Wenn Frankreich in Arizona liegt. Und Arizona in Wörgl

Konzertbericht: Marianne Dissard, ZONE Wörgl, 7. Oktober 2016

Weit über fünf Jahre (mein Gott!) sind seit dem letzten Tirol-Besuch von Madame Marianne Dissard ins Land gezogen. Damals durfte ich für ein mittlerweile längst beerdigtes Unterländer Lokalmedium vom großartigen Auftritt der französisch-amerikanischen Sängerin berichten. Ein Auftritt, der seinerzeit im – Achtung Selbstzitat aus dem Jahr 2011 – „dafür atmosphärisch und akustisch wie geschaffenen“ Wörgler Astnersaal in Szene ging.

Dieser charaktervolle Ballsaal in der „Alten Post“ mit seinen viel zu hohen Wänden, dem überdimensionalen Kronleuchter, den geheimnisvoll schimmernden Spiegeln, kurz: all der herrlichen Patina stand diesmal wegen einer anstehenden Theaterpremiere leider nicht zur Verfügung. Aber auch im etwas prosaischeren Ersatzquartier, dem sympathischen Jugendzentrum ZONE Wörgl, wurde es ein wunderbarer, intimer Abend.

Für Marianne Dissard und ihre aktuelle, formidable All-female-Band war es vermutlich das kleinste, am schwächsten besuchte Konzert der laufenden Europatournee, für die unermüdlichen Veranstalter vom Wörgler Kulturverein SPUR. finanziell bestimmt kein lohnender Abend. Aber für die circa zehn zahlenden Zuschauer war es ein umso schöneres Wohnzimmerkonzert.

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„Cibola Gold“ heißt die aktuelle Compilation, die Marianne Dissard mit im Tourneegepäck hat. Sie versammelt dreizehn zentrale Lieder, nein, excusez-moi, Chansons aus fünf Alben der Jahre 2008 bis 2015. Cibola ist, wie Wikipedia zu vermelden weiß, eine der sagenhaften Sieben Städte aus Gold, die spanische Eroberer des 16. Jahrhunderts im heutigen Südwesten der USA vermuteten.

Marianne Dissard selbst hat ihre Goldene Stadt eindeutig in Tucson, Arizona, gefunden, wo sie gut zwei Jahrzehnte lang lebte – und wohin sie nun, nach einem längeren Parisaufenthalt, auch wieder zurückgekehrt ist. Die überschaubare, aber umso lebendigere Alternativ-Szene der 500.000-Einwohner-Stadt in der Wüste ist jenes fruchtbare Biotop, in dem Dissard aufblühte, an der Seite von wild wuchernden Gewächsen wie Giant Sand und Calexico, in Symbiose mit verschiedenen Musikergenerationen vom legendären Howe Gelb bis hin zu Gabriel Sullivan und Brian Lopez, die heuer mit ihrer Band „Xixa“ aufhorchen ließen.

In Tucson entwickelte Dissard ihren bis heute einzigartigen Sound, eine betörende Mischung aus melancholischen Chansons, hitzeflirrendem Wüsten-Folk und mitreißendem, bisweilen durchaus rauem und krachigem Alternative Rock. Auch in Wörgl verfehlten diese „Desert noir chansons“, von Dissard mit dunkler, sinnlich-mysteriöser Stimme vorgetragen, ihre Wirkung nicht. Immer wieder ertappte man sich beim Wunsch, endlich doch noch Französisch zu lernen, um in die geheimnisvollen Geschichten auch inhaltlich eintauchen zu können. Aber manchmal ist es ja fast noch schöner, wenig bis gar nichts zu verstehen.

