Vom Hundertsten ins Tausendste. Oder: Die geballte Macht der Assoziation. Zwei Hörabende

Wie kommt man von Schweizer Elektropop zu Noiserock aus Berlin? Oder vom Black Rebel Motorcycle Club zu Suzanne Vega? Vom vertrackten Avantgarde-Hardcorepunk von Nomeansno zu einer bizarren Ösi-Version von „White Rabbit“? Oder von sphärischem Dreampop zu Wolfgang Ambros und wieder retour?

Sehr einfach: So etwas geht nur bei einem Hörabend in geselliger Runde, also ab zwei Musiknerds aufwärts. Denn das menschliche Gehirn geht schon bei jedem Einzelnen seltsame Wege. Wenn aber mehrere Musikenthusiasten zusammensitzen und das Bier ebenso frei fließt wie die Gedanken, dann greift sie erst so richtig, die geheimnisvolle Macht der Assoziation. Dann kommt man vom Hundertsten ins Tausendste und vielleicht irgendwann wieder zurück zum Ersten. Oder auch nicht.

Ausgerüstet mit jeder Menge Vinyl, CDs, Spotify, YouTube und, ja, hin und wieder sogar einer Musikkassette reist man munter durch die Jahrzehnte und Stile – und lässt sich am besten einfach treiben. Wie so etwas ablaufen kann, zeigen die folgenden Aufzeichnungen der zwei jüngsten Hörabende bis -nächte im gastlichen Heim von Bloggründer Dave.

Sollte die Protokollführung da und dort Lücken aufweisen oder die Reihenfolge bisweilen etwas durcheinander geraten sein, bitte ich, gnädig darüber hinwegzusehen – schließlich wird das Mitschreiben mit steigendem Durst nicht gerade einfacher. Aber hier gilt, was schon Faith No More wussten: Oh it’s a dirty job / but someone’s gotta do it.

Hörabend am 1. Dezember 2017:
Die musikalische Reise führte zunächst „Von Bullerbü nach Babylon“ – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Kollege Dave hat nach dem vorhergehenden Hörabend, bei dem wir zufällig über das großartige „Hubschraubereinsatz“ von Foyer des Arts gestolpert waren (da hatte das lästige Autoplay von YouTube endlich mal sein Gutes), nicht lange gefackelt und sich den dazugehörigen Albumklassiker aus meinem Geburtsjahr 1982 gleich auf Vinyl besorgt. Beim Hören zeigte sich, dass die Avantgarde/Trashpop/Dada-Band rund um den Dichter Max Goldt neben ultraschrägen NDW-Experimenten auch düstere New Wave/Postpunk-Sounds beherrschte („Olympia“). Und bei Songtiteln wie „Familie und Beatmusik“ kommt sowieso große Freude auf.

Weiter ging es in die Schweiz zu den Elektro-Pionieren Yello rund um den schmierig-eleganten Schnauzbartträger Dieter Meier. Dass die berühmte Auftrittsmelodie, zu der der Duffman bei den Simpsons sein mit Bierdosen umgürtetes Becken rhythmisch vor und zurück schiebt („Oh Yeah“), aus ihrer Feder stammt, war mir ebenso neu wie die Tatsache, dass diese Band bis heute verdammt frisch klingt.

Über den psychedelischen Wahnsinn von King Gizzard & The Lizard Wizard und die eleganten Tame Impala arbeiteten wir uns schrittweise Richtung Hard- und Bluesrock vor, etwa zur heute völlig obskuren britischen Hardrock-Formation Stray (eine Entdeckung aus der Obwaller’schen Vinyl-Schatzkiste, die offenbar vor den Ohren des Vaters keine Gnade fand) bis hin zu aktuellen Formationen, die keine einschlägiges Sound- und Bühnenklischee auslassen (Rival Suns oder The Weight aus Österreich).

Nach der ersten Rauchpause, die ich mit Folk- und Psychedelic-Klängen vom sehr schönen neuen Rolling-Stone-Sampler übertauchte (Tony, Caro & John, Nick Garrie) gab Hausherr Dave (Hashtag: „Do hatt i aa a Plottn dazua …“) Einblick bzw. Einhör in seine umfangreichen Bestände aus den Haupt-, Neben- und Nebennebenstraßen der Rockgeschichte, von Hank Davis bis Roky Erickson. Alleskönner Chuck Prophet wurde mit Green-on-Red und Solowerken gewürdigt, ehe der mir zuvor gänzlich unbekannte Mel Tormé aufzeigte, was unter klassischer Jazz-Crooner-Eleganz zu verstehen ist.

