Verloren in den Wäldern

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK(S) DER WOCHE, # 10:
SYD BARRETT – OCTOPUS (1970) & XIU XIU – LAURA PALMER’S THEME (2016)

Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich derzeit wieder einmal ganz in Twin Peaks zu Hause bin. In meiner absoluten und uneingeschränkten Lieblingsfernsehserie, die mit ihrem Mix aus schrägem Humor und abgründigem Psychohorror, aus Surrealismus und Seifenoper nach wie vor einzigartig dasteht, von den skurrilen, aber vielschichtigen und komplexen Charakteren ganz zu schweigen.

Ja, wahrscheinlich liegt es an dieser Serie, in der die alten, dunklen Wälder des amerikanischen Nordwestens, die Schönheiten und unsagbaren Abgründe, die darin zu finden sind, eine so zentrale Rolle spielen, dass mir dieser Tage immer wieder folgende Zeilen durch den Kopf gehen:

Isn’t it good to be lost in the wood? / Isn’t it bad so quiet there, in the wood?

Es gibt wohl keine schönere Metapher für die gleichermaßen erhebende wie verstörende Ausstrahlung und Wirkung des Waldes (die schon die Romantiker so faszinierte) als diese Zeilen von Syd Barrett. Sie stammen aus „Octopus“, der vielleicht bekanntesten Nummer von Barretts erstem Soloalbum „The Madcap Laughs“.

Die dunklen Wälder, in denen man sich – gerne und dann doch wieder ungern – verliert, stehen hier (wie zwanzig Jahre später in Twin Peaks) natürlich auch für menschliche (Grenz-)Erfahrungen und Seelenzustände oder auch für das Un(ter)bewusste an sich. Zugleich bilden sie eine perfekte, fast hellseherische Metapher für Barretts eigenes bewegtes und bewegendes Leben. Für seinen Weg vom gefeierten, blendend aussehenden, allseits angehimmelten Sixties-Popstar und Übervater der Psychedelic zum tragischen, desorientierten Opfer von LSD und anderen Drogen.

Es ist ein Weg, der in seiner Radikalität nicht nur tragisch, sondern irgendwie auch beeindruckend war: Barrett zog sich Ende der 70er Jahre völlig aus der Öffentlichkeit zurück und wieder bei seiner Mutter in Cambridge ein – und zwar, nach einem kurzen Zwischenspiel in London 1982, für immer. Die 80 Kilometer von London nach Cambridge legte er zu Fuß zurück. Was folgte, war ein Leben in völliger Privatheit und Abgeschiedenheit. „Syd“ Barrett nahm wieder seinen Geburtsnamen Roger an, widmete sich dem Malen und Gärtnern, kämpfte mit schweren Erkrankungen und verstarb 2006.

Das Werk, das er hinterlassen hat, schimmert wie der fast schon klischeehafte „verrückte Diamant“, als den ihn seine früheren Kollegen von Pink Floyd verewigten. Apropos Pink Floyd: Wer die Briten für ihre spätere Progrock-Gigantomanie und schulmeisterliche Ernsthaftigkeit fürchtet, sollte sich schleunigst auf Entdeckungsreise durch ihr Frühwerk begeben: Denn die frühen, ganz klar vom grenzgenialen Barrett geprägten Floyd sind auch heute noch eine echte Offenbarung.

Wer das nicht glauben will, der höre psychedelisch-verschrobene Meisterstücke wie „See Emily Play“ (bis heute eine meiner absoluten Lieblingsnummern EVER), „Lucifer Sam“, „Arnold Layne“, „Astronomy Domine“ oder „Bike“ – und staune. Und auch auf Barretts Soloalben „The Madcap Laughs“ und „Barrett“ (beide 1970) finden sich viele seltsam schimmernde Perlen wie „Golden Hair“, „Swan Lee“, „Gigolo Aunt“, „Long Gone“, „Baby Lemonade“ oder „Wined and Dined“. Zerfahrene, verspulte, oft unfertig und skizzenhaft wirkende Stücke – und gerade deshalb besonders faszinierend.

Bei Barrett fanden Versatzstücke aus unterschiedlichsten Genres und Ären zusammen, die aus heutiger Sicht schon immer wie füreinander gemacht schienen: urbritische Versponnenheit und Verschrobenheit, psychedelische Traumwelten, mystischer Britfolk, befreiender Rock ’n‘ Roll, unheimliche Kinder- und Märchenbücher. Das Schöne, Erhabene und das Abgründige sind die zwei Pole, die das Schaffen von Syd Barrett so aufregend machen – genau wie die Serie Twin Peaks.

Apropos Twin Peaks: David Lynch (selbst ein großer Wahnsinniger) und Mark Frost kehren heuer, nach über 25 Jahren, mit einer dritten Staffel der Serie zurück. Was davon zu erwarten ist, weiß keiner – mindestens aber ein Scheitern auf hohem, bizarrem Niveau. (Das wäre ja auch schon was!). Schon vor der Rückkehr der Serie hat sich die US-Experimentalpop-Band Xiu Xiu mit einem ganz wesentlichen Aspekt von Twin Peaks auseinandergesetzt, nämlich – erraten! – mit der Musik.

Die Scores von Angelo Badalamenti, David Lynchs kongenialem Haus- und Hofkomponisten, und die sphärisch-unwirklichen Gesangsnummer der großen Julee Cruise sind in ihrer Kombination aus gänzlich ironiefreier Romantik, Melancholie und unterschwelliger Bedrohung im Grunde unerreichbar und unantastbar. Xiu-Xiu-Mastermind Jamie Stewart und seine Band haben sich dennoch an die heikle Aufgabe gemacht, diese überirdisch schöne Musik neu zu interpretieren.

Das Ergebnis ist ein dunkel brodelndes Gebräu aus düster-atmosphärischer Elektronik und verstörend-verstörtem Queercore, mit sinistren Noise-Einsprengseln, die wie David Pfister von FM4 ganz richtig schrieb, „den Schönklang der Kompositionen dann noch klarer strahlen lassen“. Xiu Xiu Plays The Music Of Twin Peaks (so heißt das 2016 erschienene Album) ist mehr als nur eine würdige Hommage an Badalamenti und Lynch. Es ist ein eigenständiger, eindrucksvoller Trip in die dunklen Wälder.

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