Archiv für den Monat: September 2016

Göttliche Komödie

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 4:
THE DIVINE COMEDY – CATHERINE THE GREAT (2016)

Eine Band, die sich nach Dantes „Göttlicher Komödie“ benannt hat – immerhin eines der bedeutendsten literarischen Werke der Weltgeschichte – widmet sich Katharina der Großen (1729-1796), immerhin eine der bekanntesten Machthaberinnen der Weltgeschichte? Das Ergebnis könnte prätentiös, aufgeblasen, ganz und gar schrecklich klingen – in Wahrheit klingt es aber unwiderstehlich leichtfüßig und höchst unterhaltsam.

The Divine Comedy sind im Grunde ja gar keine Band. Es handelt sich dabei letztlich um das Ein-Mann-Projekt des genialen Nordiren Neil Hannon, umgesetzt mit einer ganzen Armada an wechselnden MistreiterInnen. Nun hat Hannon mit „Foreverland“ nach sechs Jahren ein neues Divine-Comedy-Album vorgelegt – mit „Catherine The Great“ als erster Single.

Und man muss es sagen: Wenn man dieses Lied gehört hat, möchte man die Große Katharina sofort kennenlernen – aber natürlich nicht die echte Kaiserin, sondern nur jene aus dem Song. Denn Hannon charakterisiert diese Dame mit den vielleicht besten und witzigsten Zeilen, die ich im Popjahr 2016 (das zugegebenermaßen bisher leider ziemlich an mir vorbeigerauscht ist) gehört habe:

„She could dictate what went on anywhere“, heißt es da im Hinblick auf die Machtfülle der Monarchin, und dann, mindestens so wichtig: „She had great hair“. Generell wird hier ausgefallen gedichtet: „Brainier“ auf „Lithuania“ zu reimen, ohne dass es an allen Ecken und Enden kracht, das muss man erst einmal bringen („There were few brainier / Just ask the king of Lithuania“.)

Und wer bei folgenden Versen nicht zumindest breit grinsen muss, hat definitiv keinen Sinn für Humor:

„With her military might / She could defeat anyone that she liked / And she looked so bloody good on a horse / That they couldn’t wait / For her to invade / Catherine the Great“

Serviert wird das Ganze in einem durchaus opulenten orchestralen Arrangement, zugleich aber so fein ziseliert und unaufdringlich, dass es keineswegs überladen, sondern wunderbar luftig daherkommt. Einfacher formuliert: ein verdammter Ohrwurm!

Elegant, theatralisch, exzentrisch, ironisch, dandyesk und – sorry für das Klischee – „very british“ sind weitere Adjektive, die einem hier durch den Kopf schießen. Von herkömmlichem „Britpop“ (dem The Divine Comedy in den 90ern bisweilen zugerechnet wurden) ist das denkbar weit entfernt, ebenso von verschwitztem Rock ’n‘ Roll (womit um Gottes Willen rein gar nichts gegen verschwitzten Rock ’n‘ Roll und auch nicht gegen Britpop gesagt werden soll).

Aber das hier kommt eben aus einer ganz anderen Tradition, ist, wie im jüngsten „Musikexpress“ nachzulesen, eher französischen Chansons der 50er oder der legendären US-Songwriter-Werkstatt Rodgers und Hammerstein geschuldet. Wir reden hier also von einer Prä-Rock-n-Roll-Ära bzw. einer Tradition jenseits des Blues (womit um Gottes Willen rein gar nichts gegen den Blues gesagt werden soll, im Gegenteil).

Neil Hannon ist ein typischer Kritikerliebling. Den ganz großen kommerziellen Durchbruch hat er nie geschafft, trotz mittlerweile elf Alben und einer Vielzahl an Nebenprojekten von Filmmusik über Werbung bis Oper und diversen Kollaborationen, etwa mit dem durchaus geistesverwandten US-Kollegen Ben Folds.

