Meine hundert Lieblingslieder 2013 – Platz 41 bis 60

41. Marteria – Kids (2 Finger an den Kopf)

Eine Eigenschaft, die viele gute Popsongs auszeichnet, ist ihre Fähigkeit, eine Stimmung, ein Lebensgefühl oder eine gesellschaftliche Situation so prägnant einzufangen, dass ellenlange soziologische und psychologische Studien überflüssig werden. Marteria ist mit „Kids“ genau so ein Song gelungen.

Der ehemalige U17-Nationalspieler und nunmehrige Erstliga-Rapper thematisiert darin die zunehmende Verspießerung und Boboisierung, die das einstmals rebellische, partywütige und hedonistische Berlin erfasst hat (und sicher nicht nur Berlin). Marteria findet für diese Verbürgerlichungstendenzen geniale Reime und Sprachbilder:

„Silbernes Besteck – goldener Retriever“ ODER: „Alle mähen Rasen / putzen ihre Fenster / jeder ist jetzt Zahnarzt / keiner ist mehr Gangster.“

All die Leute, die nur noch nach Schweden fahren würden, anstatt wie früher „Malle zu machen“, die überall auf der Gästeliste stehen und die Bayern lieben würden, sie alle, so Materia, „leben kleine Träume / verbrenn’ die großen Pläne.“ Im Grunde ist es ein resignierter, trauriger Befund, zu dem der Rapper hier kommt: „Was all die andern starten / sieht wie ‘ne Landung aus.“

Wer aufpasst, findet in „Kids“ übrigens auch Anspielungen auf Marterias eigenes Werk („Endboss“) und auf Superstar M.I.A.: Der herrlich-nervige „Peng, peng, peng, peng“-Refrain erinnert nämlich stark an deren Welthit „Paper Planes“.

 

42. Young Fathers – Sister

Wenn „schwarze“ und „weiße“ Musiktraditionen unkontrolliert aufeinanderprallen, kommt oft etwas besonders Spannendes heraus – so wie bei den Young Fathers, einem Alternative-Hip-Hop-meets-Experimentalrock-Trio aus Glasgow (mit liberianischen, nigerianischen und schottischen Wurzeln).

Im Schmelztiegel von „Sister“ landen Sprechgesang, martialisches Getrommel und Gesangslinien, die an afrikanische Ritualgesänge denken lassen. Wie sie diese Elemente neben- und übereinanderlegen, erinnert an große Genresprenger wie TV On The Radio.

 

43. Arctic Monkeys – Do I Wanna Know?
Die drei Fragezeichen-Songs – „R U Mine?“, Why’d You Only Call Me When You’re High?“ und der Albumopener „Do I Wanna Know?“ – sind die besten auf „AM“. Das Groovige, Spannungs- und Geheimnisvolle steht den Monkeys gut zu Gesicht und passt hier auch zur Botschaft des Songs: „(…) the nights were mainly made for saying things that you can’t say tomorrow day“. Ein Händchen für eingängige Strophen/Bridges und hymnische Refrains haben die Affen sowieso.

44. Richard Thompson – Stony Ground
Bekannt wurde Richard Thompson als zentrale Figur der Britfolk-Bewegung. Er arbeitete mit Fairport Convention, Linda Thompson und anderen Musikern, die für einige der schönsten Alben des 20. Jahrhunderts verantwortlich sein sollen (ein Fairport Convention-Sampler liegt schon seit Monaten bei mir zuhause und wartet auf Zuwendung).

Britfolk schimmert auch bei „Stony Ground“, dem gitarrengetriebenen Eröffnungssong von Thompsons jüngstem Soloalbum, durch. Inhaltlich dreht sich die zeitlos klingende Weise um ein ebenso zeitloses Thema: um alte, starrsinnige Männer mit dreckigen Gedanken. Im Grunde geht es also um Silvio Berlusconi. Der heißt in diesem Fall „Old Man Morris“ – und hat nur eines im Kopf: die verführerische Witwe von gegenüber und ihren (unerreichbaren) „honey pot“.

Natürlich ist der zahnlose alte Zausel unbelehrbar:

„Kicked him in the head, poked him in the eyes / Shoved him in the gutter and there he lies / Dripping with blood, dripping with snot / But he’s still dreaming of her you-know-what …“

Auch diese Anregung verdanke ich übrigens den Innsbrucker Hörabenden von Rupert Heim (siehe Platz 18 dieser Charts).