Der Übergang zu Nomeansno (auch schon Fixstarter beim Hörabend zuvor) hätte nicht abrupter ausfallen können. Aber, hey!, sanfte Übergänge gibt’s bei den kanadischen Noise/Hardcore/Progressive-Punk/Mathrock-Genies erst recht nicht. Dafür aber atemberaubende Stil-, Takt- und Stimmungswechsel und eine ungezügelte, raue Energie, die einen auch beim wiederholten Hören jedes Mal umbläst. (Nur über die Frage, ob die Bässe und Rhythmen bei Nomeansno nun doch irgendwie „funky“ klingen oder nicht, konnte sich die Zuhörer-Runde bis zum Schluss nicht einigen …)

Weiter ging die muntere Fahrt mit kräftigem Rock von Neuseeland (The Datuns) bis Österreich (Baguette), beim Runterkommen half u. a. der 70er-Jahre-R’n’B von Creative Source. Nach dem theatralischen Voodoo-Wahnsinn von Screamin‘ Jay Hawkins (von Hörabend-Teilnehmer Joe treffend als „ein schizophrener Zirkusdirektor auf Acid“ charakterisiert) ging es in die nächste Rauchpause, in der ich mir verführerische französische Elektro-Chansons von L’Imperatrice oder auch rauen Postpunk von meinen alten Helden Mission Of Burma gönnte – und schon mal den Weg für das amerikanische Folkrock-Wunderkind Kevin Morby freimachte.

In der Folge wurden u. a. unerwartete musikalische Parallelen zwischen dem Black Rebel Motorcycle Club und der großen Songwriterin Suzanne Vega deutlich, ehe es mit Black Crack und Justice Hahn besonders düster und räudig-schön wurde.

Die Wendungen wurden in Folge immer schräger, wie es halt so ist, wenn man „under the influence“ durch die Musikgeschichte rast: Da liegen der Soundtrack zum Dennis-Hopper-Film „The Hot Spot“ – mit Giganten wie John Lee Hooker, Miles Davis und Taj Mahal – und das wüste Gitarre-Schlagzeug-Inferno des deutschen Noise-Duos Dÿse plötzlich nur noch einen Häuserblock voneinander entfernt. Da biegt unvermittelt Ska-Pionier Prince Buster um die Ecke – und an der nächsten Kreuzung tauchen dann auf einmal die New Yorker Alternative-Hip-Hop-Helden A Tribe Called Quest auf, nur um umgehend wieder von Gitarrenmeister Jeff Beck abgelöst zu werden, der sich vor Stevie Wonder verneigt …

Mit dem lockigen Hammond-Orgel-Engel Lee Michaels ging es dann, deutlich geordneter, zurück in die 70er – und weiter zu den psychedelischen Sixties-Klangwundertüten von Cream, den Yardbirds oder den frühen Pink Floyd. Ebenfalls aus den drogenumnebelten Sechzigern stammt bekanntlich „White Rabbit“ von Jefferson Airplane – wobei die abgründige Schlechter-Trip-im-Folterkeller-Version von Ronnie Urini ungleich mehr Unbehagen auslöst.

Für ein deutlich entspannteres, schwer groovendes Finale bürgten dann die Space-/Hardrock-Legenden Hawkwind und zum Grande Finale AC/DC. Mit letzteren konnte ich persönlich noch nie viel anfangen – aber an diesem Ort und zu dieser (fortgeschrittenen) Stunde passte das Ganze auf einmal wunderbar. „Da muss ich erst sterben, bevor mich dieser Depp zumindest halbwegs akzeptiert“, wird sich Malcolm Young auf seiner Wolke im Hardrock-Himmel vielleicht gedacht haben. Nix fia unguad, Malcolm!

Gedenken sollten wir an dieser Stelle aber nicht nur Malcolm Youngs, sondern auch all jener Bands, die wir im Laufe des langen, langen Hörabends eigentlich auch noch anspielen wollten, die aber aus irgendwelchen Gründen auf der Strecke geblieben sind, darunter etwa: Death From Above, LCD Soundsystem, King Crimson, Lucinda Williams, Billy Bragg & Joe Henry, die Dead Kennedys, Les Hommes Sauvages oder Helmut Qualtinger, dessen urösterreichisches „Bei mir sads alle im Orsch daham“ aus meiner Sicht der perfekte Rausschmeißer gewesen wäre. Aber der nächste Hörabend kommt ja zum Glück bestimmt!