Wobei: „Foreverland“ ist, soweit das heute noch irgendeine Aussagekraft besitzt, durchaus beachtlich „gechartet“: Top Ten im UK und Irland, sogar in den Schweizer und den Ö3 (!)-Charts wurden The Divine Comedy gesichtet. Für diese Welt besteht also durchaus noch Hoffnung …

Ja, die Welt ist ist bunt und vielfältig – und die von Neil Hannon ganz besonders. Sagt man jedenfalls – ich selbst bin ja absoluter Neuling im Divine-Comedy-Land. Aber das soll sich nun ändern. Denn mit jemandem, der Zeilen wie die folgenden schreibt (aus der zweiten „Foreverland“-Single „How Can You Leave Me On My Own“), sollte man sich auf alle Fälle näher auseinandersetzen:

„When you leave, I become a dickhead / A bad-smelling, couch-dwelling dickhead / I drink too many cups of tea and eat too many biscuits / I think about going out, decide not to risk it / I look at naked ladies cause I’m too weak to resist it / when you leave“.

Großes Kino, wie man so sagt.

Donau so grau

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 3:
LUDWIG HIRSCH – KOMM, GROSSER SCHWARZER VOGEL (1979)

Nein, leicht verdauliche Kost fürs Autofahrer-„Radio“ ist ein fast siebenminütiges Lied zum Thema Todessehnsucht natürlich nicht. Aber dass sich Ö3 seinerzeit das Verbot auferlegt hat, Ludwig Hirschs nachtschwarzes Chanson „Komm, großer schwarzer Vogel“ nach 22 Uhr zu spielen – aus Angst, dass es die Hörerschaft in den Selbstmord treiben könnte – ist schon eine besonders bizarre Fußnote der österreichischen Popgeschichte.

Die reichlich primitive Vorstellung, dass Menschen wegen eines Liedes (oder eines Films oder eines Computerspiels) Selbstmord begehen (oder Amok laufen oder einen Terroranschlag verüben) würden, mag zwar heute immer noch weit verbreitet sein. Aber dass ein staatliches Radio deswegen ein Sendeverbot verhängt, wäre heute wohl kaum noch vorstellbar.

Wobei: Kaum vorstellbar wäre andererseits auch, dass es ein Lied wie „Komm, großer schwarzer Vogel“ heute überhaupt jemals auf Ö3 schaffen würde, allein schon wegen der wenig formatradiotauglichen Länge und der alles andere als Ö3-Wecker-tauglichen Atmosphäre des Songs. Aber das ist eine andere Geschichte …

Dass sich die Radiomacher gerade wegen dieses Liedes solche Sorgen machten, mag umso bizarrer erscheinen, als es im Werk von Ludwig Hirsch vor morbiden und makabren Songs ja nur so wimmelt. Das Besondere – und besonders Verstörende – am „Schwarzen Vogel“ dürfte wohl gewesen sein, dass dieses Lied nicht nur traurig, sondern auf seltsame Weise zugleich sehr fröhlich ist: Denn es beschreibt die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod, auf eine Welt der neuen Erkenntnisse, der grenzenlosen Freiheit und des Glücks tatsächlich in den strahlendsten Farben, ja geradezu euphorisch:

„I wer‘ singen, i wer‘ loch’n, i wer‘ „des gibt’s ned“ schrei’n / I wer‘ endlich kapieren, i wer‘ glücklich sein!“

Der Tod wird im Text ganz klar als Erlösung beschrieben, als sehnlich erwartete Befreiung vom Schmerz: Dem sinnbildlichen Schwarzen Vogel wird Zucker aufs Fensterbrett gestreut, der Ich-Erzähler bittet ihn darum, ihm mit seinem „feichtn koidn Schnobi“ die „wunde, haaße Stirn“ zu kühlen. Und am Ende, als er den Vogel erblickt, flüstert er nur noch bewundernd: „Mein Gott, wie schön du bist …“ Dazu wird auch die anfangs getragene Musik, ca. ab Minute fünf, regelrecht euphorisch, steigert sich bis zur Ekstase.