 

45. Atoms For Peace – Default
Atoms For Peace ist ein Allstar-Projekt, bei dem Thom Yorke, der langjährige Radiohead-Produzent Nigel Godrich, Flea von den Chili Peppers und einige andere Hochkaräter mitwirken. Dass sich das Ganze trotzdem eher nach einem weiteren Soloalbum von Yorke anhört, ist kein Malheur – schließlich war dessen erster Solostreich „The Eraser“ (2006) ein kleines Meisterwerk.

Gemeinsam mit seiner neuen Supergroup – ein Wort, das Yorke sicher strikt ablehnen würde – verfolgt der Sänger einmal mehr sein Interesse an tanzbaren, progressiven Grooves (im Video zu „Ingenue“ tanzt er übrigens wirklich!). Alles klackert, klopft und pluckert hier ganz wunderbar. Wie bei anderen Liedern des Albums „Amok“ kann man nicht mehr genau sagen, welche Töne programmiert und welche „handgemacht“ sind – ein gezielter Schlag ins Gesicht aller Puristen.

Dass Yorke auch hier wieder so singt und klingt, „als halte er gerade ein totes Kind in den Armen“ (um eine furchtbare, aber nicht ganz unpassende Formulierung eines YouTube-Users zu zitieren), macht die Sache für mich persönlich – genau wie bei Radiohead – nicht immer leicht verdaulich. Aber das wird Herrn Yorke mit Recht wurscht sein.

 

46. Queens Of The Stone Age – Kalopsia
Mit seinem mächtigen, einer gewaltigen Woge gleichenden Refrain erinnert mich „Kalopsia“ ein wenig an die hymnischen Songs der Josh-Homme-Supergoup Them Crooked Vultures. Deren gleichnamiges Album aus dem Jahr 2009 hat mir persönlich deutlich besser gefallen als die zwei, drei letzten Queens-Scheiben. Sakrileg, stimmt’s?

 

47. The Head And The Heart – Homecoming Heroes
Wenn eine Band namens The Head And The Heart ein Lied namens „Homecoming Heroes“ veröffentlicht, freut mich das als Freund der gepflegten Alliteration schon einmal grundsätzlich. Wenn dieses Lied sich dann auch noch als bittersüße, melodieselige Folkpop-Nascherei entpuppt, bleiben kaum noch Wünsche offen.

Erwischt haben mich die Zeilen „I’m sorry but i find no glory in that / I just want you off my back“, wo (deprimierender) Inhalt und (leichtfüßig-sommerliche) Form so schön kontrastieren. Was ich von den Indie-Folkrockern aus Seattle sonst so gehört habe, klingt für meinen Geschmack großteils zu glattpoliert und lieblich. Aber ein, zwei tolle Songs reichen ja manchmal.

 

48. Lee Ranaldo and the Dust – Lecce, Leaving
Warum der Ich-Erzähler das süditalienische Kaff Lecce (mir bis dato nur als Sitz des ehemaligen Serie-A-Vereins US Lecce bekannt) verlassen will – und wieso er überhaupt dort war –, ist mir leider nicht bekannt. Fest steht, dass dem ehemaligen Sonic Youth-Gitarristen Ranaldo (der schon im Vorjahr bei mir gechartet hat) hier neuerlich eine melodische, angenehm experimentfreie Gitarrenpop-/College Rock-Nummer geglückt ist.

Sein markanter Bariton erinnert dabei einmal mehr stark an den guten alten Michael Stipe – was bei mir als langjährigem R.E.M.-Fan sowieso die richtigen Saiten zum Schwingen bringt.

 

49. Steaming Satellites – Notice

Auch wenn die Blogkollegen Dave und Steff bedauern, dass sich die Steaming Satellites von „österreichischen Shoegazern“ zu einer konventioneller klingenden Rockband verändert hätten (was ich nicht beurteilen kann): „Notice“ ist ein tolles, fast klassisch klingendes Stück (Space-)Rockmusik, mit sphärischem Georgel, fetten Grooves und heiserem Hardrockgesang, den man eher mit den US-Südstaaten als mit Salzburg assoziieren würde.

