Es gibt Reis, Baby!

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 32:
DON CHERRY – BROWN RICE (1975)

H.I.T. The Bassline ist nicht tot. Wir riechen nur komisch.

Alle Ausreden sind zwecklos. Die längste (Zwangs?-)Pause in der Geschichte unseres kleinen Blogs spricht für sich. Und gegen uns. Seit dem letzten Beitrag sind unglaubliche drei Monate vergangen, der letzte Track der, äh, Woche liegt NEUN Monate zurück. In einem Zeitraum, in dem andere Menschen Kinder kriegen, kriegen wir also nicht einmal ein paar lausige Beiträge zusammen. Schade, traurig, aber man kann ja zumindest Besserung geloben. Und damit genug der Selbstgeißelung – wir sind ja nicht bei den Flagellanten.

Um den Wiedereinstieg noch fragwürdiger zu machen, habe ich beschlossen, heute über etwas zu schreiben, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe: Ich weiß rein gar nichts über Don Cherry (außer vielleicht, dass er Stiefvater der großartigen Neneh Cherry und Vater von Eagle-Eye „Save Tonight“ Cherry ist/war), ich verstehe denkbar wenig von experimentellem Jazz und finde mich in kaum einer Ära der Popkultur weniger zurecht als in den mittleren 70er-Jahren, also nach Blues-, Hippie- und Psychedelic Rock und vor der Punk- und Post-Punk-Revolution.

Trotzdem: „Brown Rice“ von Don Cherry ist ein Entdeckung, die ich auf jeden Fall mit euch teilen möchte. Ich habe die Nummer zufällig vor ein paar Wochen im Abendprogramm von FM4, ich glaube im „Zimmerservice“, gehört – als Hörerwunsch, zu dem der Moderator sinngemäß anmerkte, dass er wohl nicht wirklich ins Programm von FM4 passe, er ihn jetzt aber trotzdem einfach spielt.

Fünf Minuten später war der Moderator spürbar verblüfft und begeistert – genau wie ich. Was da zu hören war, klang unerwartet, aus der Zeit (aus der Zukunft?) gefallen, kaum einzuordnen. Ich war gefesselt (und nicht im „Shades of Grey“-Sinne).

Don Cherrys Reisgericht schmeckt nach vielerlei Gewürzen gleichzeitig, mit seinem hypnotischen Groove, dem funkigen Wah-Wah-Bass, den Bongos, den kreischenden Bläser-Eruptionen, dem E-Piano, den sphärisch verhallten Uuuh-uuuh-uuhs von Sängerin Verna Gillis und Cherrys rhythmischen, lautmalerischen Lyrics im Flüsterton, düster und verführerisch-geheimnisvoll, zugleich einlullend und unterschwellig bedrohlich. Schließlich man weiß hier nie, was hinter der nächsten Ecke kommt.

(Afro-)futuristisch, kosmisch, transzendental, schamanisch: Die Wörter, die einem hier in den Sinn kommen, sind alles andere als klischeefrei. Ganz anders die Musik, die denkbar weit von schmierigem „Fusion“-Gedudel entfernt ist. Bezeichnend: Der Track ist mir irgendwie auch in die Sammel-Playlist für die Jahrescharts 2019 gerutscht – und klingt im fortgeschrittenen Alter von 44 Jahren moderner und gewagter als vieles, was sich dort so tummelt.

Don Cherry, vor allem als Trompeter bekannt, galt als Pionier des Free Jazz, besonders als Mitglied des berühmten Quartetts von Ornette Coleman. Und er spielte auch mit all den weiteren Größen des Avantgarde-Jazz, bei deren bloßer Nennung dem Jazz-Nerd die Hornbrille in die Teetasse fällt und der Speichelfluss unkontrollierte Ausmaße annimmt: John Coltrane und Sonny Rollins, Archie Shepp, Albert Ayler, Sun Ra, you name ‚em. Aber auch Genre-Fremde wie Lou Reed oder Ian Dury stehen auf der langen Kollabo-Liste.

Cherry wird außerdem stets als einer der Vorreiter, ja sogar Erfinder der Kombination von Jazz und „Weltmusik“ genannt. Zugegebenermaßen ein etwas depperter Ausdruck für die riesigen Klangkosmen außerhalb der europäisch-angloamerikanischen Blase, die ihrerseits ja schon endlos groß ist. Cherry selbst sprach übrigens lieber von „organic music“. Wie auch immer, das ganze „Brown Rice“-Album vibriert vor lauter Einflüssen – afrikanisch, indisch, indonesisch, arabisch, chinesisch, tibetanisch. Das Ergebnis ist allerdings kein Frappucino-tauglicher Soundteppich, sondern, im Gegenteil, fordernd, abstrakt-intellektuell, oft durchdringend, noisig und für nicht Jazz-sozialisierte Hörer wie mich und dich phasenweise ganz schön anstrengend.

Auch sonst geht das Album, heuer wieder einmal als Reissue erschienen und mehr denn je gefeiert, weite Wege: „Malkauns“ klingt elegisch, basiert offenbar auf einem indischen Raga und stellt die indische Langhalslaute Tanpura ins Rampenlicht. „Chenrezig“ ist tibetanisch beeinflusst und bassgetrieben, Cherry spricht hier in fremden Zungen (Tibetanisch?) und streift sogar den Kehlkopf-/Obertongesang. Trompete und Saxophon fließen melodiös oder lärmen atonal. „Degi-Degi“ beendet das Album funky und wiederum mit suggestiven Flüsterlyrics.

Und was bedeutet eigentlich der Song- und Albumtitel „Brown Rice“? Laut Auskennern könnte er (ähnlich wie „Brown Sugar“ der Stones) auf Heroin anspielen, aber angeblich auch auf eine Phase, in der sich Cherry fast nur von Reis ernährt haben soll, um sich selbst daran zu erinnern, wie viele Menschen weltweit hungern müssen. „It speaks to the two extremes of Cherry, that of the spiritual seeker and the junkie jazz musician“, schreibt Pitchfork in seiner Lobeshymne.

Mein Fazit: Ich werde sicher nie ein Jazzkenner. Aber es ist irgendwie tröstlich zu wissen, dass da draußen noch viele andere Welten existieren, so groß, facettenreich und unverständlich wie der Makro- und Mikrokosmos.

PS: Ins Don-Cherry-Album „Orient“ von 1972 hineinzuhören, lohnt sich ebenfalls. Viele, viele bunte Klangfarben.

PPS: Habe gerade gelesen, dass Don Cherry auch den Soundtrack zu Alejandro Jodorowskys berühmt-berüchtigtem Experimentalfilm-Bilderrausch „The Holy Mountain“ beigesteuert hat. Klingt nach einem Trip, auf den man sich einlassen sollte!

2 Gedanken zu „Es gibt Reis, Baby!

  1. Michael Litzko

    Don Cherry ist ein gutes Beispiel für die Experimentierfreude der 70er Jahre. Weiterer dicker Hörtipp: Don Cherry – Hear And Now mit knackigen Rock-, Funk- und Latin Einflüssen.
    Oder die fantastische Jazzrock-Oper von Carla Bley – Escalator Over The Hill mit Don Cherry, Jack Bruce, John McLaughlin, Gato Barbieri, Charlie Haden u.v.a.
    Fantastische Musik, die alle Genregrenzen sprengt.

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