Diese Vorstellung mag vielen Menschen, die an Depressionen oder anderen schweren Krankheiten leiden, Angehörige oder Freunde verloren haben und über Selbstmord nachdenken, tatsächlich aus der Seele sprechen.

Dass Ludwig Hirsch, der an Lungenkrebs litt, 2011 selbst aus dem Leben schied, lässt sich beim Hören dieses Liedes natürlich nur schwer ausblenden – von direkten Rückschlüssen vom Leben eines Künstlers auf sein Werk und umgekehrt sollte man aber als Musikhörer aber generell Abstand nehmen. Und bei Ludwig Hirsch ganz besonders: Denn er war vor allem ein Geschichtenerzähler, der, als gelernter Schauspieler, gern in verschiedenste Charaktere schlüpfte, häufig auch als Ich-Erzähler. Mit anderen Worten: Seine Lieder waren nicht zuletzt Rollenspiele – und wohl gerade deshalb so effektiv.

Zum anderen handeln, wie gesagt, sehr viele seiner Lieder direkt oder indirekt vom Tod, sind mal melancholisch, mal schwarzhumorig, mal einfach bitterböse, oft augenzwinkernd makaber – der gebürtige Steirer war eben doch ein echter Wiener. Und stand damit in einer großen schwarzen Tradition, die von Nestroy bis zum unerreichten Georg Kreisler reicht, der 2011 übrigens nur zwei Tage vor Ludwig Hirsch verstarb.

Was man sich als heutiger Hörer wünschen würde: Dass Hirsch – den man zwar eher mit Leonard Cohen als mit Johnny Cash vergleichen könnte – noch lange gelebt und wie Cash seinen Rick Rubin getroffen hätte. Nicht wenige seiner Nummern, speziell aus den 80er Jahren, sind leider zeittypisch hemmungslos überproduziert. Reduziert auf spärliche Arrangements und diese unverwechselbare Sprechgesangsstimme, könnte man sie sich besonders schön und intensiv vorstellen. Aber auch so wird Ludwig Hirsch als sensibler, kritischer und nachdenklicher österreichischer Poet und Liedermacher in Erinnerung bleiben.

Seine Farbe war dabei – Klischee hin oder her – stets dunkelgrau, wie es Hirsch selbst in einem Interview aus dem Jahr 2008 auf den Punkt brachte: „eine Mischung aus dem Blau der Donau und dem schwarzen Wiener Humor.“

Hier noch eine eindrucksvolle, zurückhaltende Livedarbietung des „Schwarzen Vogels“ aus dem Jahr 1993:

Weitere Anspieltipps: Spuck den Schnuller aus, I lieg am Ruck’n, Das Geburtstagsgeschenk, Der Herr Haslinger, Hobellied, Marmor, Stein & Eisen bricht, Schutzengerl

Train Kept A-Rollin‘

HIT THE BASSLINE PRÄSENTIERT: TRACK DER WOCHE, # 2:
V/A – TRAIN KEPT A-ROLLIN‘ (1951-1965)

Eines meiner bevorzugten Bandformate ist das Power Trio, meist bestehend aus Schlagzeuger, Bassist und Gitarrist, wobei einer noch den Sänger-Part übernimmt. Man muss immer ein wenig kompensieren, alles ist ein weniger rauer und rudimentärer. Der zum Sänger auserkorene Musikant muss unfreiwillig zwischen genauerem Gesang und fetzigerer Instrumentenbedienung abwägen, während des Gitarrensolos steht der Rhythmusgruppe kein zweiter Gitarrist oder Keyboarder zur Seite, jeder muss ein wenig mehr herausholen als eigentlich vorgesehen.

Ein paar klassische Vertreter wären da Cream, Rory Gallagher, die Jimi Hendrix Experience, auch Motörhead startete – und endete dann auch – als Power Trio. Alles sollte man sich mal zu Gemüte führen, doch ganz besonders möchte ich The Pirates empfehlen, den Rest der Band Johnny Kidd & The Pirates, welcher sich einige Jahre nach dem Tod des Frontmanns reformierte und eben als Trio weiterspielte. Im Gegensatz zu den anderen wurden sie nicht so bekannt und lebten eher auf der Pub-Bühne, wo sie mit ihrer erstaunlichen (!) Live-Performance für Furore sorgten.