Okay, feist produziert und breitbeinig arrangiert ist das alles schon, die Sequenz ab ca. 3:20 klingt gar nach einer elektronifizierten Version der klassischen Led-Zeppelin-Grooves. Aber da gibt es ja wirklich Schlimmeres …

 

50. Velojet – Cold Hands

Wir bleiben in Ösiland: Popmusik, die aus Österreich kommt oder im weitesten Sinne mit Österreich zu tun hat (auch wenn sich die Protagonisten darum vermutlich nicht scheren), ist derzeit schwer angesagt: Ja, Panik, Bilderbuch, koenigleopold, Leftboy …

Jenseits des Hypes (untermauert mit Hunderttausenden Klicks) tut sich aber auch so einiges: Velojet etwa, seit 2003 unterwegs und damit fast schon so etwas wie Veteranen der österreichischen Indieszene, treiben vergleichsweise unter dem Radar dahin. Dabei klingen ihre wunderbar eingängigen Alternative-Hymnen heute zwingender denn je. Man höre nur „Cold Hands“ oder das kaum weniger schöne „Angeldust“.

 

51. Neon Neon – Hammer & Sickle
Simpler, unaufdringlicher, dennoch eingängiger Synthiepop, hergestellt von Gruff Rhys (Sänger der uneingeschränkt großartigen Popspinner „Super Furry Animals“ aus Wales) und Boom Bip (US-Hip-Hop-Produzent). Auch wenn mir die zentrale (Polit-)Metapher etwas unklar bleibt, angesichts/angehörs von Rhys’ unwiderstehlicher Stimme möchte man sofort mitsummen:

 „There’s a winner, a loser and a middle man / a hammer, a sickle and a sick old man“.

 

52. Asia Argento & Archigram – Someone
„Total Entropy“, das Debütalbum von Aria Asia Maria Vittoria Rossa Argento, klingt genauso, wie man es sich erwartet, wenn sich die schöne Tochter eines berühmt-berüchtigten Giallo/ Horrorfilmregisseurs aus Italien mit allerlei Elektronikwizards (hier etwa dem Franzosen Archigram) zusammentut: gleichermaßen sinnlich und betörend wie dunkel und geheimnisvoll.

Dass Asia Argento keine gelernte Sängerin ist, macht überhaupt nichts: Erstens hat sie als Schauspielerin (und bekennende Kettenraucherin) ohnehin eine Stimme mit Charakter. Und zweitens sind mir persönlich technisch limitierte Stimmen im Zweifel immer noch lieber als die ganzen gestreamlineten, glatten R’n’B-meets-Musical-Hochzüchtungen beiderlei Geschlechts.

 

53. Disclosure – When A Fire Starts To Burn
Klingt etwas simpel und repetitiv, was das englische Elektronikduo hier veranstaltet? Naja, bei Fatboy Slim und Konsorten hat das damals auch immer geklappt. Ein fett produzierter „Partyknaller“ (um ein besonders uncooles Wort zu verwenden) ist ja per se nichts Schlechtes. Und zusammen mit dem sehenswerten Südstaaten-Prediger-Erweckungs-Video ergibt das alles erstaunlich viel Sinn:

 

54. Allah-Las – Had It All
Mit so einem göttlichen Bandnamen kann nichts schiefgehen. Und mit so einem Sound im Grunde auch nicht: zugleich klassisch und Lo-Fi, altmodisch flach produziert und trotzdem mit Direktverbindung ins Ohr. Und nach 2:40 Minuten ist auch schon wieder Schluss. Super!

 

55. Jake Bugg – There’s A Beast And We All Feed It
Apropos in der Kürze liegt die Würze: Kennt eigentlich jemand ein wirklich schlechtes Lied unter zwei bis zweieinhalb Minuten? Das Problem bei vielen Songs, die nerven, ist ja nicht nur ihre Nervigkeit, sondern auch dass sie so lange nerven.

Der Opener von Jake Buggs zweitem Album „Shangri La“ kommt dagegen in gerade mal hundert Sekunden ins Ziel – und kultiviert alle Tugenden des furiosen Debütalbums: schnarrende Stimme in bester Bob-Dylan-Tradition, relativ karge Produktion, jugendlicher Überschwang.

Schade, dass der Rest des Albums (so weit ich reingehört habe) im Vergleich dazu ziemlich überladen und rockistisch aufgeblasen klingt. Rick Rubin, da wäre mehr gegangen!

 

56. Manic Street Preachers ft. Richard Hawley – Rewind the Film
Haltlos nostalgisch und traurig klingt das, was die Waliser hier gemeinsam mit dem englischen Singer-Songwriter Richard Hawley zu Gehör bringen: wie die vertonte Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit – oder, wenn man das berührende Video betrachtet, die Sehnsucht nach einer stolzen, starken Arbeiterschaft, nach einer echten Alternative zum trostlosen Kapitalismus.