Da sollten wir dann übrigens auch den diesmal verdammt niedrigen Frauenanteil unter den vertretenen KünstlerInnen steigern – oder vielleicht überhaupt einen reinen Damenabend ausrufen. Ich denke da etwa an PJ Harvey, Sophia Kennedy, Courtney Barnett, Lucinda Williams, Angel Olsen, Regina Spektor, Prince Rama und hunderte mehr. Und schon läuft sie wieder an, die große Assoziationsmaschine …

Playlist vom 1. Dezember 2017 (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Foyer des Arts – Eine Königin mit Rädern untendran
Foyer des Arts – Olympia
Foyer des Arts – Trends
Foyer des Arts – Familie und Beatmusik
Foyer des Arts – Schön bunt
Foyer des Arts – Hubschraubereinsatz
Yello – Oh Yeah
Yello – Solid Pleasure
Yello – Reverse Lion
Kanye West – ?
King Gizzard & the Lizard Wizard – Sleep Drifter
King Gizzard & the Lizard Wizard – Rattlesnake
Tame Impala – Half Full Glass of Wine
Tame Impala – Elephant
Stray – Only What You Can Make It
The Weight – Rich Man’s Pride
Rival Suns – ?
The Reverend Peyton’s Big Damn Band – Raise A Little Hell

[Rauchpause:
Karl Blau – Blue As My Name
Lucinda Williams – Six Blocks Away
Tony, Caro & John – Apocalypso
Nick Garrie – The Moon & The Village]

Hank Davies – One Way Track
Roky Erickson – Don’t Slander Me
Green On Red – ?
Chuck Prophet – Lonely Desolation
Chuck Prophet – Countrified Inner City Technological Man
Mel Tormé – Comin‘ Home Baby
Nomeansno – The Tower
Nomeansno – Two Lips, Two Lungs and One Tongue
Nomeansno – Rags and Bones
Nomeansno – Sex Mad
Jello Biafra with Nomeansno – ?
The Datsuns – Gold Halo
Baguette – Fuzzelroller
Creative Source – Who Is He and What Is He to You
Screamin‘ Jay Hawkins – I Hear Voices
The Clovertones – Didn’t It Rain

[Rauchpause:
L’Imperatrice – Erreur 404
Mission Of Burma – The Setup
Mission Of Burma – The Enthusiast]

Kevin Morby – I Have Been To The Mountain
Black Rebel Motorcycle Club – Love Burns
Suzanne Vega – I Never Wear White
Black Crack – I Woke Up
Justice Hahn – Sad And Lonesome
Justice Hahn – Robert Mitchum
The Hot Spot (Original Motion Picture Soundtrack) – Bank Robbery
Dÿse – Supermachineeyeon
UV Glaze (?)
Prince Buster – ?
A Tribe Called Quest – ?
A Tribe Called Quest – Solid Wall of Sound
Jeff Beck – Superstition
Lee Michaels – Hold On To Freedom
Lee Michaels – Rock Me Baby
Cream – I Feel Free
The Yardbirds – Heart Full of Soul
The Human Beinz – ?
Pink Floyd – See Emily Play
Ronnie Urini & Die letzten Poeten – Alice [White Rabbit-Cover]
Hawkwind – Needle Gun
AC/DC – Go Down

Hörabend am 19. November 2017:

Weil wir gerade eben vom Frauenanteil unter den Hörabend-MusikantInnen sprachen: Der war bei der Auflage im November – die strenggenommen eher ein Hörnachmittag war – zumindest phasenweise deutlich höher, ebenso der Anteil von Künstlern aus Österreich und Deutschland.

Den Auftakt machte damals Schlagersänger Holger Stern mit seiner unvergleichlichen deutschsprachigen Darbietung des Moody-Blues-Gassenhauers „Nights in White Satin“, gefolgt von weiteren Perlen aus dem einschlägigen „Pop in Germany“-Sampler. Dicke Fake(?)-Akzente, herrliches deutsch-englisches Mischmasch („Well, ich sag’s dir noch eimal“ singen die Black Stars in ihrer Adaption des Stones-Hits „The Last Time“) – was will man eigentlich noch mehr?

Auch sonst gab es bei dieser Hörsession diverse musikalische Aha-Erlebnisse: etwa, wie experimentell und abgedreht Wolfgang Ambros einmal geklungen hat („Es is no ned vorbei“); oder wo die wundervollen Synth-Pop-Revivalisten von FLUT die Retro-Synthesizer-Fanfaren für das rundum großartige „Linz bei Nacht“ ausgeborgt haben (nämlich beim US-Disco-, Dance- und Synthpop-Pionier Patrick Cowley):

Sodann ging es durch die weite, mal narkotisierend-einlullende, mal melancholisch-betörende, dann wieder erfrischend-energische Wunderwelt zwischen Dreampop und Powerpop, zweien meiner absoluten Lieblingsgenres EVER. Die magische Reise führte von Graz (Crush, deren himmlischen Dreampop Kollege Dave sympathischerweise auf Musikkassette besitzt) bis Wien (zum formidablen Surfrock-Girltrio DIVES), von den USA (Best Coast) über Nordirland (Ash) bis Kanada (The New Pornographers).

