! Smoke! Smoke!“ (1947) von Tex Williams, der im Film „Thank You for Smoking“ an prominenter Stelle eingesetzt wird, mit Muddy Waters, der die Kombination von Champagner und Gras preist, und Drogen-Klassikern von Queens of the Stone Age und J.J. Cale. Atmosphärisch deckten die Songs eine ordentliche Bandbreite ab: denkbar betäubt und träge bei Dope Lemon aus Australien (stimmungsmäßig gefolgt von der formidablen Dusty Springfield), beschwingt bei Rosco Gordon, oder psychotisch bei den Horrorpunks von The Cramps.

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Verschlungene Stimmen, unerwartete Wendungen

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 34: OHMME – GHOST (2020)

So mühsam das krisenbedingte Daheimbleiben auch sein mag, es bietet – an entspannteren Tagen – zumindest die Chance auf Entdeckungen: sowohl in ansonsten sträflich vernachlässigten Winkeln, Kästen und Schubladen der eigenen Wohnung („Oha, Backerbsen aus dem vorigen Jahrhundert“) als auch auf musikalischem Feld.

Das Ziel, mit den spätesten Jahrescharts der Welt® heuer vielleicht doch einmal früher fertig zu werden, erweist sich zwar trotz Quarantäne als aussichtsloses Unterfangen (noch liegen ca. 13 A4-Seiten mit Songs aus dem Jahr 2019 vor mir, die ich mir zumindest einmal anhören möchte; zugegeben mit doppeltem Zeilenabstand). Aber das fast schon generalstabsmäßig geplante Musikhören führt doch immer wieder zu wunderbaren Entdeckungen – und sei es nur zufällig, sowie im Fall von OHMME.

Denn die Formation aus Chicago hatte ich auf keiner meiner Listen stehen, ihre wirklich noch brandneue Single „Ghost“ wurde mir ganz banal von YouTube vorgeschlagen (die Logarithmen funktionieren also, der Große Bruder hat meinen exquisiten Musikgeschmack erkannt ;-)). Aber oft (Achtung, Kalenderspruch!) sind die die Dinge, in die man irgendwie hineinstolpert, ohnehin die interessantesten. Jedenfalls war ich sofort, wie man neudeutsch so sagt, hooked und suchte nach weiteren Songs. Ein schlechter war nicht dabei.

OHMME sind im Kern ein Frauen-Duo, nämlich Sima Cunningham und Macie Stewart (ergänzt um Drummer Matt Carroll). Sie hießen früher – wohl gleich ausgesprochen – Homme, mussten den Namen aber offenbar ändern, übrigens nicht wegen Josh Homme of Queens-Of-The-Stone-Age-Fame, sondern wegen einer K-Pop-Formation gleichen Namens. Beide Künstlerinnen, die auch in diversen anderen Formationen ans Werk gehen, sind Multiinstrumentalistinnen, u. a. ausgebildete Pianistinnen. Bei OHMME steht – neben ausgeklügelten Vokalharmonien – aber die Gitarre mit ihren vielfältigen Klangfacetten im Fokus.

Experimentierfreude ist dabei oberstes Gebot – nicht umsonst sind die Musikerinnen Teil der Avantgarde-Jazz- und Improvisationsszene von Chicago. Doch diese Lust auf ungewöhnliche klangliche Wege koppeln OHMME mit gehörigem Pop-Appeal – und genau darin liegt ihre Stärke. Denn sie klingen nicht nur unerwartet, vielseitig und eigenständig, sondern auch eingängig.

„Ghost“ zeigt das souverän auf: Makelloser, majestätisch-optimistischer Harmoniegesang trifft da in kompakten dreieinhalb Minuten auf einen dreckig-treibenden Bass und jaulende, sanft dissonante Gitarrenfiguren. Man kann es nicht anders sagen: Ein Hit!

Etwas spröder, aber fast ebenso zwingend präsentiert sich das ebenfalls erst vor wenigen Wochen veröffentlichte „3 2 4 3“, das melancholisch und, vor allem in der zweiten Songhälfte, leicht sphärisch daherkommt.

Besonders eindrucksvoll geraten ist das bereits 2018 veröffentlichte, düstere „Grandmother“, das verhalten-folkig startet, nach einer Dreiviertelminute plötzlich auf einem feisten Blues-/Hardrock-Beat daherreitet, umgarnt von Gitarrenschlieren und harschen, kratzigen Feedbackschleifen, ehe sich wieder diese grandiosen, sakral anmutenden Vokalharmonien schmetterlingsgleich entfalten. Und die zentralen Zeilen „Grandmother (…) Who’s looking out for you?“ erfahren in der aktuellen Situation, in der alte und pflegedürftige Menschen schon seit Wochen ohne Besuch in Heimen ausharren, eine gespenstische neue Bedeutungsebene.

Es ist vor allem die Vielfalt an Klangfarben und Atmosphären, mit denen OHMME verblüffen: Mal klingen sie alternativrockig-rau wie PJ Harvey, mal kunstvoll-prätentiös wie Kate Bush (mit beiden werden sie immer wieder verglichen). Und dann plötzlich wieder ganz anders, etwa in „Icon“, das mich persönlich z. B. an tUnE-yArDs oder die Schwestern von CocoRosie denken lässt – an Künstlerinnen, die im Versuch, ihrem Genie möglichst viel Auslauf zu lassen, auch mal in Kauf nehmen, die Hörerschaft zu überfordern und zu nerven. Und das meine ich positiv!

Stimmlich erinnern OHMME bisweilen auch an eine aufgekratztere Eleanor Friedberger (Fiery Furnaces) und die Popkulturgeschichte haben sie natürlich sowieso intus (wie sie etwa mit dem B-52s-Cover „Give Me Back My Man“ beweisen). Aber sie bleiben dabei eben immer angenehm unberechenbar und auf elegante Weise widerspenstig.

„Water“ beispielsweise beginnt als straighter Alternative Rock, der auch Bands wie Sleater-Kinney gut zu Gesicht stehen würde, ehe OHMME mit avantgardistischen Vokalharmonien, die sich gegenseitig anstoßen wie Billardkugeln, wieder mal in eine ganze andere Richtung abbiegen.

Dass OHMME als wichtige Band der Independent-Szene von Chicago gelten, verwundert angesichts ihres überschießenden Talents nicht. Dass sie mit einflussreichen, dem Experiment ebenfalls nicht abgeneigten Chicagoer Bands wie den großen Wilco oder den Postrock-Säulenheiligen Tortoise gespielt haben, ebensowenig. Macie Stewart war früher aber auch Mitglied einer Hip-Hop-Formation („Kids These Days“), was die große musikalische Wandelbarkeit nur noch unterstreicht.

Das neue Album „Fantasize Your Ghost“ erscheint im Juni, ich werde es mir für die Jahrescharts 2020 (hüstel) auf jeden Fall fett markieren. Wie es mit der anschließend geplanten, ausgedehnten US-Tournee weitergeht (und wann es OHMME vielleicht sogar einmal nach Europa schaffen), ist derzeit – wie so vieles andere – leider nicht absehbar.

Weitere Anspieltipps (alle super!): 3 2 4 3, Wheel, Sentient Beings, Left Handed, At Night (Letzteres nur auf Spotify)