Gastsänger Hawley gilt als Kritikerliebling und musician’s musician (als die Arctic Monkeys und nicht er 2006 den Mercury Prize gewannen, rief deren Sänger Alex Turner: „Someone call 999, Richard Hawley’s been robbed!“). Er sorgt auch hier für wunder- und würdevolles Pathos. Nur die Strophen von Manics-Sänger James Dean Bradfield hätt‘ ich nicht unbedingt gebraucht. Der will es in diesem Lied einfach zu sehr.

 

57. Eels – I Am Building A Shrine
Als ich die Eels 2013 live erleben durfte (im April im Münchner Zenith), präsentierten sich Mr. E und seine einheitlich gewandete Band rau, krachig und voller sarkastischer Brüche: Da wurde auf der Bühne ein Rock’n‘Roll-Eid abgelegt (wie bei einer Hochzeit), da gab es kaum Hits – und wenn dann in gebrochener Form: „Mr. E’s Beautiful Blues“ wurde z. B. mit dem eher unbekannten „My Beloved Monster“ vom Debütalbum zu einem Bastardsong verschränkt.

Ohne „Ja, ABER …“ scheint es bei E einfach nicht zu gehen. Umso schöner, wenn er auch einmal hemmungslos nostalgisch und gänzlich unironisch sein kann, wie bei dieser prototypischen Eels-Ballade. Kaum einer ist besser darin, verlorenes Glück oder Erinnerungen an hellere Tage zu beschreiben als E. Und es gibt Hoffnung, sogar bei ihm:

„Deep down in the cold ground / such a sad place to be / but I’ll be fine / with all the little things / that I’m taking with me.“

 

58. Beck – I Won’t Be Long
Wetten, dass sich Beck auch in meinen Jahrescharts für 2014 wiederfinden wird? Immerhin hat er mit „Morning Phase“ vor ein paar Wochen ein neues, offenbar sehr schönes zwölftes Album vorgelegt. Seine letzte LP, „Modern Guilt“, war ja auch schon wieder sechs Jahre her. Dazwischen hat Mr. Hansen unter anderem das höchst ungewöhnliche Projekt „Song Reader“ verwirklicht (20 Lieder, die nur als Notenblätter veröffentlicht wurden, damit andere Musiker ihre eigenen Versionen aufnehmen konnten) – und die tolle Single „I Won’t Be Long“.

Dabei handelt es sich um eine sehnsuchtsvolle, zugleich durchaus funkige (Elektro-)Folkpop-Nummer, die auch auf „Modern Guilt“ eine gute Figur abgegeben hätte. Im Chorus glänzt sie mit dem Gleichklang von „I won’t be long“ und „I won’t belong“.

 

59. M.I.A. – Come Walk With Me
Wie glaubwürdig der „Radical Chic“ von Frau Arulpragasam wirklich ist (eine mutmaßliche Multimillionärin mit eigener Versace-Kollektion übt sich in antikapitalistischer Rhetorik) sei dahingestellt. Was zählt, ist am Ende immer noch die Musik. Und hier macht M.I.A. nach wie vor kaum eine(r) etwas vor, wenn es darum geht, die westliche Musikwelt mit dreckigen Beats und „exotischen“ Soundschnipseln aus dem globalen Ghetto aufzumischen. Still funky as hell.

 

60. Of Montreal – Raindrop In My Skull
Der exaltierte Experimentalrock-Spinner Kevin Barnes hat auf „Lousy With Sylvianbriar“, dem bereits zwölften Of Montreal-Album, neue Einflüsse für sich entdeckt: Bob Dylan, Grateful Dead, Gram Parsons, die Gegenkultur der 60er- und 70er-Jahre. Das Resultat klingt wunderbar „kalifornisch“ und deutlich weniger hysterisch als manch andere Of Montreal-Phase.

Wem Barnes‘ immer ein wenig übersteuerter Gesang trotzdem noch zu anstrengend ist, der sollte bei „Raindrop In My Skull“ zugreifen. Rebecca Cash leiht dieser sanft einlullenden, bittersüßen Psychedelik-Folk-Nummer ihre schöne Stimme. Und keine Angst, schräg genug geht es bei Of Montreal immer noch zu, wenn Cash Zeilen wie diese singt:

„On the TV there’s a mexican horror [whore?] film / it isn’t dubbed / I’m not really watching“. 

 

HIER GEHT’S WEITER MIT DEN JAHRESCHARTS, PLATZ 61 BIS 80!

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