Hypnotisierende Klangwelten, wenn auch mit unüberhörbar arabischer Schlagseite, bot in Folge auch der überragende Titelsong aus Robert Plants neuem Soloalbum „Carry Fire“, ehe mit Jello Biafras furcht- und ehrfurchteinflößendem Nebenprojekt Lard, den Säulenheiligen Nomeansno und den nicht minder verehrungswürdigen Faith No More ein heftiger Schwer- bzw. Kontrapunkt zwischen Highspeed-Hardcore-Punk, Noiserock und experimentellem Metal folgte.

Und dann wurde es erst so richtig seltsam: Der verschlungene Pfad führte von der bizarren, ORF-produzierten Popoper „Trip“ aus dem Jahr 1972 (die ihren Namen völlig zurecht trägt und den Jazzer Fatty George von einer wundervoll-abgedrehten Seite zeigt) mitten hinein in die bunt blinkende, zappelnde und quietschende Welt der deutschsprachige Dada-Elektronik von heute und gestern:

Das Lunsentrio aus Bayern – mit dem bei Franz Ferdinand ausgestiegenen Bavaro-Schotten Nick McCarthy – rupft das Letzte Edelweiß aus den Felsritzen, Foyer des Arts philosophieren über den zweifelhaften Nutzen von vergammeltem Backwerk („Schimmliges Brot ist selten von Vorteil“) und liefern mit „Hubschraubereinsatz“ (1982!) einen prophetischen Themensong zu Schwarz-Blau 2.0: „Überall, überall Scheinasylanten! / Da hilft nur noch Hubschraubereinsatz, Hubschraubereinsatz!“. Und die von Gastgeber Dave weiß Gott wo aufgetriebenen, superobskuren Schalter Gerlafingen vertonen gar den dadaistischen Lyriker und bildenden Künstler Hans Arp und stellen fest: „Die Vögel tragen Schuhe aus Holz“.

Was dann noch kommen konnte?? Eigentlich nur noch die österreichischen New-Wave-Avantgardisten Blümchen Blau mit ihrer psychotischen Neudeutung des „Fliegerlieds“ von Hans Albers und dem bizarrsten Weihnachtslied der heimischen Musikgeschichte, das so schöne Zeilen wie die folgenden enthält: „Wo sind die Tiere, wo sind die Tiere? / Die Enten und die Gänse, die Hunde und die Kinder?“

Zu den zwischen desillusioniertem Post-Punk und Haudrauf-Elektronik oszillierenden Klängen von Keine Zähne im Maul aber la Paloma pfeifen aus Kiel stieg dann schon der Duft von gebratener Ente, frischen Kroketten und Rotkraut ins Musikzimmer. Aber das ist eine andere (köstliche) Geschichte …

Playlist vom 19. November 2017 (so weit man den Aufzeichnungen trauen kann):

Holger Stern – Nächte im Schatten [Nights in White Satin]
Boris Brown – Es steht ein Haus im Westen [House of the Rising Sun]
Black Stars – Ich frag dich noch einmal [The Last Time]
Wolfgang Ambros – Es is no ned vorbei
Georg Danzer – Die Moritat vom Frauenmörder Wurm
FLUT – Linz bei Nacht
FLUT – Sterne
Patrick Cowley – Megatron Man
Ideal – ?
Crush – Please Me
Crush – Damaged Goods
Dives – Shrimp
Best Coast – Heaven Sent
Best Coast – Late 20s
Ash – Uncle Pat
The New Pornographers – High Ticket Attractions
The New Pornographers – The New Face of Zero and One
The Primitives – Crash
Robert Plant – Carry Fire
Lard – The Power of Lard
Faith No More – Introduce Yourself
Faith No More – Matador
Nomeansno – Long Days
Nomeansno – Metronome
Trip. Eine Pop-Oper von Silke Schwinger und Fatty George
Lunsentrio – Das letzte Edelweiß
Foyer des Arts – Schimmliges Brot
Foyer des Arts – Hubschraubereinsatz
Schalter Gerlafingen – Holzflug
Blümchen Blau – Flieger
Blümchen Blau – Weihnachtsmann
Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen – Leb so, dass es alle wissen wollen

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