Im Repertoire der Band befanden sich einstige Johnny-Kidd-Hits wie „Shakin‘ All Over“ oder „Please Don’t Touch“, einige Eigenkompositionen und ein Haufen Material aus den guten alten 50ern. Chef Mick Green war ein fanatischer Fan von Rockabilly-Pionier Johnny Burnette, und daher durften „Lonesome Train“ und „Honey Hush“ auch nicht im Programm fehlen.

Prototypisch war die Entwicklung der Pirates: Man orientiert sich an ein paar eigenen Favorites, spielt nach, baut um, irgendwann gibt’s eine Handvoll eigener Songs, und dann steht man noch ein paar Jahrzehnte als Inspirationsquelle für heranwachsende Generationen von Musikanten bereit. Die Inspiration für Mick Green und seine Pirates war eben Johnny Burnette, und die Pirates dienten mit ihrem drahtigen Sound wiederum als Vorlage für Wilko Johnson, welcher später mit Dr. Feelgood und Ian Dury & The Blockheads die britische Musikszene unsicher machte.

„Train Kept A-Rollin'“ ist der bekannteste Song von Johnny Burnette, und war nicht nur eine Ideenquelle für die Pirates, sondern auch für viele andere. Hier ein paar herausragende Stationen im Werdegang des Tracks „Train Kept A-Rollin'“. (The Pirates fehlen hier leider, da nur wenig Live-Material von ihnen frei verfügbar ist):

TINY BRADSHAW (1951)

Tiny Bradshaw schrieb den Song und nahm ihn als erster mit seiner Jump-Blues-Kapelle auf. Der Jump Blues war eine Vorstufe des Rock’n’Roll, aus großen Orchestern wurden kleinere Formationen, meist nur mit einem kleinen Bläsersatz, dafür immer mit lautem Gesang und fetzigen Saxophonsolos. Ab und zu wurde auch schon die Gitarre als Soloinstrument verwendet. Bradshaws Version lebt vom hüpfenden Rhythmus, Call-And-Response-Gesang und dem obligatorischen Sax-Solo.

JOHNNY BURNETTE & THE ROCK’N’ROLL TRIO (1956)
https://www.youtube.com/watch?v=ufzRV3xspYA

Die wohl wichtigste Version von „Train Kept A-Rollin'“, welche oft fälschlicherweise als Original bezeichnet wird, stammt von Johnny Burnette. Mit seinem hektischen, fieberhaften Gesang kämpft Burnette gegen das prägnante Gitarrenriff an, welches erstmals mit angezerrtem Sound daherkommt – und angetrieben wird durch einen holpernden Backbeat von Stehbass und Schlagzeug.

THE YARDBIRDS (1965)

Dem Nährboden der Yardbirds sind einige Große entsprungen: Eric Clapton, Jeff Beck sowie Jimmy Page und John Paul Jones – die letzteren beiden wurden später zuerst als New Yardbirds und dann als Kern von Led Zeppelin bekannt – waren alle zuerst bei den Yardbirds tätig. Und ihre Version unseres Tracks der Woche wird oft als möglicher Geburtstermin des Heavy Metal gehandelt. Wem der gefällt, der sollte sich auch noch die Variante auf Aerosmiths zweitem Album zu Gemüte führen.

SCREAMING LORD SUTCH (1965?)

Zu guter Letzt die Version, die ich persönlich knapp hinter der Burnette-Version, vielleicht je nach Stimmung sogar auch mal an die erste Position, reihen würde. Screaming Lord Sutch, der Schrecken von London, vergriff sich auch an „Train Kept A-Rollin'“. Und siehe da: Jetzt kommen die Bläser wieder, wenn auch alles etwas trashiger als beim Original. Dem Garagen-Punk-Helden King Khan dürfte der Song wohl auch mal zu Gehör gekommen sein …