Dissard erwies sich dabei nicht nur als charismatische und elektrisierende Bühnenkünstlerin, sondern zeigte auch viel Humor: Statt etwa das Publikum lange darum zu bitten, doch weiter nach vorne zu kommen, zog sie ihm einfach Tisch und Stuhl unter Bierbecher und Hintern weg – aber auf sehr charmante Weise. Auch wenn Frau Dissard Fläschchen zum Seifenblasenmachen austeilt, denkt man gar nicht daran, sich zu widersetzen. Und ein Italiener mit coolem Sonic-Youth-T-Shirt durfte und musste, mit gestrengem Blick dazu aufgefordert, sogar neben der Sängerin am Bühnenrand Platz nehmen: „It’s a love song. He’s Italian, so he won’t mind“.

Mit punkig geschnittenem Top, Plastik-Minirock, Gardinen- bzw. Teppich-artigen Hosen und jeder Menge Glitter auf der Brust setzte Dissard auch optische Akzente. Gegen Ende kam dann sogar ein glitzernder Motorradhelm zum Einsatz – vielleicht ja auch als Hommage an die Tiroler Surf-Rock-Institution Dave & The Pussies, die zu einem Drittel im Publikum vertreten war 😉 …

Dass der Abend musikalisch so facettenreich geriet (zu den absoluten Höhepunkten zählten das beschwörende „It’s love“ rund um das Begriffspaar l’amour und la guerre oder „In The Aeroplane Over The Sea“, eine magische Coverversion der US-Independent-Legenden „Neutral Milk Hotel“) lag aber auch an der bemerkenswerten Band, die Dissard in Tucson rekrutiert hat:

Im Grunde waren an diesem Abend nämlich vier Frontfrauen zugegen, denen Dissard mehrfach komplett die Bühne überließ und die wie selbstverständlich zwischen den Instrumenten und Aufgaben hin und her wechselten – ohne Alphatier-Gehabe und großes Gepose, wie es vielleicht bei einer männlichen All-Star-Band zu befürchten wäre.

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Die Violinistin und Komponisitin Vicki Brown, die schon mit Größen wie Calexico, Steve Wynn oder Jesse Sykes auf Tour war, bereicherte den Abend mit atmosphärisch-experimentellen, cinematographischen Klängen, samt Pizzicato-Technik und Live-Loops.

Brittany Katter, sonst Frontfrau der räudigen Rockband „Katterwaul“, legte einen besonders verblüffenden Auftritt hin: Schmal und stumm, mit strengem Pagenkopf und riesiger Sonnenbrille, bediente sie zunächst stoisch das kleine Schlagzeug und die Bassgitarre – und wirkte dabei, als wäre sie einer unterkühlten New Yorker Avantgarde/Postpunk-Band der frühen 80er Jahre entsprungen. Dann mutierte sie urplötzlich zur Sängerin und überraschte mit einer kraftvollen, durchdringenden Country(rock)stimme, die auch einer Loretta Lynn alle Ehre machen würde – und so gar nicht zu Katters Look passen wollte.

Auch die jüngste Musikerin, Annie Dolan, überzeugte nicht nur an Stromgitarre und „baby guitar“ – die man sogar herzzerreißend weinen hörte wie ein Neugeborenes! -, sondern auch mit ihren eigenen Songs. Obwohl erst 22, hat auch sie bereits in diversen Bands aus Tucson gespielt (darunter „Texas Trash & the Trainwrecks“, „Ohioan“ oder „Louise Le Hir“) und musiziert als „SisterTown“ mit ihrer älteren Schwester Katie.

Nach dem Konzert, als ihre Bandkolleginnen schon längst in der Alten Post dem nächsten Tourtag entgegenschlummerten, hatte Annie auch noch genug Energie, uns auf ein paar Gläschen in Wörgls sympathischste Bar zu begleiten. Dort bewies sie uns per Handyfoto unter anderem, dass sie – ein großer Beatles-Fan – die Bühne schon einmal mit dem leibhaftigen Paul McCartney geteilt hat …

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Fazit: So schade ein spärlich besuchter Konzertabend wie dieser für den Veranstalter auch sein mag – als Konzertbesucher kann man Musik kaum näher und persönlicher erleben!

PS: Danke an David Obwaller für die Aufnahmen!

Weitere schöne Fotos vom Konzertabend bzw. der laufenden Tournee gibt es hier und hier.

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